Sozialer und kosmischer Horror: "Eine Welt, die nicht für den Menschen da ist."

Dominik Irtenkauf

Bild Merkur: NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Carnegie Institution of Washington

Über das Grauen, zerstörerische Realitäten und kosmische Angst. Interview mit dem Philosophen Daniel Illger.

Mit der grassierenden Wohnungsnot, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland, scheinen Szenarien, die wir bislang nur aus der Horrorliteratur kennen, zur grausamen Realität zu werden.

Der Kulturwissenschaftler, Philosoph und Autor Daniel Illger schrieb einen ausführlichen Essay zu kosmischer Angst, die eng mit dem Konzept des kosmischen Horrors zusammenhängt. Letzterer wurde von dem US-Schriftsteller Howard P. Lovecraft literarisch erkundet. Dabei hatte Lovecraft einen Kosmos im Blick, der gegenüber menschlichen Interessen indifferent ist.

Das Konzept der kosmischen Angst kann in gewisser Weise auch soziale Defizite beschreiben. Inwiefern der kosmische den sozialen Horror berührt und wie zerstörerische Realitäten literarisch beschrieben und damit politisiert werden können, kommt im folgenden Gespräch zur Sprache.

"Dieser Horror rückt die völlige Ohnmacht alles Menschlichen ins Zentrum"

Welche Dimension hat bei der kosmischen Angst der soziale Horror?

Daniel Illger: Wenn man von Lovecraft und dem kosmischen Indifferentismus ausgeht, dann könnte man sagen, dass diese Art von Horror das Grauen angesichts eines völlig gleichgültigen, sich für die Belange des Menschen nicht im geringsten interessierenden Universums ist.

Wenn man das auf dieser philosophischen Ebene versteht, dann liegt der Bezug zu sozialen Verhältnissen, wo es um alles, nur nicht um die dringlichsten Belange von Menschen, Tieren oder Leben allgemein geht, liegt solch ein Übertrag nahe.

Der kosmische Horror zielt grundsätzlich auf eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die einerseits nur durch einen dünnen Schleier getrennt ist, in die man hineinstolpern kann, wenn man einmal um die falsche Ecke biegt, aber andererseits von völlig unbegreiflichen Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird. Da ist zumindest eine metaphysisch gewendete politische Angst enthalten, dass wir eigentlich gar nicht die Herren und Herrinnen unserer Welt sind.

Dass die Welt, die eigentlich die unsere ist, von ganz anderen Gesetzmäßigen bestimmt wird. Das kann man dann auf eine heiklere Art und Weise lesen, wenn man es in eine verschwörungstheoretische Richtung wendet.

Wenn man jetzt an die marxistische Tradition denkt, kann man es aber auch so verstehen, dass es eine Art systemischer Logik gibt, die sich hinter dem Rücken der Menschen vollzieht, und ganz viel von dem, was sie tun, lassen und leben können, beherrscht.

Das Unheimliche taucht als Kategorie zunehmend in politischen Schriften auf. Inwiefern spielen Verschwörungstheorien bei dieser Art Horror eine Rolle?

Daniel Illger:
Kosmische Angst
240 Seiten, 16,00 Euro

Daniel Illger: Die Ähnlichkeiten ergeben sich in der Ansicht, dass es geheime Akteure gäbe, die in Wahrheit alles beherrschen. Zudem stößt man auf eine gewisse Verbindung zum sogenannten Lovecraft-Mythos, die Vorstellung von irgendwelchen schlafenden uralten Gottheiten, die gewissermaßen über unsere Welt herrschen, ohne dass wir es mitbekommen.

Da steckt eine verschwörungstheoretische Aufladung drin, wobei ich immer betonen würde, dass der kosmische Horror in wesentlichen Punkten eigentlich das Gegenteil von Verschwörungstheorien ist.

Wie man bei Michael Butter und anderen, die zu Verschwörungstheorien geforscht haben, nachlesen kann, ist bei einer Verschwörungstheorie ein wesentlicher Punkt, letzten Endes doch die Kontrolliertheit der Welt und politischer und sozialer Zusammenhänge durch den Menschen zu behaupten. Wir sind zwar ohnmächtig, aber es gibt jemanden, der alles kontrolliert, alles beherrscht und alle Fäden in der Hand hat.

