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Wir haben weder "Ghettos" noch "Parallelgesellschaften"

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Das Beherrschen der deutschen Sprache ist die Voraussetzung für den Arbeitsmarkt und wichtig zum Gelingen von Integration, stellt der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser in seinen neuen Buch "Sprache und Integration" fest. Telepolis sprach mit ihm.

Wer heute die Schule nur mit schlechten Sprachkenntnissen verlässt, der gewinnt einfach keinen Blumentopf auf dem Arbeitsmarkt. Und bei schlechten Sprachkenntnissen nützt auch ein hoher Bildungsstand in der Regel kaum etwas, so eine Feststellung in ihrem neuen Buch. Kommt man da um eine gezielte Sprachförderung einfach nicht mehr drum herum?

Hartmut Esser: Sicher, eine gezielte Sprachförderung ist sinnvoll und notwendig. Und das gerade im kommunikativen Bereich und insbesondere in den höheren Stellungen. Also gerade da, wo viel gesprochen wird. Da ist dann auch akzentfreies Sprechen wichtig. Es gibt aber bislang nur wenige Studien, die nach Bereichen differenzieren. Gezielte Sprachprogramme könnte man sich dann für ganz bestimmte Branchen vorstellen, und gerade bei Hochmotivierten sind sie sinnvoll.

Können Ihre Ergebnisse auch dahingehend gedreht werden, dass das Beherrschen der deutschen Sprache die Voraussetzung zur Integration, nicht aber nur ein Baustein dafür ist? Sie kommen ja mittlerweile auch zu dem Ergebnis, dass eine kulturelle Integration, worunter auch Zweitspracherwerb gehört, der strukturellen Integration vorgelagert ist, heißt: Wer die deutsche Sprache schlecht spricht, fasst kaum Fuß auf dem Arbeitsmarkt. Zur strukturellen Integration gehört aber auch der deutsche Pass. Lässt sich das also auch so auslegen, dass der deutsche Pass erst die Belohnung für bereits gelungene Integration ist, wozu heute auch ausreichende Deutschkenntnisse zählen?

Hartmut Esser: Also das mit dem deutschen Pass als "Belohnung" der gelungenen Integration halte ich für absoluten Unfug. Damit zäumt man das Pferd gerade von hinten auf. Das ist auch eine ganz andere Debatte. Der Pass wird dann als symbolische Prämie für etwas verstanden, wenn man sich nur wohl verhält, und das suggeriert letztendlich, dass man seine Chancen bereits hatte, aber sie sozusagen mutwillig nicht wahrgenommen hat. Das geht aber an der Sache vorbei. Und was sollen diese Staatsbürgerschaftstests?

Produktivität hat auf dem Arbeitsmarkt nichts mit einem Pass zu tun. Wenn man gut ist, dann wird man auf dem Arbeitsmarkt genommen, mit Ausnahme von Diskriminierungserscheinungen, die es sehr wohl gibt. Da schützt aber auch ein deutscher Pass nicht. Was wiederum stimmt ist, die Sprache muss ich zuerst können. Durch den Arbeitsplatz selber kann man die geforderten Akkulturationsleistungen kaum erwerben. Da sind Kontakte im Alltag und in der Schule viel wichtiger als Kontakte im Berufsleben.

Man hat die Schulprobleme der Migrantenkinder nicht gesehen

Aber es ist doch nicht klar, welche Sprache überhaupt am Arbeitsplatz gesprochen wird. Der Zusammenhang von Arbeitsmarkt und Spracherwerb wird in der Regel selten geprüft. Es könnte doch durchaus sein, dass der Arbeitsplatz "wirkt", wenn nur genügend Deutsch am Arbeitsplatz gesprochen wird. Das tut es aber vielfach nicht...

Hartmut Esser: Das will ich nicht abstreiten. Gerade die türkischen Migranten leben stärker ethnisch konzentriert und auch stärker in ethnisch segmentierteren Märkten als andere Zuwanderer-Gruppen. Anzunehmen ist, dass sie Deutsch als Sprache an bestimmten Stellen gar nicht brauchen. Die Sprachumwelten werden aber in der Regel in Studien nicht erfasst. Und viele Studien, gerade die linguistischen, enthalten nicht einmal die entsprechenden Kontrollvariablen.

