Sozialproteste: Wenn die Armen trotz Inflation nicht auf die Straße gehen
Viele führen ihren Existenzkampf lieber individuell, weil dies kurzfristig effektiver sein kann. Linke Bündnisse suchen mittel- und langfristige Strategien. Gestritten wird über Abgrenzung nach rechts.
"Heißer Herbst und kalter Winter" – meteorologisch passte der Titel nicht so recht. Aber am Freitagabend ging es um die Auswertung der Herbstproteste gegen Inflation und hohe Mieten – und da standen die Begriffe als Metaphern. Den heißen Herbst erhofften sich verschiedene linke Bündnisse, die seit dem Spätsommer diese Proteste organisierten.
Der kalte Winter stand für die Furcht, dass ohne russisches Gas die Wohnungen kalt bleiben. Beides ist weitgehend ausgeblieben. Die Herbstproteste blieben überschaubar, und Kälte mussten wie bisher einkommensarme Menschen erleiden, die sich entweder gar keine Wohnung leisten können oder denen Strom und Gas abgestellt wurden.
Am Freitagabend kamen alle Protestbündnisse zusammen und versuchten sich an einer Auswertung der bisherigen Aktivitäten. Wenn man die Diskussionsunfähigkeit der Linken kennt war es schon ein Erfolg, dass man die unterschiedlichen Standpunkte austauschte, ohne gleich schreiend auseinanderzulaufen und sich gegenseitig die Verantwortung dafür zuzuschieben, dass die Proteste nicht stark geworden sind.
An dem Podium teilgenommen haben Ines Schwerdtner von dem Bündnis "Genug ist genug", Marcus Staiger vom Bündnis Heizung, Brot und Frieden, zwei Aktive der libertären Gruppe "Perspektive Selbstverwaltung" und der langjährige Erwerbslosenaktivist Harald Rein. Er hat, angelehnt an linken Bestseller "Aufstand der Armen" von Fox Piven Frances, das Buch "Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen" herausgegeben.
Mit einen Informationsstand vertreten war die anarchistische Gruppe "Der Preis ist heiß", die für einen antiautoritären Ausweg aus der Krise eintrat, was natürlich die Frage aufwarf, ob sie den im oder außerhalb des Systems sieht. Die unterschiedlichen Bündnisvertreter waren sich zumindest darin weitgehend einig, dass die Proteste auch deshalb klein geblieben sind, weil der Staat mit sozialen Maßnahmen vor allem die Menschen ruhiggestellt hat, deren Arbeitskraft noch verwertbar ist.
Die sogenannten Überflüssigen, die Armen, aber werden auch von linken Aufrufen nicht mehr erreicht. Dann wird von linken Bewegungsaktivisten oft gesagt, man müsse noch besser mobilisieren, noch verständlichere Aufrufe verteilen, um die Betroffenen zu erreichen.
Dem stellte Harald Rein die provokante Frage entgegen, warum die Armen denn auf die Straße gehen sollten, wenn linke Bewegungsaktivisten die Zeit für gegeben halten. Er erinnerte an die Proteste gegen Hartz IV vor fast 20 Jahren, die im Sommer 2004 begannen. Die Linke war noch in der Sommerpause und hatte die Aktion "Agenturschluss" erst für den Herbst vorbereitet.
"Den Rechten nicht die Straße überlassen"
Rein hinterfragte auch die Motive der unterschiedlichen Protestbündnisse für die Aufrufe, gegen Inflation auf die Straße zu gehen. Da habe vor allem die Überlegung mitgespielt, dass man den Rechten nicht die Straße überlassen dürfe und ihnen daher mit eigenen Aufrufen zuvorkommen müsse.
Die Frage, wie man mit den Rechten umgehen soll, war auch bei der Veranstaltung immer wieder ein Thema. So sagte ein Mann aus dem Publikum dass der heiße Herbst zumindest in Ostdeutschland nicht ausgefallen sei und dort vor allem in kleineren Städten Tausende auf die Straße gegangen seien. Dabei aber blendete er aus, dass diese Treffen so spontan nicht waren. Schließlich würde dafür nicht selten über rechtsoffene oder offen rechten Telegramkanäle mobilisiert.
Können sie ohne Weiteres als "Sozialproteste" verbucht werden? Waren es nicht vielmehr nationalistische Proteste für den Standort Deutschland, wie der Journalist und Gewerkschaftler Stefan Dietl in der Jungle World schreibt. Darüber hätte sich eine ausführlichere Diskussion ebenso gelohnt, wie über die Frage, ob die Angst vor der Inflation vor allen arme Menschen überhaupt so stark mobilisiert.
Harald Rein erinnert daran, dass arme Menschen Überlebensstrategien im Alltag entwickelt haben, die durchaus nicht im Rahmen der bürgerlichen Legalität bleiben. Das reicht von sogenannten illegalen Beschäftigungsverhältnissen bis zu "Formen der Aneignung", die ein Mann aus dem Publikum so formulierte.