Das ist eigentlich das Gegenteil des kosmischen Indifferentismus von Lovecraft. Dieser Horror rückt die völlige Ohnmacht alles Menschlichen ins Zentrum. Das ist die völlige Ohnmacht und Unbehaustheit und ein Verloren-Sein in einer gleichgültigen bis feindseligen Welt.

Unterschiede zwischen kosmischer Angst und kosmischem Horror

Bei Lovecraft findet man in verschiedenen Werken antisemitische bis rassistische Stereotypen. Wie spielt seine Gleichgültigkeit bis Feindseligkeit selbst in diese Konzepte?

Daniel Illger: Zunächst gibt es keine Zweifel, dass Lovecraft Rassist und Anti-Demokrat war. Er hat auch immer wieder antisemitische Äußerungen getätigt. Das ist nichts, was man irgendwie wegdiskutieren kann. Ich denke aber, dass seine Geschichten nicht in seiner politischen Haltung aufgehen. Diese Art von kosmischem Indifferentismus ist in dem Punkt radikal demokratisch, dass sie alle Menschen für radikal nichtig erklärt.

Die Menschen sind wertlos angesichts dieser endlosen kosmischen Kälte. Wenn es um Lovecraft geht, sollte man sicherlich bestimmte Geschichten wie "The Horror of Red Hook" kritisieren, für die darin enthaltene rassistische Metaphorik, für ein sehr zweifelhaftes Bild von nicht-weißen Menschen, das da gezeichnet wird. Andererseits sollte man aber auch sehen, dass seine künstlerische Idee nicht in solchen Vorstellungen aufgeht.

Was sind eigentlich die Unterschiede zwischen kosmischer Angst und kosmischem Horror?

Daniel Illger: Der kosmische Horror ist letztlich über diesen kosmischen Indifferentismus zu fassen, als eine sowohl ästhetische wie philosophische Grundlegung. Aus meiner Perspektive ist der kosmische Horror, wenn er ernstmacht, eigentlich stets nihilistisch.

Kosmische Angst kann sich meines Erachtens für eine Vielzahl von Bezügen, zum Beispiel philosophischer oder politischer Art, öffnen, weil sie eben im Kern darauf abzielt, diese Empfindung zu gestalten: zugleich Lust an und Grauen vor der Ich-Auflösung.

Kosmische Angst ist aus meiner Sicht dann gegeben, wenn es der Kunst gelingt, uns eine Art Auflösung der grundlegendsten Parameter unserer Weltwahrnehmung von Raum und Zeit genießen zu lassen. Das macht natürlich kosmischer Horror häufig, aber wenn er das macht, überschreitet er auch eine enge nihilistische Selbstkonzipierung.

Über die kosmische Angst kann auch anderes in die Wahrnehmung gelangen: Sehnsucht nach einer Transzendenz, Sehnsucht nach einer anderen Welt, nach einer anderen Form des Seins, nach einer Auflösung hin zu ganz geheimnisvollen, vielleicht auch mystisch zu fassenden Kräften. Das ist beim kosmischen Horror in Reinform nicht so präsent, weil dort alles am Ende in Nihlismus kollabiert.

Das Nicht-alles-wissen-Können oder sogar das Nicht-alles-wissen-Wollen ist philosophisch auch eine anti-aufklärerische Geste.

Daniel Illger: Ich sehe das auch als Versuch, eine Wahrnehmung erfahrbar zu machen, die nicht schon durch den Menschen gefiltert ist.

Weg von der vorgefassten Perspektive, was Welt überhaupt sein kann. Wenn es darum geht, das Verhältnis unserer Spezies zu anderen Lebensformen zu bestimmen, zur Natur, zum Planeten.

"Die Welt ist relativ hoffnungslos im kosmischen Horror"

Ich habe hier ein Zitat von S. 62: "Alle Menschen sind gleich: gleich lächerlich, gleich nichtig, gleich absurd." Der soziale Horror macht alle Unterschiede gleich. Da stellt sich auch die Frage, ob dadurch Politik unmöglich wird.

Daniel Illger: Es wäre ziemlich kühn, behaupten zu wollen, dass kosmischer Horror in irgendeiner Weise als Handlungsanweisung für politischen Widerstand dienen könnte. Das definitiv nicht. Die politische Dimension des kosmischen Horrors ist bestimmt nicht in diesem Sinne progressiv, dass sie uns ermutigt, uns zusammenzuschließen, gemeinschaftlich Widerstand aufzubauen und die Welt zu verändern.

