Soziale Unruhen oder Massenmigration nach der Covid-19-Pandemie?

Bild: Ggia/CC BY-SA 4.0

Die Maßnahmen gegen Covid-19 haben mit dem Auslöser rassistischer Polizeigewalt zu Protesten gegen die staatliche Macht geführt, die in der post-pandemischen Welt nach einer Studie zu Unruhen oder Auswanderungswellen führen können

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In den USA haben sich mit der grausamen Tötung von George Floyd durch einen Polizisten mitten in der Covid-19-Pandemie Proteste gegen Polizeigewalt wie ein Flächenbrand in Städten ausgebreitet, die auch den lange aufgestauten Unmut über US-Präsident Donald Trump im Wahlkampfjahr zum Ausdruck bringen. Trump spielt mit dem Einsatz von Armee und Schusswaffen, äußert für seine rechte Klientel ein ums andere Mal "Law & Order", bezeichnet die Demonstranten als "Anarchisten" und "Terroristen" und scheint mit dem Schüren des Konflikts in den sowieso politisch zerrissenen USA für Wahlkampf durchaus ein Ausborden der Unruhen und deren anschließende Unterdrückung durch Gewalt in Kauf zu nehmen oder gar provozieren zu wollen.

In Deutschland hingegen sind die "Hygiene-Demos" bzw. die Proteste gegen die Lockdown-Maßnahmen mit ihrem Amalgam aus Positionen wieder rückläufig. Allerdings scheinen die deutschen Innenminister weiterhin besorgt zu sein, dass aus der oft herrschenden fundamentalkritischen Stimmung gegenüber der Regierung, den um globale Machtstrukturen rankenden Verschwörungstheorien und der Unterwanderung durch Rechte eine Pegida ähnliche Bewegung entstehen könnte. #

In einem vorbereiteten Beschluss zur Innenministerkonferenz in Erfurt heißt es, man beobachte "aufmerksam, dass die derzeitige Corona-Pandemie von Extremisten, Verschwörungstheoretikern sowie nachrichtendienstlicher Akteuren fremder Staaten ausgenutzt wird". Extremisten würden die Corona-Krise für "ihre verfassungsfeindlichen Zwecke" missbrauchen. Es werde versucht, "Ängste und Unruhe in der Bevölkerung zu schüren". Und die könnte zunehmend über die wirtschaftlichen Folgen nicht der Pandemie, sondern der Maßnahmen gegen sie aggressiver gestimmt sein und ähnlich wie 2015 neuen politischen Bewegungen folgen.

Um das abzuwehren soll gemeinsam gegen "gezielte Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen" vorgegangen werden. Polizei und Verfassungsschutz sollen bis zum Herbst ein Sonderlagebild zu "Gefahren- und Risikopotential insbesondere durch Extremisten und fremde Dienste" vorlegen. Beschworen werden Szenarien, dass sich Einzelne oder Teile der Szene ähnlich wie bei den Kreisen der Reichsbürger und der durch Pegida gestärkten Rechtsextremen bewaffnen und Anschläge ausüben könnten. Das aber ist nun wirklich kein neues Phänomen, sondern geht weit in die Geschichte der Bundesrepublik zurück.

Dazu kamen linke Demos und zuletzt ebenfalls Antirassismus-Proteste. Die gesellschaftliche Spaltung zwischen rechtsnationalistischen, autoritären Bewegungen und liberalen, linken und globalistischen Bewegungen vertieft sich, wie das jetzt auch in Großbritannien und Frankreich zu bemerken ist.

Australische Studie: Covid-19 als Ursache eines neuen Exodus

Wenn es nach einer Studie von australischen Wissenschaftler am Centre for Complex Systems der University of Sydney geht, bestünde berechtigte Sorge, dass die Pandemie nicht nur zu Unruhen in der Bevölkerung führt, sondern auch zu einem neuen Schub der Massenmigration. Da kämen dann in Deutschland Pegida, AfD, Rechtsnationalisten und die neuen angeblichen Verteidiger der Grundrechte ebenso zusammen wie in den USA das rechtsnationalistische, ausländerfeindliche und teils rassistische Klientel der Anhänger von Donald Trump mit denjenigen, die auch hier die Gefährlichkeit der Pandemie und die eingeleiteten Maßnahmen für weit übertrieben halten und letztlich Covid-19 mit den damit verbundenen 119.000 Toten als normale Grippe betrachten.

Epidemien, Unruhen und Kriege seien Ursache für die größten Massenbewegungen. Verwiesen wird auf den Zweiten Weltkrieg, der die größten Wanderungsbewegung in der europäischen Geschichte verursacht habe, auf den Syrien-Konflikt, der 2015-2016 zur Flucht von über vier Millionen Menschen führte, oder auf die Ebola-Krise, die auch viele Menschen zeitweise oder auf Dauer flüchten ließ. Auch wenn jetzt die Lockdown-Maßnahmen zur Schließung der Grenzen und zur weitgehenden Unterbrechung der Reise- und Migrationsbewegungen führten, so könnte dies in der "post-pandemischen Welt" ganz anders aussehen.

Die Epidemiologen unter der Leitung von Mikhail Prokopenko haben, wie sie in ihrem Artikel in Scientific Reports von Nature beschreiben, ein mathematisches epidemiologisches Modell entwickelt, um die Ausbreitung einer "Ansteckung" in einem Gebiet aufgrund der individuellen Mobilitätsentscheidungen von Agenten zu berechnen, die wiederum auf das Geschehen reagieren. Aus den individuellen Präferenzen soll sich das Verhalten einer größeren Population ableiten lassen. Dabei werden unter dem Ansteckungspänomen nicht nur Epidemien, sondern eben auch Unruhen, soziale Spaltung oder "infodemics", also Wellen an Desinformation, verstanden, die sich räumlich ausbreiten. Aber auch Migrationswellen in vermeintlich sicherere Gebiete.

Nach dem sehr theoretischen Modell können auch sehr kleine Veränderungen in der Entscheidungsfindung oder der Wahrnehmung von Risiken oder Chancen plötzliche Veränderungen des kollektiven Verhaltens bewirken. Wenn Menschen etwa Risiken nur ein wenig anders sehen, kann ihr gemeinsames Verhalten zu einem Umschlag führen - etwa nicht mehr Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung von Ansteckung zu beachten oder das Heil in der Migration zu suchen: "Während Ebola nur relativ kleine Gebiete auf der Welt betroffen hat, hat die Covid-19-Pandemie fast jedes Land erreicht und verbreitet sich weiter. Daher können wir weitreichende Auswirkungen erwarten, die globale und regionale Migration verstärken", sagt Prokopenko. So könnten die Menschen aus Staaten, in denen große Armut herrscht und die Pandemie wütet wie etwa jetzt Brasilien, Mexiko oder Peru sowie Venezuela dazu getrieben werden, in andere Länder zu fliehen, um Sicherheit zu finden.

Nach dem Modell könnte die Covid-19-Pandemie zum Katalysator einer Massenmigration werden, aber das ist eine theoretische Möglichkeit. Man kann genauso spekulieren, dass die post-pandemische Welt die Nationalisierung, also die Isolation und Abschottung der Staaten verstärkt und damit die Globalisierung reduziert. Auf jeden Fall dürfte die Pandemie die gesellschaftliche Spaltung und das Misstrauen in Regierungen verstärken. Verzweifelte Versuche, dem mit der Bekämpfung von Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen zu begegnen, werden das Misstrauen eher erhöhen.

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