Soweit die Hirne tragen

Seite 2: Das Fallbeispiel Leningrad - Das Unfassbare und die Medien

Kein zweites Kapitel dieses fast vierjährigen Krieges zeigt dieses Ziel mit ähnlicher Deutlichkeit, wie die Belagerung von Leningrad. Eine 900-tägige Blockade, die in der UdSSR zum Mythos wurde, ist in der Erinnerung der Deutschen soweit die Hirne tragen verdrängt hinter den nationalen Melodramen "Stalingrad", "General Winter" und "Flucht und Vertreibung".

Die Heeresgruppe Nord der deutschen Wehrmacht sollte Leningrad jedenfalls nicht erobern, sondern sollte die Stadt aushungern und ausbluten lassen. Man ließ sie militärisch links liegen, während man sich 1941 Moskau, 1942 dem Kaukasus und dann Stalingrad zuwandte und 1943 in letzten Angriffsversuchen den strategisch schon verlorenen Feldzug taktisch noch wenden, oder zumindest den Untergang aufhalten wollte.

Die Belagerung von Leningrad dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Während dieser Zeit war die Stadt von den Deutschen umzingelt, die sie fortwährend bombardierten, mit Artillerie beschossen und alle Nachschubwege blockierten. Das Prinzip dieser Belagerung bestand also nicht darin, anzugreifen, sondern vor allem darin, zu warten. Abzuwarten, bis der Gegner in der Stadt erschöpft und ausgehungert ist, und sich dann ergibt. Letzteres geschah allerdings nicht, im Gegenteil: Die Invasoren mussten schließlich aufgeben.

Doch dieser Sieg der Sowjetunion, ein Sieg mehr der Bevölkerung als der Roten Armee, und von unzähligen heldenhaften Episoden begleitet, kostete allein eine bis anderthalb Millionen Tote auf russischer Seite, zwei Drittel davon unter der Zivilbevölkerung. Der materielle Schaden in der Stadt belief sich auf fünfundvierzig Milliarden Rubel, fast eineinhalb Milliarden Euro.

Krieg ist die Hölle

Immer noch eindrucksvoll ist hierfür Sergeij Loznitsas Dokumentarfilm "Blokada". Der Film zeigt lose Szenen dieser zweieinhalb Jahre. Im Film geht es nicht um die Kriegshandlungen, obwohl sie am Rande vorkommen, sondern hauptsächlich um die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner. "Blokada" bedient sich dafür aus einer riesigen Fundgrube an historischem Archiv-Material von meist erstaunlich hoher Qualität, sowohl rein technisch als auch filmästhetisch.

Alles wurde tatsächlich während der Belagerung gedreht; es wurde dann vom Filmemacher zu einem Ganzen zusammengeschnitten und technisch bearbeitet. Dabei war nicht immer klar, in welcher Phase der Belagerung die gefilmten Ereignisse stattfanden und wie aus dem Berg von Material ein nachvollziehbarer Film gemacht werden konnte.

Zumindest fragwürdig ist allerdings die Tonspur unter den Bildern. Allzu "lebensecht", aber von der Produktion den stummen Bildern hinzugefügt. Sehr gut gemacht, aber doch in der Anmutung eines Radiohörspiels - und eben eine unhistorisch, künstliche Tonkulisse zu den echten historischen Bildern.

Ohne konkrete Zeitangaben ist der wesentliche Ereignisablauf dennoch gut nachzuvollziehen: Vorbereitungen, Aufbau der Artillerie, tiefe Gruben und Gräben, die überall in der Stadt ausgehoben werden, Barrikaden, die überall aus schwerem Material errichtet werden, während das Leben zugleich fast wie gewohnt weitergeht. Anfangs sind die Straßen noch belebt und das ziemliche Verkehrsaufkommen entspricht jeder anderen europäischen Stadt der damaligen Zeit.

Dann beginnen die ersten Bombardements, danach die Artillerieangriffe, Gebäude stehen in Flammen und die Menschen versuchen verzweifelt zu löschen. Sie versuchen mit aller Kraft, eine Bibliothek vor den Flammen zu retten. Wichtige Statuen werden vorsorglich abgebaut. Irgendwann müssen deutsche Kriegsgefangene durch die Stadt marschieren, bewacht von Soldaten auch vor der Bevölkerung. Die blickt neugierig; man sieht Angst wie Hass.

