Sozialchauvinismus gegen Bürgergeldbezieher – selbst drei Bier zur EM sind zu viel
Polit- und Medienkampagne macht arme Menschen zur Zielscheibe. Warum wehren sie sich kaum? Manche Fürsprecher machen sie selbst klein. Ein Kommentar.
Während nach den Parlamentswahlen in Frankreich in vielen Medien wieder die Phrasen von einer Gesellschaft zu hören sind, die im Kampf gegen Rechts zusammenhalten müsse, nimmt in Deutschland die Hetze gegen Bürgergeldbezieher in bürgerlichen Medien neue Formen an. Spitzenreiter ist hier der Focus, der sich im Hetze gegen arme Menschen einen Negativpreis verdient hat.
Dieses Blatt publizierte online in Kooperation mit seinem Youngster-Medienpartner Kukksi tatsächlich die Schlagzeile "Bürgergeld-Empfängerin verprasst ihr letztes Geld für Bier auf EM-Fanmeile".
Drei Bier und Bratwurst: Zu viel für eine Bürgergeld-Bezieherin?
Im Text wird dann präzisiert, wohin das dekadente Lotterleben der Armen denn bestanden hat:
Und auch Jennifer wollte auf der Fanzone in Leipzig das Spiel verfolgen, sie war schon um 17 Uhr da, obwohl das Spiel erst um 21 Uhr begann. "Das kann ganz schön ins Geld gehen hier", meinte die 21-Jährige zu Kukksi. Auf die Nachfrage unseres Reporters, was sie denn schon ausgegeben hat, antwortet sie in der Halbzeitpause: "Insgesamt drei Bier und eine Bratwurst. Das ist Ende des Monats schon knapp, denn Bürgergeld dauert noch einige Tage", meint sie.
Wir wollten noch wissen, wie viel Geld sie in diesem Monat nach dem Fanmeilen-Besuch noch zur Verfügung hat: "Ich hatte noch 30 Euro – jetzt sind weniger als zehn Euro übrig, die für den Rest des Monats reichen müssen. Nach der Fanmeile habe ich kein Geld mehr. Das nächste Deutschland-Spiel muss ich mit Toast und Dosenbier vor dem Fernseher gucken."
Eigentlich müsste ein solcher Bericht ein Grund für Empörung sein über die mageren Sätze der Grundsicherung, wenn drei Bier und eine Bratwurst auf der Fanmeile schon in eine solche Lage führen. Doch der Focus betreibt wie viele Politiker Sozialchauvinismus, der dazu führt, dass den Armen sogar bei einer besonderen Gelegenheit wie der Fußball-EM drei Bier und eine Bratwurst nicht gegönnt werden.
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Doch man kann noch tiefer sinken und auch das macht der Focus mit dem nicht überprüfbaren "Geständnis" eines ukrainischen Bürgergeld-Empfängers vor: Er und seine Familie kämen ja mit dem Geld gut aus und viele seiner Landsleute hätten es mit der Arbeitssuche nicht eilig, weshalb er sich schäme. Hier wird mehr als deutlich, dass damit ein Vorstoß der CSU unterstützt werden soll, ukrainischen Geflüchteten das Bürgergeld zu entziehen.
Politiker verschiedener Parteien wollen schließlich möglichst viele der ukrainischen Männer an die Front schicken. Als ob es nicht völlig legitim und ehrenwert wäre, dass sie sich eine, Krieg entziehen, der nicht ihrer ist.
Sozialchauvinistische Hetze und wie sie wirkt
Doch der Focus steht mit seiner sozialchauvinistischen Hetze nicht allein. Bild und Welt sowie zahlreiche weitere Medien beteiligen sich daran. Nicht vergessen werden dürfen die vielen Leser, die ihren Sozialchauvinismus ausleben wollen. Darunter sind oft selbst einkommensarme Menschen.
Das haben Britta Steinwachs und Christian Baron schon 2013 in ihrem im Unrast-Verlag veröffentlichten Band "Frech – faul – dreist" gezeigt, wo sie die Folgen der Bild-Hetze gegen den zum "frechsten Arbeitslosen" geadelten Arno Dübel, aufzeigen.
In dem Buch werden Hassbriefe von Menschen an Dübel dokumentiert, die betonten, welch große Opfer sie selbst als Erwerbslose brächten und wie sehr sich von selbstbewussten Erwerbslosen wie Arno Dübel provoziert fühlten.
Warum gehen Armutsbetroffene kaum auf die Straße?
Einkommensarme Menschen mit solchen sozialchauvinistischen Einstellungen treten lieber nach unten, als gemeinsam mit anderen Betroffenen auf die Straße zu gehen und ihre Rechte einzufordern.
Das könnte auch eine Antwort auf die Frage sein, warum 2022 der "heiße Herbst" gegen Inflation und Teuerung weitgehend ausgefallen ist. Damit befasst sich auch der langjährige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, in seinem jüngsten Buch "Krise – das Versagen einer Republik", das im Westend-Verlag herausgekommen ist.
