Somalia: Zivilisten in der Falle zwischen allen kämpfenden Parteien
Human Rights Watch wirft den islamistischen Milizen, aber auch den Friedenstruppen und den Soldaten der Übergangsregierung schwere Menschenrechtsverletzungen vor
In Somalia beherrschen die islamistischen Milizen nach wie vor einen Großteil des Landes, das sie nach ihrer Facon der Scharia regieren. Die seit Monaten angekündigte Großoffensive der somalischen föderalen Übergangsregierung (TFG), deren Soldaten von den USA bezahlt werden, hat bisher nicht stattgefunden. Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) werden bei den anhaltenden Kämpfen von beiden Seiten grobe Verstöße gegen Kriegs- und Menschenrecht begangen.
Die Medien hätten die Pläne der Regierung falsch verstanden, meinte TFG Premierminister Omar Abdirashid Ali Sharmarke. "Es ist keine Großoffensive, sondern eine graduelle und wohl geplante Erweiterung" Tatsächlicher Grund für die immer wieder verschobene Offensive gegen die rund 5.000 Mann starken islamistischen Milizen, vorwiegend Al Shabaab und Hizbul Islam, sind die mangelnde Ausrüstung und die fehlende Ausbildung der Armee. Dazu kommt, dass der Sold der Soldaten nicht bezahlt werden kann, und wenn dann doch, verschwinden so manches Mal die verantwortlichen Offiziere damit.
Bisher garantieren die USA den Lohn von 1.800 Soldaten der somalischen Armee, von denen die meisten sonst desertieren würden. Geradewegs zu den Islamisten, die jedem Rekruten, der sich bei ihnen verpflichtet, einen Willkommen-Bonus von 400 Dollar auszahlen. In Somalia für viele ein Vermögen.
Es sind auch die USA, die auf die somalische Regierung Druck ausüben, eine Offensive zu starten und wissen wollen, wie sie dabei am besten wieder helfen können. US-Unterstützung in Somalia ist nichts Neues (Äthiopien marschiert in Somalia ein). Jetzt soll sogar moderneres Kriegsgerät, unter anderem Überwachungsdrohnen, zur Verfügung gestellt werden. 40 Tonnen an herkömmlichen Material, Waffen und Munition, im Wert von 10 Millionen Dollar, wurden bereits letztes Jahr im Mai und Juni an das Horn von Afrika entsandt (US-Regierung hilft der bedrängten Regierung in Somalia mit Waffen).
Der somalische Innenminister, Abdirashid Mohamed Hidig, bestätigte, dass es bereits eine "starke Zusammenarbeit" mit den USA in Sachen Sicherheit sowie humanitären Belangen gäbe und auch US-amerikanische Überwachungsflugzeuge über Somalia unterwegs seien. "Die USA haben die volle Erlaubnis jedwede Sicherheitsoperation gegen internationale oder nationale Terroristen auszuführen", erklärte der Minister weiter. Neben den USA will auch die Europäische Union der somalischen Regierung helfen. Sie entsendet 100 Militärs, die zwei Gruppen von je 1.000 Soldaten, jeweils über einen Zeitraum von sechs Monaten ausbilden. Die dafür nötigen Trainingslager in Somalia einzurichten, wäre zu gefährlich. Deshalb findet das Ganze in Uganda statt. Die ugandische Republik ist neben Burundi das einzige Land der Afrikanischen Union (AU), das sich an den Friedenssicherungstruppen in Somalia beteiligt. Uganda stellt 2500 Soldaten des insgesamt 5.100 Mann starken Kontingents.
Friedenstruppen sind ebenso rücksichtslos wie die Soldaten der TFG und die islamistischen Milizen
Seit drei Jahren sind die AU-Truppen in Somalia stationiert, nachdem der UN-Sicherheitsrat die Friedensmission AMISOM im Februar 2007 autorisierte. In dieser Zeit sollen die AU-Truppen jedoch wiederholt den Tod von Zivilisten billigend in Kauf genommen haben. Darunter zuletzt ein Vorfall, bei dem auf einem Spielplatz im Januar dieses Jahres 10 Menschen, darunter auch sieben Fußball spielende Kinder, getötet wurden.