Es lässt sich aber dennoch eine Richtung erkennen: Der Arbeitsmarkt hat, wenn überhaupt, kaum eine Auswirkung auf den L2-Erwerb, also auf die Sprachkenntnisse des Aufnahmelandes. Ich habe früher die gegenteilige These vertreten, dass der Arbeitsmarkt motiviert und darüber die Akkulturation befördert. Das scheint aber nicht so zu sein. Ich will aber dennoch keineswegs ausschließen, dass der Arbeitsplatz die Sprachkenntnisse verbessern könnte. Aber Sie sehen mir da zu sehr auf einen Nebenaspekt.

Fakt ist, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt für die Arbeitnehmer schlichtweg zu spät ist. In der Regel gilt: Je älter man wird, bzw. je höher das Einreisealter und je stärker die Einbindung in die eigene ethnische Gruppe sind, desto schwieriger lernen Migranten die deutsche Sprache noch. Und gerade wenn die Eltern kaum oder kein Deutsch sprechen, wirkt sich das auf den so genannten "L2-Erwerb" ihrer Kinder aus.

Hat man es Ihrer Meinung nach einfach jahrzehntelang verpasst, da anzusetzen, überhaupt eine angemessene Integrationspolitik zu betreiben? Selbst die Integrationsforschung setzte zu dieser Problematik ja erst in den späten 70ern ein...

Hartmut Esser: Man hat es auf jeden Fall verpasst, das Problem im Bildungs- und im Vorschulbereich zu sehen. Da ist die Politik zwar mittlerweile aufgewacht, inwieweit das aber bloße Rhetorik ist, muss man abwarten. Ich habe meine erste Studie - die erste Studie, die es zu diesem Bereich überhaupt gab - 1979 durchgeführt. Und im Grunde kamen auch schon andere Forschungsergebnisse damals zu den heutigen Ergebnissen. Man kann also nicht sagen, dass die Probleme nicht schon zuvor bekannt gewesen wären.

Man hat nur nicht reagiert...

Hartmut Esser: Man hat vor allem jahrzehntelang die Integrationsproblematik gerade von konservativer Seite her tot geschwiegen.

Man glaubte ja, dass die angeworbenen "Gastarbeiter" eh wieder in ihre Heimat zurückkehren...

Hartmut Esser: Das ist das Eine. Das Andere ist, dass man die Schulprobleme der Migrantenkinder nicht gesehen hat, und schon gar nicht, dass man das schon hätte im Vorschulbereich lösen sollen. Hinzu kommt noch eine falsch verstandene Multikulturalismuspolitik, die vor allem die Grünen zu verantworten haben.

Was meinen Sie?

Hartmut Esser: Ich meine die jahrelangen Fehlinvestitionen in alle möglichen "Programme" und "Modellversuche" der "multikulturellen" Gesellschaft und muttersprachlichen Förderung. Die Maßnahmen schaden zwar nicht, sie nützen aber auch nichts.

Frühkindliche Zweitsprachförderung: Das läuft wie am Schnürchen

Das schreiben Sie ja auch in Ihrem Buch: Eine kompetente Bilingualität gibt es nur, wenn beide Sprachen beherrscht werden. Da aber die meisten Bedingungen von Zweitsprachenerwerb und einer Beibehaltung der Muttersprache gegenläufig sind, findet der Erstspracherhalt in der Regel auf Kosten von Zweitspracherwerb und umgekehrt statt. Fehlt es aber bislang nicht an systematischen empirischen Studien zur kompetenten Bilingualität?

Hartmut Esser: Nein, zu den Bedingungen des Erwerbs einer kompetenten Beherrschung von zwei Sprachen gibt es schon Studien und die zeigen, dass, wenn die Zweitsprache gut beherrscht wird, die Neigung zur Beibehaltung der Muttersprache, der L1 also, mit der zunehmenden sonstigen Akkulturation in der Tat schwächer wird. Beibehalten wird die Muttersprache vor allem dann, wenn das Einreisealter und die Einbettung in die ethnische Gruppe hoch sind.

Auch gibt es gelegentlich eine Art von "reaktiver L1-Resilienz", speziell bei gut ausgebildeten Migranten mit Problemen auf dem Arbeitsmarkt. Diese L1-Resilienz hängt offensichtlich mit den besonderen Identitätproblemen gerade der besser Gebildeten zusammen. Wenn sie keine beruflichen Positionen finden und eine intensive Statuskonsistenz erleben müssen, dann kompensieren sie das durch die Hochwertung ihres einzig verbliebenen kulturellen Kapitals, der Muttersprache. Beibehalten wird die Muttersprache also gerade dann, wenn die Bildung hoch ist und der Status niedrig.

