Sozialproteste: Die Straße gegen Macron
Frankreich: Historisch hohe Zahlen bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform. Gewerkschaftsführer droht mit "unbefristeten Streiks". 68 Prozent der Bevölkerung laut Umfragen gegen die Reform.
Mindestens 1,2 Millionen sind gestern, an einem Dienstag, in ganz Frankreich gegen die Rentenreform auf die Straße gegangen. So viel zählte das Innenministerium. Wie immer unterscheiden sich die Zählungen beträchtlich. Nach Angaben der Gewerkschaft CGT hat man 2,8 Millionen Menschen mobilisiert.
Altersübergreifend, heißt es. Aus einem breiten Spektrum der Gesellschaft. Historisch sind die gestrigen Proteste gemäß der offiziellen Zahlen die größten seit 1995, wie Le Monde veranschaulicht.
Einig sind sich das Innenministerium wie auch die Organisatoren in einer Beobachtung: Es demonstrierten mehr als beim Protesttag am 19. Januar. Gestern kursierten ungemein hohe Zahlen, so war sogar von 500.000 die Rede, die in Paris auf der Straße sein sollen.
Die Polizei gab am Abend dagegen lediglich eine Zahl von 87.000 bekannt. Aber selbst aus der offiziellen Statistik lässt sich herauslesen, dass der Widerstand gegen die Rentenpläne der Regierung keine vernachlässigbare Menge mobilisierte. Der Zulauf war beachtlich: 45.000 Demonstranten in Lyon, 40.000 in Marseille, 28.000 in Nantes, 23.000 in Rennes, 10.500 in Châteauroux. Auch Bilder aus den Städten zeigen dies.
Streiks: Weite Teile des Landes lahmgelegt
Begleitet wurden die Demonstrationen von Streiks: Sie legten weite Teile des öffentlichen Lebens in Frankreich lahm, berichtete die Tagesschau gestern aus dem Nachbarland: "Landesweit fielen Bahnen, Busse und Flüge aus, in vielen Schulen gab es keinen Unterricht."
Und die FAZ beobachtete Ungewöhnliches "selbst im streikfreudigen Frankreich": Dass sich öffentliche Verwaltungen geschlossen einem Ausstand anschließen.
Die Effektivität?
Das spricht für eine gewisse Effektivität, auf die die Organisatoren bei der Festsetzung des Protestages auf einen Dienstag zählten. An einem Werktag spüre man die Streiks und Medien müssen darauf reagieren, lauteten die Argumente.
Aber es kommen weniger, so das Argument für Demonstrationen am Wochenende. Aus den Reihen der Demonstranten war zu hören, dass weniger kommen konnten, weil sie in "prekären Jobs" tätig sind und um ihren Arbeitsplatz fürchten, so Teilnehmer aus Paris.
Die nächsten Proteste sind für Samstag, den 7. Februar, und Mittwoch, den 11. Februar angesetzt. Gut möglich, erklärte CGT-Chef, dass unbefristete Streiks das nächste Mittel seien, um weiter zu kommen.
Kern der Reform
Das zeigt an, dass die Effektivität der bisherigen Demonstrationen und Streiks politisch nicht weit getragen hat. Die Haltung der Regierung bleibt im grundlegenden Vorhaben unverändert. Sie gibt kein Zeichen dafür, dass sie am Kern rütteln will. Der sieht so aus, wie es Bernard Schmid kürzlich angesichts der "medialen Stimmungsmache" an dieser Stelle darlegte:
Kerngegenstand der geplanten "Reform" ist eine Erhöhung des gesetzlichen Renten-Mindesteintrittsalters, das vor der "Reform" von 2010 (und seit den frühen 1980er-Jahren) noch 60 Jahre betrug, heute bei 62 liegt, in kurzen Schritten bis auf 64 im Jahr 2030.
Die künftige gesetzliche Untergrenze, also 63 (ab 2026) respektive 64 (ab Anfang 2030), entspricht nicht dem deutschen "Renteneintrittsalter", das gerade schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben wird, wo es dann ab 2031 angesiedelt ist.
Dieser oft angestellte Vergleich – der sowohl das deutsche als auch das französische Medienpublikum zu der Schlussfolgerung führen soll, dass Französinnen und Franzosen sich doch mal nicht so anstellen sollten, sie hätten doch immer noch Glück – ist schlicht falsch.
Vielmehr entspricht die in Frankreich nun angepeilte Zahl 63 respektive 64 dem deutschen Alter für die Möglichkeit einer "Rente mit Abschlag" (oder mit potenziellem Abschlag, denn wenn mindestens 45 Beitragsjahre – eine hohe Zahl – vorliegen, dann entfällt dieser Abschlag. Eine Rente ohne Abschläge bei fehlenden Beitragsjahren gibt es in Frankreich schon jetzt erst ab 67.
Ab dem Alter von 63 "darf" in Deutschland einen Rentenanspruch geltend machen, wer eine zweite Voraussetzung erfüllt und mindestens 35 Beitragsjahre aufweist, dann jedoch mit einem Abschlag von 3,6 Prozent pro Jahr des "vorzeitigen" Abgangs.
Ähnlich, wenngleich nicht genau gleich, verhält es sich auch in Frankreich. Derzeit kann einen gesetzlichen Rentenanspruch geltend machen ("darf" also in Rente gehen), wer mindestens 62 Jahre alt ist, künftig wird diese Grenze bei 63 respektive 64 Jahren liegen – jedoch dann mit Abschlag gegenüber einer vollen Rente, wenn nicht alle geforderten Beitragsjahre vorliegen.
Bernard Schmid, Streiks und Sozialprotest in Frankreich: Millionen gegen Rentenreform
Den Ministerrat hat der Gesetzesvorschlag zur Rentenreform bereits passiert, heute ist er in den Ausschüssen, danach kommt er zur Lesung ins Parlament. Ist noch offen, ob Macron eine Mehrheit dafür versammeln kann.
Legitimitätskrise
Er verfügt seit den Wahlen nicht mehr über eine absolute Parlamentsmehrheit. Spekuliert wird nun darüber, ob die Regierung Zuflucht zum Artikel 49-3 nehmen muss, um die Reform per Dekret durchzusetzen. Das wurde schon vor drei Jahren diskutiert. Viel weiter ist man also nicht gekommen.
Die Legitimationsfrage ist weiter Gesprächsthema, wie auch die aktuellen Diskussionen vorführen. "Was macht die Regierung in einer dramatischen Weltlage?", so der unbequeme Kritiker Emmanuel Todd: "Sie lässt sich auf eine direkte Konfrontation mit dem französischen Volk ein."
Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, 68 Prozent, lehnen die Rentenreform laut einer Umfrage des Journal du Dimanche (JDD) vom vergangenen Wochenende ab.
Zur Effektivität der französischen Sozialproteste gehört auch die Hoffnung, die unter Teilnehmern der Demonstration in Paris zu hören war: Dass die Ausstrahlungskraft auch in andere Länder reicht.