Er selbst habe einen Freund mit wenig Geld einen Flyer zu Protesten gegen hohe Inflation in die Hand gedrückt. Der habe gefragt, was das mit ihm zu tun habe. Auf die Gegenfrage, ob er die Inflation nicht spüre, wenn er einkaufen geht, habe er geantwortet: "Nein, ich klaue Sachen, die zu teuer sind". Diese Überlebensstrategie von Armen im Kapitalismus korrespondiert mit der Kampagne "Wir zahlen nicht", die Aktiven von Perspektive Selbstverwaltung vorstellen. Dabei geht es um ein kollektives öffentliches Bekenntnis, Strom und Gas nicht mehr zu bezahlen, weil sie zu den Grundbedürfnissen zählen.
Die Strategie der organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter besteht hingegen darin, den Preis der Ware Arbeitskraft, die sie verkaufen müssen, möglichst hoch zu setzen. Das bedeutet, dass der Lohnzuwachs zumindest nicht niedriger als die Inflationsrate sein sollte. Darum geht es im Kern bei den aktuellen Tarifrunden verschiedener Branchen.
Die Gewerkschaften fordern zweistellige Lohnerhöhungen, das Kapital will das verhindern. Es könnte daher dieses Mal zu Arbeitskämpfen kommen, die Warnstreiks der letzten Tage sind da ein Vorgeschmack. Iris Schwendtner von "Genug ist Genug" sieht in diesen Tarifkämpfen die Fortsetzung der Krisenproteste und ruft zu außerbetrieblicher Unterstützung auf. Die kann sehr unterschiedlich aussehen.
So haben sich Klimaaktivisten mit den Streik des Flughafenpersonals solidarisiert, der einen ihrer Wunschträume wahrgemacht hat. Alle Flugzeuge mussten am Boden bleiben. Das machte auch wesentlich aus Kleinbürgertum stammenden Aktivisten der Klimabewegung deutlich, dass die immer wieder totgesagte Arbeiterklasse doch mehr Einfluss hat, als beispielsweise der Klimaaktivist denkt, der im Film "Der laute Frühling" von Johanna Schellhagen sagt, er wisse nicht, warum die Arbeiter mehr zur Lösung der Klimakrise beitragen können, als etwa die Beatles-Fans.
Das könnte Thema einer kommenden Diskussionsveranstaltung sein, die für Anfang Mai terminiert ist. Für die Diskussion am Freitagabend wäre interessant gewesen, die verschiedenen Umverteilungskämpfe und "Formen der Aneignung" – vom individuellen Klauen über das kollektive "Wir zahlen nicht" bis zum Arbeitskampf um mehr Lohn – zu diskutieren und zu fragen, wie eine gemeinsame Strategie entwickelt werden kann.
Das wären Themen für Diskussionen in kleiner Runde gewesen, die an die Auftaktveranstaltung anknüpfen hätten können. So aber bleib es bei der gemeinsamen Formulierung der Probleme.
"Wie hältst Du es mit der Friedensdemo am 25. Februar?"
Obwohl es bei der Diskussion am Freitagabend um die Krisenproteste ging, konnte natürlich der Krieg in der Ukraine nicht ausgespart werden. Eine kleine Gruppe sprach sich im Publikum für die bedingungslose Solidarität mit der Ukraine aus. Von den Gruppe auf dem Podium zog nur "Heizung Brot und Frieden" eine Verbindung zwischen diesem Krieg und der Inflation sowie der Energiekrise.
Ein Aktiver des Bündnisses "Der Preis ist heiß" widersprach dem und nannte es die Lesart der Regierung, die kapitalistischen Krisenerscheinungen mit den Krieg Russlands zu verbinden. Damit werde verschwiegen, dass Krise und Inflation zum Kapitalismus gehörten. Auch das wäre ein Thema für eine interessante Diskussion gewesen.
Ebenso die Frage, ob der von der taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann propagierte Krisen-Keynsianismus, für den sie Großbritannien während des Zweitens Weltkriegs zum Vorbild nimmt, ein emanzipatorischer Ausweg aus der Krise sein kann, wie es ein Diskussionsteilnehmer vorschlug.
Doch gestritten wurde eher über eine Kundgebung, die vom Kreis der Initiatorinnen des Friedensmanifests um Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht für den kommenden Samstag am Brandenburger Tor in Berlin angemeldet wurde. Während Heizung, Brot und Frieden die Kundgebung unterstützt und Rechte heraushalten will, sprachen sich Schwendtner und die Aktiven von "Genug ist genug" dafür aus, die Aktion zu ignorieren.
Aus dem Publikum aber kamen Aufrufe, sich an Gegendemos zu beteiligen, weil eine klare Abgrenzung nach rechts vermisst wird. Tatsächlich steht diese Kundgebung in der Tradition der deutschen Friedensbewegung der 1980er-Jahre, bei der linke Kritiker wie Wolfgang Pohrt schon damals eine Abgrenzung nach rechts vermissten.
Die deutsche Brille wird nicht abgesetzt
Die geplante Kundgebung aber hat mit der Diskussionsveranstaltung eines gemeinsam. Die deutsche Brille wird nicht abgesetzt. Niemand ging in der Diskussion auf die Welle von Streiks und sozialen Kämpfen ein, die in den Nachbarländern von Frankreich über Großbritannien bis nach Portugal aktuell stattfinden. Am Infostand von "Der Preis ist heiß" gab es dazu zumindest Informationen. So zeigte die Diskussionsveranstaltung auch den Stand der sehr unterschiedlichen linken Gruppen und ihre Probleme, bei den Krisenprotesten eine gesellschaftliche Kraft zu werden.