Das Erleben eines sozialen Aufstiegs führt hingegen wiederum zum offenbaren Wechsel zur Landessprache, das auch in den Familieninteraktionen. Das Problem der kompetenten Bilingualität entsteht aber schon deutlich früher. Darum müssen die Investitionen für Integration auf jeden Fall in Richtung frühkindliche Zweitsprachförderung gehen. Eine Kollegin von mir, Frau Tracy, erforscht gerade die Prozesse des frühkindlichen Zweitspracherwerbs und ich sage ihnen: Das läuft wie am Schnürchen. Die Kinder lernen wie die Teufel. Schon nach wenigen Monaten haben sie keine besonderen Probleme mehr mit der deutschen Sprache, und das selbst, wenn sie vorher noch nie ein deutsches Wort gehört haben. Die Zweitsprache in einem solchen Alter zu fördern ist offenbar viel effektiver als mit unwirksamen späteren Reparaturversuchen wie diesen Zwangsintegrationskursen oder mit Sanktionen zu drohen.

Stark binnenethnische Netzwerke der Türken: vergleichsweise wenig Informationen über interessante offene Stellen

Ist gerade das nicht kontraproduktiv, wenn Migranten dadurch Diskriminierungen erleben? Die Soziologin Anja Steinbach unterstreicht in ihrem Werk "Soziale Distanz", dass gerade Diskriminierungswahrnehmungen den Erwerb der deutschen Sprache schon früh behindern.

Hartmut Esser: Das kann ich nur unterstreichen. Es ist aber mit Blick auf den Arbeitsmarkt noch etwas komplizierter: Zuerst gibt es dort ethnische Unterschiede. Gerade die Türken sind benachteiligt. Bei statistischer Kontrolle des Generationstatus und der Bildung gibt es dann aber keine ethnischen Unterschiede mehr, außer eben bei den Türken - offenbar sind aber auch gerade interethnische Kontakte und Beziehungen für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt wichtig. Wenn man Leute mit Kontakten nach außen nämlich nicht kennt, kommt man auch an etwaige Informationen nicht ran. Soll heißen: Gerade die Türken in Deutschland haben mit stark binnenethnischen Netzwerken vergleichsweise wenig Informationen über interessante offene Stellen.

Hinzu kommen natürlich noch jene durchaus möglichen und wohl auch vorkommenden Diskriminierungen im Vorfeld, von denen sie gerade sprachen. Die werden auch wichtig bei der Aufnahme interethnischer Beziehungen. Ich würde in diesem Bereich daher eher das Problem sehen und nicht so sehr bei Diskriminierungen von Seiten der Arbeitgeber. Normalerweise begrenzen kompetitive Arbeitsmärkte Diskriminierungen, weil dort vorwiegend die wirkliche Produktivität zählt. Das mag anders sein, wenn es ein Überangebot an Bewerbern gibt wie im Bereich der Lehrstellen, und hier scheinen in der Tat einige Probleme zu liegen.

Da meinen sie wohl die schwierige Situation von ausländischen Jugendlichen auf dem Lehrstellenmarkt, das kann man ja in den jährlichen Berufsbildungsberichten und auch in diesem Jahr von der KMK vorgestellten Bericht "Bildung in Deutschland" nachlesen. Gleichwohl haben sich aber auch das Bildungsniveau und die Sprachkenntnisse im Generationenvergleich verbessert, wenn auch Migranten überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Es langt eben trotzdem nicht, weil auch die Anforderungen stetig gestiegen sind. Warum werden ihrer Meinung nach aber meist nur jene Defizite, kaum aber etwaige Erfolge im Integrationsdiskurs benannt?

Hartmut Esser: Weil es etwas kompliziert ist zu sagen: Es gibt zwar weiterhin Nachteile, aber es gibt auch Angleichungen und die verlaufen sozusagen plangemäß. Sogar die Situation für die Türken hat sich verbessert, wenn man sich den Bereich Bildung und ihr kulturelles Kapital anschaut. Und es gibt auch im internationalen Vergleich für Deutschland keinerlei Hinweise darauf, dass es hier anders läuft als in anderen Ländern, nämlich, dass die Situation, wie überall und immer schon, im Generationenverlauf in aller Regel sprunghaft besser wird. Und das ist dann auch bei den Türken so, wenn auch ihre Situation vergleichsweise immer noch schlechter ist, was wohl auch mit der für sie stärker ausgeprägten ethnischen Binnenintegration zusammenhängt.

Wir haben weder "Ghettos" noch "Parallelgesellschaften"

Malt man gerade damit nicht den Teufel an die Wand? Der stärkere Rückzug in die Eigengruppe ist doch gerade unter einer angespannten ökonomischen Situation und unter globalem Wettbewerb etwas ganz normales. Auch finden sich negative Auswirkungen von ethnischer Konzentration auf den Spracherwerb in den USA mit einer assimilationistischen Politik genauso wie in Kanada mit einer Politik des Multilingualismus...