Die Welt ist relativ hoffnungslos im kosmischen Horror. Wirklich in dem Sinne nihilistisch, dass Handlungsoptionen innerhalb des Paradigmas dieses Horrors kaum konzipierbar sind.

In dem Sinne ist es keine politische Literatur, in dem Sinne, dass sie auf eine Veränderbarkeit der Welt hinwirkt. Politisch eher in dem Sinne, dass sie uns eine Poetik an die Hand gibt, ein Gefühl für die Welt zu gestalten, in dem noch das Allervertrauteste, Alleralltäglichste radikal fremd, verstörend, bedrohlich ist.

Das heißt, wir können ein Gefühl für die Welt gestalten, das vielleicht ein politisches ist, für viele Menschen in Zeiten, die so unsicher und bedrohlich sind wie unsere.

Wie hängt diese Wahrnehmung mit der Rolle Lovecrafts für den spekulativen Realismus zusammen?

Daniel Illger: Um sich da ein qualifiziertes Urteil erlauben zu können, müsste man das sich viel genauer anschauen. In einer bestimmten Lesart von Lovecraft kann man sehen, dass es den Versuch gibt, eine Welt zu würdigen, die nicht für den Menschen da ist.

Eine Welt, die nicht immer auf unser Bewusstsein bezogen ist. Die nicht immer in Bezug auf unser Denken und Fühlen Bedeutung hat. Das kann man letztlich doch wieder politisch zielführend finden.

Wenn man es mit einer gewissen posthumanistischen Ethik verbindet, die nicht einfach den Menschen verachtet oder negiert, aber versucht, Entwürfe menschlicher Subjektivität zu befördern, die den Menschen eben nicht so sehr abgetrennt und isoliert von der Welt, der Natur und den Tieren sehen, sondern eher in ein Kontinuum eingebunden.

Das ist jetzt sicher nichts, was man unmittelbar aus Lovecraft ableiten kann, aber es erlaubt eine bestimmte Perspektive auf sein Werk. Es macht solche Konzepte ein bisschen greifbarer.

Das geht ein bisschen in die Richtung von Donna Haraways Buch "Staying with the Trouble" / "Unruhig bleiben", in dem sie vom Cthulhuzän schreibt, aber Verbindungen zu Lovecraft nicht aufmacht.

Daniel Illger: Haraway grenzt ihre Assoziation des Begriffs explizit von Lovecraft und Cthulhu ab. Sie hat eine bestimmte Lesart von Lovecrafts Geschichten, die eher das Reaktionäre an ihm betont. Ich denke aber, dass man den kosmischen Horror insgesamt und das, was ich kosmische Angst nenne, durchaus auch auf eine produktivere Weise mit solchen Konzepten verbinden kann. Kosmische Angst ist nicht einfach mit kosmischem Horror gleichzusetzen.

Hier herrscht eine Gleichzeitigkeit des Grauens und der Lust an Selbstauflösung in der Kunsterfahrung. Es gibt in dieser Tradition des Horrors ästhetische Erfahrungen, die uns, wenn wir lesen oder Filme schauen oder auch Videospiele spielen, in ein lustvolles Verhältnis zu der Auflösung der eigenen Grenzen bringen.

Als Individuum, aber auch vielleicht im Verhältnis zu den Grenzen des Denkens und Fühlens, was uns vorher möglich erschien. Daran kann man in einem kritisch guten Sinne etwas Herausforderndes erkennen.

Das kann man auf Haraway beziehen. Das kann man durchaus auf den posthumanistischen Feminismus insgesamt beziehen. Darüber hinaus könnte man das auch auf die Kritische Theorie beziehen: Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" etwa.

Die Vorstellung, dass wir ein Bild des Menschen überwinden müssen, das das Inkommensurable überhaupt nicht ertragen kann und deshalb sich ständig in neue Perpetuierungen und Permutationen von Herrschaft und Unterdrückung verstrickt.

Dagegen steht möglicherweise die Außenwahrnehmung dieser Literatur als Pulp Fiction, als Werke von niederer Qualität.

Daniel Illger: Man kann das Politische an der Kunst sicherlich auf verschiedene Art und Weisen fassen. Ich glaube, die in unserer Zeit gängigste Lesart ist die, es auf der Repräsentationsebene zu verorten. Kunst ist dann politisch, wenn sie Geschichten erzählt, Figuren gestaltet, die in zeitgenössische politische und soziale Konflikte verstrickt sind und uns darüber gewissermaßen erlaubt, eine Haltung zu diesen Konflikten auszudrücken. Das ist, glaube ich, die gängigste Vorstellung von politischer Kunst in unserer Zeit.