Der Bericht von Human Rights Watch (HRW) bestätigt, dass die AU-Friedenstruppen "weiterhin wahllos Angriffe durchführen und zahlreiche Zivilisten töten und verletzen". Die AU-Truppen sind keine Ausnahme unter den Krieg führenden Parteien. Nicht minder rücksichtslos gehen die Soldaten der TFG und von Al Shabaab vor.
Der 62-seitige Bericht von HRW geht insbesondere auf die islamistischen Milizen und deren Regierungsstil in den von ihnen besetzten Gebieten ein. Al Shabaab kontrolliert den Süden Somalias und große Teile der Hauptstadt Mogadischus, ausgenommen das Viertel um das Parlamentsgebäude und den Flughafen.
Unterdrückung mit der Scharia
Al Shabaab propagiert einen puristischen und harschen Islam, der auf einer vereinfachten Auslegung der Scharia basiert. Zum Strafenkatalog zählen Steinigung für Ehebruch oder das Abhacken der Hand eines Diebs. In einer Kleinstadt, unweit von Mogadischu, wurden die Stundenglocke der hiesigen Schule verboten, weil sie an Kirchglocken erinnerte. Außer islamischen Festtagen dürfen keine westlichen, wie beispielsweise der internationale AIDS-Gedenktag, beachtet werden. Alle Radiostationen wurden mit einem Ultimatum aufgefordert, keine Musik mehr zu spielen, sonst hätten sie die Konsequenzen zu tragen. Mindestens 14 Radiostationen spielten daraufhin in Mogadischu keine Musik mehr. Hizbul Islam, nach Al Shabaab die zweitwichtigste islamistische Miliz, war der Urheber dieses Ultimatums vom 13. April, in dem man Musik als unislamisch erklärte.
Als Reaktion darauf erließ nun die Regierung ihrerseits eine Anordnung, wer die Forderung der Islamisten befolge, dem werde die Lizenz entzogen. "Die Anweisung und Gegenanweisung sind sehr destruktiv", erklärte Abukar Hassan Kadaf, der Direktor von Somaliweyn Radio. "Jede Gruppe erlässt Regeln gegen uns und wir sind am Ende die Opfer." Die Radiostationen helfen sich nun mit anderen Soundtracks aus, um das Ende oder den Beginn einer Sendung zu markieren. Dazu zählen etwa Pferdegalopp, Motorengeräusche, Schüsse oder Autohupen.
Tatsächlich machte die Regierung ihre Drohung wahr und ordnete die Schließung verschiedener Sender an, aber nur, um sie am gleichen Tag wieder zu revidieren. "Ich möchte die Radiostationen, die heute geschlossen wurden, informieren, dass sie wieder weiter machen können", verlautbarte Informationsminister Dahir Mohamud Gelle in einem Statement. Die somalische Regierung, die nur ein paar Straßenzüge Mogadischus kontrolliert, sei nicht glücklich über die Unterdrückung der Medien und werde alles dafür tun, um ein Ambiente zu schaffen, in dem sie frei arbeiten könne. Für die Mitarbeiter der Sender eine große Erleichterung. Nun stehen sie nicht mehr in einer lebensbedrohlichen Zwickmühle.