Einzelne Szenen sind kraftvoll und klar, die Chronologie allerdings hat das Kommando und bald wird "Blokada" zu einem einzigen Spektakel, einem Katastrophenfilm mit bekanntem Ausgang.

Ohne Dialog, ohne Erzähler, ohne Zeit- und Ortsangaben wird eine Geschichte erzählt, die für sich selbst spricht: Krieg ist die Hölle, auch wenn man ihn nicht selbst kämpfen muss. Und vor allem die Erkenntnis, dass dies kein Spielfilm ist, sondern alles, was wirklich passiert oder passiert ist, macht es unglaublich spannend. Blockada ist beeindruckend als Realität und als Film.

Kameras waren von Anfang an dabei

Diese riesige Materialsammlung belegt auch: Kameras waren von Anfang an dabei. Der 22 Juni 1941 war auch der Beginn eines Medien-Kriegs. Er zielte auf die öffentliche Meinung im Ausland, aber genauso auf die eigene Bevölkerung. Dies gilt nicht allein für Nazi-Deutschland, es gilt genauso für die UdSSR. Erste Bilder des Angriffs der Deutschen sah man schon wenige Tage später in den wöchentlichen Kino-Nachrichten.

Ein Unterschied ist von Anfang an bemerkenswert. In den NS-Wochenschauen sah man nur vorwärtsstürmende Truppen. Sowjetische Bilder konnten das nicht zeigen, denn in den ersten Wochen des Krieges wurde die Rote Armee immer wieder geschlagen. So zeigte man die Aggression des Feindes, seine Stärke und Brutalität sowie die Leiden der eigenen Bevölkerung. Der Effekt war klar: Solidarität, Patriotismus, die Gegensätze und sozialen Verwerfungen der letzten zwei Jahrzehnte sollten in Vergessenheit geraten: Auch in seinen Bildern war der Krieg der Sowjetunion von Anfang an "Der große vaterländische Krieg".

Sehr schnell entstanden dann erste Dokumentarfilme, die über bloße Wochenschau-Programme hinausgingen. Etwa der 15-Minuten-Film, der die Rede Josef Stalins zum Jahrestag der Oktoberrevolution 1941 zeigt - und vor ihm Truppen die direkt zum Fronteinsatz in der Schlacht vor Moskau marschierten.

Gegen die überlegenen Kreuzritter

Bemerkenswert ist auch die Karriere, die etwas ältere Filme ab Juni 1941 machten. Vor allem bereits in den ersten Wochen Sergej Eisensteins Monumentalfilm "Alexander Newski", mit seiner mitreißenden, von Sergej Prokofjew komponierten Filmmusik. 1938 entstanden wirkte es im Rückblick wie eine Vorahnung, wie dieser Film einen mittelalterlichen Ritter zeigt, der sein zerrissenes Volk im Zweifrontenkrieg gegen Mongolen und die Angriffe des Deutschherrenordens eint und mit Bauernschläue und militärischer List die überlegenen deutschen Kreuzritter in die Falle lockt und auf dem Peipussee besiegt.

Zwei Schlachten wurden noch während der Jahre des Kriegs mit den Mitteln des Kinos mythisch aufgeladen und so auch zu filmischen Höhepunkten: neben der Belagerung von Leningrad auch die Schlacht von Stalingrad.

1943, bereits zwei Monate nach Ende der Schlacht von Stalingrad, kam ein Film über die Schlacht ins Kino. Er heißt "Stalingrad" und stammt von Leonid Varlamov. Auf 80 Minuten fasst er die wichtigsten Phasen der Schlacht zu einem heroischen Gemälde zusammen - und das in erstaunlich moderner Mischform aus veristischer Faktensammlung und fast fiktionaler Narration mit Helden und Antagonisten.

Diese Filme stehen am Anfang einer Geschichte, die bis heute nicht zu Ende ist: Der Erhöhung des deutsch-sowjetischen Krieges zu einem Schlüsselereignis des Jahrhunderts. Solche Mythisierung zwischen Dämonisierung, Verklärung und Verkitschung ist aber keineswegs schlichte Propaganda. Sondern es ist eine Form, das nach wie vor Unfassbare dieses Vernichtungskriegs zumindest ästhetisch zu bewältigen und zu bannen.

Literatur-Tipp: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft - 69. Jg., Heft 6 (2021)