Sprachlabor in utero
Der Lauschangriff beginnt bereits im Mutterleib
Etwa ab dem vierten Schwangerschaftsmonat nimmt das Ungeborene akustische Reize wahr. Und zwar nicht nur das Rauschen der mütterlichen Aorta. Auch ratternde Züge, Hundebellen, niesende Nachbarn und der Gong der Tagesschau finden ihren Weg durchs Fruchtwasser. Die intrauterine Geräuschkulisse ist eine gefilterte Melange aus Sprach-, Musik- und sonstigen Geräuschfetzen, die dem Fötus mit der Zeit so vertraut wird, dass sie ihn auch nach der Geburt noch ungemein beruhigt. Jedenfalls gibt es eine ganze Reihe von CDs, die weinende Babys mit intrauterinen Geräuschen berieseln und zumindest in den ersten Wochen einschläfernd wirken.
Geprägt wird das pränatale Klangerlebnis vor allem durch die Stimme der Mutter, die im Gegensatz zu all den anderen Geräuschen fast unverzerrt und ungefiltert durchdringt. Das Ohr wird zwar bereits in der dritten Schwangerschaftswoche gebildet, doch erst in der 16. Woche ist es funktionsfähig. Aktiv horchen kann das Ungeborene etwa ab der 24. Schwangerschaftswoche, sobald die Cochlea voll ausgebildet ist - also jenes schneckenförmige Organ im Innenohr, das für die Interpretation von Geräuschen unentbehrlich ist. Spätestens dann ist es soweit: der Uterus verwandelt sich in ein kompaktes Sprachlabor. Zuhörenkönnen ist nämlich eine elementare Voraussetzung fürs Sprechenlernen, wie man nicht zuletzt aus der Gehörlosenforschung weiß.
Während unter Musiktherapeuten, Sprachtrainern und Entwicklungspsychologen der Einfluss pränataler akustischer Reize auf die Sprachentwicklung des Kindes weitgehend anerkannt ist, versteht sich eine aktuelle Studie aus den USA, die mit Kleinkindern arbeitet, als Novum: Forscher der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, haben eine Studie vorgestellt, die ihrer Meinung nach darauf hindeutet, dass das Ohr beim Spracherwerb eine größere Rolle spielt als bislang angenommen.(vgl.Von Primaten und Robotern)
Klingt banal, könnte aber weitreichende Folgen haben. Anders ausgedrückt heißt das nämlich: Möglicherweise ist akustisch erworbenes Wissen - und nicht etwa die Vererbung - ausschlaggebend beim Erstspracherwerb. Wäre tatsächlich das Erlernte ausschlaggebend, könnte das den alten Streit zwischen Empiristen und Rationalisten neu entfachen.
Konkret hat Rebecca Gomez, Psychologin an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, untersucht, wie 18 Monate alte Kinder auf grammatikalische Äußerungen einerseits und regelwidrige andererseits reagieren. Um Ähnlichkeiten mit lebenden Sprachen zu vermeiden, benutzte sie in ihren Versuchen eine einfache Kunstsprache, die aus Wörtern wie "pel", "wadim" und "jic" besteht.
Bei der Versuchsanordnung saßen die Kinder auf dem Schoß eines Elternteils, links und rechts befand sich jeweils eine Testperson. Zunächst wurden die Kinder Zeuge einer wohlgeordneten Kommunikation, bei der die Test-Sprecher Drei-Wort-Phrasen nach einem vorgegebenen Schema austauschten: war das erste Wort "pel", so war das dritte Wort immer "jic". War das erste Wort "vot", so tauchte als drittes Wort immer "rud" auf. An zweiter Position kam ein anderes Set von Wörtern zum Einsatz.
Nach einer Lernphase, in der stets regelkonform kommuniziert wurde, äußerten die Sprecher zwischendurch auch "ungrammatikalische" Sätze. Wie zu erwarten war, schenkten die Kinder diesen abweichenden Äußerungen mehr Aufmerksamkeit als den voraussagbaren. Allerdings zeigte sich auch, dass die Menge der Variationsmöglichkeiten durchaus eine Rolle spielt: Kam in der Mittelposition nur eine kleine Auswahl von Wörtern zum Einsatz, machten die Kinder keinen großen Unterschied zwischen "grammatikalisch korrekt" und "ungrammatikalisch". Kam dagegen ein größerer Wortschatz zum Einsatz, achteten die Kinder mehr auf den Zusammenhang von erstem und drittem Wort.
Für Gomez war das ein wichtiger Versuch, "denn er zeigt, dass Kinder nicht nur über verschiedene Lernstrategien verfügen, sondern auch, dass sie die Strategie wechseln können, wenn die ursprüngliche nicht mehr optimal ist." Vom Ergebnis ist sie nicht überrascht: "Wir haben schon immer gewusst, dass manche Aspekte der Sprache nicht vorprogrammiert sind, sondern erlernt werden müssen - schließlich gibt es auch Unterschiede in Einzelsprachen."