Es gibt noch eine andere, nicht minder gültige Vorstellung vom Politischen in der Kunst, dass Formen von ästhetischer Erfahrung gestaltet werden, die für uns Reflexionsräume eröffnen, von unserer Beziehung zur Welt, von Subjektivität, von Beziehung zu anderen Lebewesen – Reflexionsräume eröffnen, die uns erlauben, Blickpunkte darauf zu werfen, was Menschsein ausmacht. Das ist dann natürlich nicht aus der Geschichte gefallen, sondern eingebunden in eine konkrete historische, soziale, politische Konfiguration.

Vor dem Hintergrund kann man auf jeden Fall sagen, dass der kosmische Horror eminent politisch ist, allerdings natürlich immer ambivalent politisch. In dem Sinne, wie ich es gesagt habe: Man kann das in verschiedene Richtungen ausdeuten. Also auch ins Reaktionäre, wenn man möchte.

Lass uns noch über die sozialen Aspekte von zerstörerischen Realitäten sprechen. Wenn man vom kosmischen Horror ausgehend über das Unwohnliche, den begrenzten Wohnraum, spricht, wie könnte das aussehen?

Daniel Illger: Es gibt sicher viele gelungene Horrorerzählungen, die Wohnräume betreffen. Beginnend mit der ebenso langen wie fruchtbaren Tradition des Spukhauses, die Art, wie das Spukhaus vom Wohnraum zum äußerst unwohnlichen Raum wird, bis hin zu Geschichten, die explizit in der Tradition des kosmischen Horrors stehen, die das ganze Universum dann als unwohnlich gestalten.

Grundsätzlich meine ich, dass die Verbindung zwischen sozialem Horror und kosmischem Horror so aussieht, dass das metaphysische Grauen vor einem kalten, fremden und sinnlosen Universum mit der Gegenwartsdiagnose zu sozialen und politischen Verwerfungen kurzgeschlossen wird, ohne sich zu Allegorien zu verfestigen – das Allegorische zerstört das Gefühl für den kosmischen Horror, weil es dann ja wieder alles sinnhaft und erklärlich wird.

Wenn sie gelingt, besteht das Politische in dieser Verbindung also darin, dass in der Kunsterfahrung ein bestimmtes Weltgefühl gestaltet und greifbar wird, und der Horror mit seinem Reservoir an Figuren, Orten, Handlungsfigurationen und natürlich auch Monstren verleiht dem dann eine unmittelbare sinnliche Konkretion. Übrigens, eine Autorin, die das meiner Meinung nach großartig hinbekommt, ist Mariana Enríquez, vor allem in ihrem Erzählband Was wir im Feuer verloren.

Jedenfalls wäre das sicherlich eine spannende Herausforderung, eine Geschichte zu erzählen, die unsere heutige Wohn- und Wohnungsnot auf kosmischen Horror bezieht. Dann wäre vielleicht die Herausforderung, dass man ein Weltverhältnis gestaltet, wo eigentlich kein Raum mehr zu finden ist, wo jeder Versuch, einen Raum zu finden, in immer neue Abweisungen, in immer neue Ausschlüsse, in immer neue Einsamkeit und Isolationen hineinführt.

Es ist zugegebenermaßen bisschen abstrakt, aber wenn ich darüber nachdenke, wie eine Horrorgeschichte aussehen könnte, dann wäre das mein erster Gedanke.

Das hört sich wie die Weihnachtsgeschichte an…

Daniel Illger: Daran habe ich auch gerade gedacht. Das wäre quasi dann die Umkehrung davon. Die Weihnachtsgeschichte wäre dann die Idee, dass etwas radikal Unwohnliches zum Wohnlichen überhaupt wird, weil Gottes Segen auf einmal über diesem unwirtlichen Ort liegt und das alles verwandelt.

Wenn man so will, eine radikal optimistische Umkehrung des Unwohnlichen, wobei wir wieder fast bei einem anderen Genre wären, bei Fantasy und Tolkiens Konzept der Eukatastrophe – also der guten Katastrophe, in der sich das größte Grauen, der größte Schmerz wider aller Erwartung in Glück und Freude wandeln kann.

Danke für diese Einblicke in ein grausiges Thema.

Daniel Illger: Gerne.