Am Montagabend stelle sich Schneider gemeinsam mit der Bundestagsabgeordneten der Gruppe Die Linke, Heidi Reichinnek in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung der Diskussion.
Sozial-Lobbyismus ohne scharfe Regierungskritik
Schneider lieferte einige gute Kritiken an einer Kuschel-Lobby bei den Nichtregierungsorganisationen, die sich den Armen widmen. Er beschreibt, wie diese ihre Zeit verschwenden für Stellungnahmen zu Gesetzesinitiativen der Parteien, die dann in der Schublade verschwinden.
Doch auch Schneider hinterfragt seine jahrelange Rolle als vermutlich gut bezahlter Lobbyist nicht. In einem Langinterview bei "Jung und naiv" weigerte sich Schneider vehement, Auskünfte über sein Gehalt zu geben und bediente damit das neoliberale Narrativ, dass man über Gehalt nicht reden sollte.
Aus der Partei Die Linke war Schneider nach einer Rede von Sahra Wagenknecht ausgetreten, die damals noch der Linksfraktion angehörte – aber nicht wegen ihrer oft als verächtlich kritisierten Aussagen über Migranten, sondern weil Wagenknecht die Bundesregierung verächtlich gemacht habe. Das würde der Lobbyist Schneider niemals tun, betont er.
Hoffnung auf soziale Politik von SPD und Grünen
So verwundert es auch nicht, dass Schneider eine Chance für mehr soziale Politik in der Zusammensetzung der aktuellen Bundesregierung sah. Konkret hoffte er darauf, dass sich SPD und Grüne auf sozialpolitischen Gebiet gegen die FDP als kleinsten Koalitionspartner durchsetzen könnten.
Diese Illusion hatten allerdings viele Armutsbetroffene nicht, die schon 2004 gegen die von einer Regierung aus SPD und Grünen auf den Weg gebrachten Hartz IV-Gesetze auf die Straße gegangen waren. Auf diese Proteste vor 20 Jahren ging ein Besucher aus dem Publikum ein – Schneider erwähnte sie von sich aus nicht. Dafür ging er ausgiebig auf das Scheitern der Proteste gegen Teuerung und Inflation im Herbst 2022 ein, an denen er selber beteiligt war.
Warum der Solidarische Herbst floppte
Ausführlich schilderte Schneider, wie er am 22. Oktober 2022 zum Auftakt des "Solidarischen Herbstes", der neben dem Paritätischen Wohlfahrtsverband auch von vielen anderen NGOs und Gewerkschaften ausgerufen worden war, in Berlin auf einer großen Bühne vor knapp 5.000 Menschen gesprochen hatte.
Für Schneider war es "ein absoluter Tiefpunkt meines politischen Lebens", der sich ihm eingeprägt habe. Dabei wollte man alles besser machen als Die Linke, die bereits früher im Jahr 2022 in Leipzig zum "Heißen Herbst" mit größtenteils gleichem Inhalt aufgerufen hatte. Doch davor gab es viel Streit um Termine und Aufrufe.
Eine gründliche Analyse der Gründe für die mangelnde Beteiligung von Armutsbetroffenen findet sich allerdings bei Schneider nicht. Dafür äußert er noch immer sein Unverständnis, warum nach drei Jahren Krise die Massen nicht auf die Straße gingen.
Auf einen Hinweis aus dem Publikum, dass der langjährige Erwerbslosenaktivist Harald Rein eine plausible Erklärung dafür gegeben hat, ging Schneider nicht ein.
Rein hatte die Frage gestellt, warum sich arme Menschen nach den Terminen richten sollten, die Parteienvertreter oder auch selbsternannte Lobbyistin der Armen für Proteste vorgeben. Das hätte auch eine Frage sein können, die Schneider interessiert. Doch das war nicht der Fall, wie sich bei der Veranstaltung zeigte.
Klischee: Kaputte Menschen, um die man sich kümmern muss
Das ist auch nicht verwunderlich, denn Schneider erklärt offen, dass arme Menschen zu kaputt seien, um auf die Straße gehen. Denen könne man erst mit politischen Fragen kommen, wenn man sich um die gekümmert habe.
Das mag für einen Teil der armen Menschen zutreffen. Aber sind nicht viele Menschen von der Lohnarbeit kaputt und engagieren sich gerade deshalb für Verbesserungen? Und sind nicht auch viele arme Menschen vor 20 Jahre auch ohne den Segen der Parteien und der selbsternannten Armutslobbyisten gegen Hartz IV auf die Straße gegangen?
Damals waren genau die Menschen auf der Straße, die Schneider im Herbst 2022 vermisste. Dass Schneider diese Einwände nicht interessierten, macht einmal mehr deutlich, dass neben dem Sozialchauvinismus auch die selbsternannten Lobbyisten für den Kampf armer Menschen eher ein Problem sind. Dass bei der Diskussion am Montag kein einziges Mal die Worte Sozialchauvinismus und Kapitalismus gefallen sind, dürfte dann auch nicht verwundern.
Der Autor hat mit Anne Seeck Harald Rein und Gerhard Hanloser das Buch "Klassenlos: Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten" im Verlag die Buchmacherei herausgegeben.