Mit dieser einerseits-andererseits Position scheint Rebecca Gomez Grabenkämpfen zwischen Empiristen und Rationalisten von vornherein aus dem Weg gehen zu wollen - beziehungsweise werden die jeweiligen Positionen in der Sprachwissenschaft seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Etikett Behaviorismus vs. Nativismus verhandelt. Allerdings deutet die Pressemitteilung an, dass sich mit dieser Untersuchung der Trend zur Favorisierung von so genannten nativistischen Ansätzen allmählich umkehren könnte.
Grob gesagt gehen Behavioristen davon aus, dass es einzig auf Input, Erfahrung und Lernen ankommt. Demnach wird der Mensch als unbeschriebenes Blatt geboren, lediglich mit grundsätzlichen kognitiven Fähigkeiten ausgestattet. Lernprozesse wie der Spracherwerb sind ein ewiges Trial-und-Error-Spiel. Bekanntester Vertreter dieser Richtung ist der Verhaltensforscher Burrhus Frederic Skinner, der 1957 das Buch "Verbal Behavior" publizierte.
Nativisten wie Skinners schärfster Gegner Noam Chomsky dagegen nehmen an, dass der Mensch mit einem Spracherwerbsmechanismus auf die Welt kommt. Jedes Kind ist mit einer so genannten Universalgrammatik ausgestattet sowie mit kognitiven Fähigkeiten. Beim Spracherwerb bildet das Kind fortwährend Hypothesen über die grammatische Struktur der gehörten Sätze, leitet Voraussagen von ihnen ab und überprüft diese an neuen Sätzen. Nur so sei erklärbar, wie Kinder innerhalb kürzester Zeit auf der Basis von bruchstückhaftem Input zu kompetenten Sprechern werden. (Nativisten werden auch Mentalisten genannt, weil sie unter anderem davon ausgehen, dass es kein Denken ohne Sprache gibt, wobei diese "Denksprache" auch als "Mentalesisch" bezeichnet wird.)
Ein gemäßigter Vertreter des Behaviorismus ist zum Beispiel der Psychologe und Legasthenie-Experte Harry Chasty:
Die Qualität des Gehirns wird nicht allein von den Genen bestimmt. Das Umfeld kann die Struktur und Funktionsweise des Gehirns verbessern oder verschlechtern. Wenn wir von Umfeld sprechen, so meinen wir die physikalisch-chemische, physiologische, psychologische und soziale Umgebung. Der Mutterleib ist die erste Umgebung für das Kind, während die Familie und die Schule Lernumgebungen sind, die das Gehirn bekanntermaßen erheblich beeinflussen. Es ist durchaus denkbar, dass Abweichungen in der Struktur und Funktionsweise des Gehirns weniger durch defekte Gene als vielmehr durch negative Einflüsse der Umgebung auf das Gehirn verursacht werden.
Quelle
Einer der gegenwärtig populärsten Vertreter des Nativismus ist der Neurolinguist Steven Pinker, der noch weit über seinen Lehrer Chomsky hinaus geht. Pinker postuliert einen angeborenen Sprachinstinkt 1, der sich im Laufe der Evolution als Überlebensvorteil des Menschen herausgebildet hat und träumt davon, jene Hirnregionen lokalisieren zu können, in denen spezifische sprachliche Prozesse wie etwa die Bildung von Nominalphrasen ablaufen.
Sobald man jedoch die Evolution ins Spiel bringt, lässt sich der Streit um die Grundlage des menschlichen Spracherwerbs kaum noch trennen vom Rätsel um den Ursprung der menschlichen Sprache als solche.(vgl.Agenten- und Robotergemeinschaften) Ein Rätsel, das sich bislang weder experimentell - man denke nur an das Tod bringende Experiment des Staufen-Kaisers Friedrich II., der herausfinden wollte, welche Sprache Neugeborene sprechen - noch philosophisch - siehe Herders Versuch über den Ursprung der Sprache - noch archäologisch - siehe die Diskussion über das Artikulationsvermögen des Neandertalers - lösen ließ.
Erst im Februar widmete die Zeitschrift "Bild der Wissenschaft" dem ,Siegeszug der Sprache" die Titelgeschichte. Der Autor hatte sich viel vorgenommen: Nichts weniger als die Antwort auf die Frage "Wie, wann und warum entstand unsere Sprachfähigkeit?" sollte gefunden werden. Am Ende freilich blieb es bei diversen Erklärungsver- suchen, und wer mag, kann sich die Debatte über den Ursprung der Sprache in einem eigens eingerichteten Forum ansehen, die wie eine Motte um die Frage "Was war zuerst da - Sprache oder Bewusstsein?" kreist.
Insofern sind Forscher wie Rebecca Gomez eindeutig im Vorteil: während sie die Nachkommen des Menschen wenigstens experimentell untersuchen können, laden die Vorfahren des Homo Sapiens umso mehr zu Spekulationen ein.