Musik in der Öffentlichkeit hören oder nicht hören – letztendlich geringfügige Probleme im Vergleich zur islamistischen Frauenpolitik. Beim anderen Geschlecht scheint man ein besonders Interesse an sozialer Kontrolle zu haben. Frauen müssen islamische Verschleierung tragen, eine Abaya, bei der außer den Augen wirklich nichts zu sehen ist. Bei einem auch nur kleinsten Verstoß, muss Frau mit einer heftigen Prügelstrafe rechnen. Ob sich Frauen diese aufwendige Kleidung leisten konnten oder nicht, spielte keine Rolle. Eine Frau, so heißt es im Bericht von HRW, lief aus dem Haus, um ihr Kind von der Straße zurückzuholen. Danach wurde sie von einem Mann verprügelt. Laut habe er mitgezählt, sagte die Frau. "Eins, zwei, drei, vier … Es tat so weh, wenn ich eine Pistole gehabt hätte, ich hätte ihn erschossen." Frauen, die Tee auf dem Markt verkauften, um ihre Familie zu ernähren, wurden ausgepeitscht, geschlagen oder ins Gefängnis gesteckt. Strikte Geschlechtertrennung ist Pflicht und jedes Zusammentreffen, wie zufällig und absichtslos es auch sein mag, wird hart bestraft.
Somalische Geistliche: Im Land findet kein heiliger Krieg statt
Seit beinahe 20 Jahren gab es in Somalia keine funktionierende Regierung mehr. Das Land und seine Menschen waren der Willkür verschiedener Gangs und Warlords ausgeliefert. Jeden Tag konnte man an einem ihrer Checkpoints von einem Kindersoldat erschossen werden. "Al Shabaab hat Stabilität in Gebiete gebracht, die lange Zeit von Gewalt heimgesucht waren", meint Georgette Gagnon, Afrika-Direktor von HRW. "Die Bevölkerung unter Al Shabaab zahlt dafür aber einen sehr hohen Prei."
Eine Entwicklung, die man hätte vermeiden können. Eine weitaus moderatere Form des Islams hatte die Union der Islamischen Gerichte (ICU) vertreten. Sie hatte mit den Straßensperren, Gangs und Warlords ein Ende gemacht. Auf Drängen der USA war 2006 das Nachbarland Äthiopien jedoch in Somalia einmarschiert). Die ICU, die allen viel zu islamistisch und gefährlich erschienen, wurde vertrieben. In den nächsten zwei Jahren formierte sich der Widerstand gegen äthiopische Besatzungstruppen und die ab 2007 stationierten AU-Friedenstruppen. Ein Widerstand, der sich immer radikaler entwickelte und auch mit dem ehemaligen ICU-Chef, Scheich Sharif Scheich Ahmed, als neuer Präsident Somalias nicht mehr zu stoppen war (Somalia: Vom Terroristen zum Retter der Nation).
In der vergangenen Woche fand im Norden Somalias in Garowe, der Hauptstadt des stabilen Puntlands, eine Islam-Konfernez statt. Ein Woche lang diskutierten alle bedeutenden islamischen Gelehrten des Landes über die Geschichte des Islams in Somalia. Am Ende wurde ein 12-Punkte-Kommunique veröffentlicht, das zur aktuellen Lage Somalias Stellung nahm. Ein Positionspapier, an dem gerade Al Shabaab und seine Alliierten, die für sich den wahren Islam reklamieren, wenig Gefallen finden werden.
Bei der Forderung nach der Einführung der Scharia als bindendes Rechtssystem für Somalia gibt es sicherlich keinerlei Dissonanzen. Die Konferenz der Geistlichen bestreitet allerdings, dass es sich bei dem Krieg in Somalia um einen "heiligen Krieg" handle, wie es die islamistischen Milizen reklamieren. Es gäbe keine Rechtfertigung dafür, das Blut von Muslimen zu vergießen, weil "man vorgibt für den Islam zu kämpfen". Außerdem könne man Muslime nicht als "Ungläubige" oder "Abtrünnige" bezeichnen, wenn es darüber keine fachkundige Prüfung gäbe. Für Al Shabaab oder Hizbu Islam kommen diese beiden Prädikate einer Lizenz zum Töten gleich. "Es ist völlig inakzeptabel", heißt es im Komunique, "dass die kämpfenden Gruppen in Somalia sich gegenseitig und auch anderen Leuten vorwerfen, Apostat zu sein". Zur Lösung der Probleme Somalias schlugen die Geistlichen eine große Konferenz der Versöhnung vor.