Spüren Mücken Schmerz, wenn wir sie erschlagen?

Christoph Jehle
Biene mit verbranntem Fühler und Lötkolben

Lange galten Insekten als schmerzunempfindlich. Doch neue Forschungen stellen diese Annahme infrage. Was bedeutet das für den nächsten Mückenschlag?

Der Anlass, sich dem Thema Schmerzempfinden von Insekten näher zu widmen, ist ein unerwarteter Nebeneffekt des Brexits. Denn es war eine der merkwürdigsten Folgen des Brexits, dass das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der Europäischen Union im Jahr 2020 Tiere nicht mehr als "fühlende Wesen" anerkannte.

Solange das Vereinigte Königreich ein EU-Mitgliedsstaat war, war es an europäische Gesetze gebunden, darunter den Vertrag von Lissabon, der sich auf das tierische Empfindungsvermögen bezog, um Tiere vor Empfindungen wie Schmerz, Hunger und Angst zu schützen.

Doch nach dem Brexit unterlag das Vereinigte Königreich diesem Vertrag nicht mehr und daher forderten verschiedene Interessengruppen ein neues britisches Gesetz, das dem Tierschutz Rechnung tragen sollte.

29 Tierärzte, die Rinder, Vögel, Fische, Hunde und andere Tiere behandelten, schickten einen Brief an den Daily Telegraph. "Wissenschaftliche Beweise belegen die Fähigkeit von Tieren verschiedener Arten, Gefühle zu haben", schrieben sie. "Wir haben für eine Gesetzgebung gekämpft, die den Staat verpflichtet, dies anzuerkennen."

Im Jahr 2021 brachte die britische Regierung dann einen Gesetzentwurf ein, der jedoch nur Wirbeltiere betraf. Doch damit schien das Problem nicht gelöst und so folgten weitere Proteste, denn 97 Prozent aller Tiere, wie Muscheln, Krabben oder Zikaden, sind wirbellos.

In dem Sachbuch "Rendezvous mit einem Oktopus" von Sy Montgomery besucht diese einen Oktopus und stellt fest, dass sich das Tier nicht nur an sie erinnerte und sie wieder erkannt hat, sondern dass es sie auch erneut berühren wollte.

Die britische Regierung bat in der Folge Jonathan Birch, einen Philosophen der London School of Economics, eine Untersuchung darüber zu leiten, welche Tiere als empfindungsfähig gelten sollten. Da Wissenschaftler ein Tier nicht nach seinen Gefühlen befragen können, untersuchten sie, ob dieses Tier ein komplexes Nervensystem hat und ob sein Verhalten darauf hindeutet, dass es Schmerzen oder andere Empfindungen empfindet.

Birchs Team entwickelte für ihre Untersuchung acht Kriterien für Empfindungsfähigkeit und sammelte Forschungsergebnisse darüber, ob verschiedene Arten diese Kriterien erfüllten. Das Team sorgte mit seinen Erkenntnissen schließlich dafür, die Regierung davon zu überzeugen, Kopffüßern wie Kraken und Tintenfischen sowie Zehnfußkrebsen, zu denen Krabben und Hummer gehören, Empfindungsfähigkeit zuzuerkennen.

Nachdem die britische Regierung den Animal Welfare (Sentience) Act 2022 verabschiedet hatte, kamen Jonathan Birch jedoch Zweifel, ob das Gesetz seinen Forschungsergebnissen ausreichend Rechnung trägt, denn das neue Gesetz erwähnte die Insekten, die am weitesten verbreiteten Tiere der Erde gar nicht.

Wenn man im Falle von Kraken bei der Erkenntnis angelangt ist, dass diese Tiere Schmerz empfinden können, muss man sich auch über andere Wirbellose Gedanken machen.

Wenn Insekten in das Blickfeld rücken

Insekten machen etwa vierzig Prozent aller lebenden Arten aus. Eine große Anzahl wird jährlich durch Insektizide und Pestizide getötet und viele Arten sind schon ausgestorben, da der Mensch ihren Lebensraum für Landwirtschaft, Industrie und Siedlungen benötigt hat.

Kaum jemand denkt über Insekten als Lebewesen nach und kümmert sich auch nicht um ihr Wohlergehen. Auch die einschlägigen Gesetze berücksichtigen den Lebensraum von Insekten praktisch nicht. Insekten sind klein, schreien nicht und bluten nicht rot und viele werden nur als Schädlinge betrachtet. Dass sie am Beginn vieler Nahrungsketten stehen, wird konsequent ausgeblendet.

An der Queen Mary University of London wurde seit geraumer Zeit am Verhalten von Hummeln geforscht. Wurden bei diesen Untersuchungen die Antennen einer Hummel verbrannt, rieb sie ihre Verletzungen. Auf Basis dieser Beobachtung kam ein erster Widerspruch gegen die geläufige Annahme auf, Insekten empfänden keine Schmerzen.

Da sich Insekten nicht in einer für den Menschen verständlichen Art und Weise artikulieren können, weder laut aufschreien noch leise jaulen, fällt es nicht leicht, zu ergründen, ob sie Schmerzen spüren.

Daher muss man dies über die Beobachtung des Verhaltens herausfinden. Dies wurde an der Queen Mary University in einer wissenschaftlichen Untersuchung durchgeführt. Die Zeitschrift Geo berichtete über diesen Versuchsaufbau:

Man teilte dazu 82 Dunkle Erdhummeln (Bombus terrestris) in drei etwa gleich große Gruppen. 30 Tiere wurden einzeln auf einem Schwamm fixiert, dann drückten die Forschenden einen 65 Grad Celsius heißen Lötkolben für fünf Sekunden auf eine ihrer Antennen. 28 weitere Hummeln mussten die gleiche Prozedur erdulden, allerdings mit kaltem Lötkolben. Die verbliebenen 24 Hummeln hatten Glück und fungierten als Kontrollgruppe. Zwei Minuten lang rieben die verletzten Hummeln ihre Antennen.

Die vorher markierten Hummeln wurden anschließend in eine Beobachtungsbox geleitet und 25 Minuten lang gefilmt. Eine Videoanalysesoftware wertete die Aufnahmen aus und zeigte: In den ersten zwei Minuten nach der Verbrennung rieben diejenigen Hummeln, die verletzt worden waren, ihre Antennen weitaus häufiger als die Hummeln der beiden anderen Gruppen.

In den folgenden 23 Minuten gab es keine signifikanten Unterschiede. Dieses Reiben, als wiederholte Hin- und Herbewegung eines Beins an der verletzten Stelle definiert, interpretierten die Forschenden als Schmerzreaktion.

Geo, 20.02.2024

Mit diesen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die bisherigen Überzeugungen hinsichtlich einer fehlenden Schmerzempfindlichkeit bei Insekten so nicht mehr haltbar sind. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist bislang noch offen. Möglicherweise muss die Anwendung von Insektiziden in der Landwirtschaft auf den Prüfstand.