Hartmut Esser: Binnenintegration und ethnische Konzentrationen müssen natürlich nicht zwangsweise etwas Negatives sein. Gerade für deutsche Städte zeigt sich in Studien, dass ethnische Konzentrationen nicht nur einfach zu Abwehrreaktionen und negativen Einstellungen aufseiten der Einheimischen führen, es kommt gerade auch zu verstärkten interethnischen Kontakten, von denen dann auch ein positiver Effekt ausgehen kann.

In der Berichterstattung gelten dann aber ganze Stadtteile als nicht integrierte Parallelgesellschaften, weil es eben ethnische Konzentrationen und eine eigene ethnische Infrastruktur gibt. Das kann wiederum an zwei Dingen liegen: Entweder es ist eine stationäre Bevölkerung oder eben ein Durchlaufquartier für immer wieder neu einreisende Migranten der ersten Generation bei gleichzeitiger Absorption der zweiten und dritten Generation in die Aufnahmegesellschaft.

Was tatsächlich vorliegt weiß man nicht und die Stadtsoziologie hat das bislang kaum erforscht. Vergleicht man die Situation hierzulande aber mit anderswo, etwa mit England oder den USA, ist die Situation in Deutschland jedenfalls wesentlich besser. Wir haben weder "Ghettos" noch "Parallelgesellschaften" und das Problem wird, warum auch immer, schlimmer gemacht als es ist.

Aber auch wenn sich die Situation sogar für den Bereich segregiertes Wohnen verbessert hat und sich auch die Sprachkompetenzen verbessert haben, werden diese Unterschiede, die es ja dennoch gibt, gerade auch dafür benutzt, um das "Andere" zu konstruieren, um einen Ausschluss von Migranten gerade erst zu rechtfertigen...

Hartmut Esser: Das ist eine viel zu pauschale und auch so nicht belegte Vermutung. Die Grenzziehung von Eigen- und Fremdgruppe ist eine universale und "normale" Reaktion und verliert sich mit der Normalisierung des Alltags und einer gelingenden Integration. Das man das allgemein bewusst einsetzt, um einen Ausschluss zu rechtfertigen, das glaube ich nicht, denn: warum sollte man?

Wer schlecht spricht, hat es einfach nicht anders gewollt?

Ich merke das in meiner Arbeit als Dozent mit Migranten und Leuten deutscher Herkunft sehr wohl, dass sich gerade der doch sehr unsoziologisch etablierte Begriff der "Integrationswilligkeit" an guten deutschen Sprachkenntnissen festmacht. Wer schlecht spricht, hat es einfach nicht anders gewollt. Die Akkulturation und auch die Identifikation mit dem hiesigen Wertesystem sind dann die Voraussetzungen, nicht aber der deutsche Pass die Eintrittskarte zur Mehrheitsgesellschaft. Deutscher oder Deutsche zu werden, das muss man sich erst einmal verdienen...

Hartmut Esser: Ja nun gut, es wird viel Unfug erzählt. Wissenschaftlich belegbar ist das jedenfalls nicht, dass sich dadurch ein Ausschluss rechtfertigen ließe...

...es ist ja auch bislang nicht klar, ob die Vergabe des deutschen Passes sich positiv auf den Zweispracherwerb auswirkt, auch wenn die bereits Eingebürgerten stärker akkulturiert sind und in der Regel auch die besseren Sprachkenntnisse haben...

Hartmut Esser: Das ist zwar so, ich glaube jedoch nicht, dass der Akt der Einbürgerung an sich etwas bewirken könnte. Es ist lediglich ein "Korrelat".

Doch die Passvergabe ist auch etwas Symbolisches. Der deutsche Pass steht dafür, dass man nun rein rechtlich und darum "offiziell" dazugehört. Und wer sich zugehörig fühlt wird auch tendenziell motivierter sein. Gerade Migranten in gehobeneren Stellungen beherrschen die Zweitsprache besser als andere, weil sie auch motiviert sind...

Hartmut Esser: Das stimmt, wenn man die Bildung als Indikator für eine höhere Motivation nimmt. Und wenn es sich nicht zu lohnen scheint, dann lernt man die Zweitsprache selbst unter günstigen Bedingungen weniger. Das wirkt sich dann auch auf das Einkommen aus.

Hartmut Esser: Sprache und Integration, Campus-Verlag, 2006