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Städte brauchen Gefühl: Für eine Architektur mit Atmosphäre

Bild: Randy Tarampi / Unsplash

Schluss mit der Kälte: Gegen den derzeitigen, ungehinderten Zugriff der Immobilienwirtschaft auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist, muss etwas unternommen werden. Das geht uns alle an.

Unser Leben ist geprägt von überwölbenden, doch wenig erlebbaren Prozessen wie Globalisierung, Migration oder Klimawandel. Wir wissen darum, wir lesen fast jeden Tag etwas darüber – aber in unserer konkreten Lebenswelt scheinen sie fern, bleiben sie eher indirekt. Dennoch schlagen sich solche gesellschaftlichen Veränderungen irgendwie in der Gestalt und Nutzung von Räumen nieder.

Weshalb es nicht wundernimmt, dass in den aktuellen urbanistischen – und künstlerischen – Diskussionen immer wieder Marc Augés Nicht-Orte und Foucaults Raumtheorie reflektiert werden. Denn Kultur als Verhandlung auch von Räumen zu verstehen und Sinnstiftungsprozesse am Ort zu ermöglichen, ist von vitaler Bedeutung.

Dass es ein städtisches Wechselgefüge zwischen materieller Existenz und sozialem Konstrukt gibt, wird regelmäßig unterschätzt: Obgleich die gebaute und gestaltete Welt – die Straßenzüge und Infrastrukturen, Häuserfluchten, Grünflächen, Laubenkolonien usw. – die Verortung des Menschen in der Stadt prägen, erhält sein Raumbezug die volle Bedeutung erst durch eine kulturelle Aufladung.

Die Eigenlogik einer Stadt

Um die Präsenz einer Stadt zu erfassen, empfiehlt die Soziologin Martina Löw, von deren Eigenlogik zu sprechen: Als ein Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, wodurch sich Städte zu spezifischen Sinnprovinzen verdichten.

Diese Eigenlogik finde sich in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten wieder, indem man lernt, "Redeweisen von Besuchern und Bewohnern" z.B. eines Stadtteils zu erfassen, "Schriftquellen" zu rekonstruieren, "Stadtfeste" zu untersuchen, "Gegenstände der materiellen Kultur" eines Stadtteils (Wohnungen, Geschäfte, Treffpunkte, Kioske, Zeitungen, Wandnotizen usw.) zu erfassen und Nutzungen von Orten zu erkennen.

Und man würde begreifen, dass in städtischen Orten Spuren überlieferten, erinnerten, erfahrenen, geplanten oder fantasierten Handelns eingegraben seien, die man freilegen könne.

In der Praxis der Stadtentwicklung merkt man davon freilich wenig. Und auch die (bisherige) urbanistische Forschung fußt auf einem relativ einfachen Stadtbegriff, in dem die vielschichtigen Wechselverhältnisse von Kultur-, Gesellschafts- und Naturgeschichte kaum zum Tragen kommen.

Beispielsweise sagt ein Gebäude oder Ensemble noch nichts über seinen früheren Sinn- und Nutzungszusammenhang und noch viel weniger über die Bedeutung für den heutigen Betrachter und Benutzer.

Aus Kirchen werden Parkhäuser und Diskotheken, die Pyramiden wurden jahrhundertelang als Teppichlager benutzt. Dennoch ist die gebaute Stadt nicht beliebig lesbar und kann zugleich "an sich" nicht wahrgenommen werden.

Dafür und deshalb braucht es Vorstellungskraft. Sie führt gewissermaßen zu einer komplexen Ordnung, indem sie einerseits für das wirkliche Leben Orientierungspunkte bietet, und andererseits eine Reflexion realer Vorgänge darstellt.

Der Unsicherheit und Entfremdung etwas entgegenstellen

Inwieweit aber kann die gebaute Umwelt dazu beitragen, der Unsicherheit und Entfremdung des modernen Lebens etwas entgegenzustellen?

Unübersehbar gibt es ja eine latente Konfliktdimension zwischen Architektur und Benutzern. Was gleich die nächste Frage aufwirft: Die Suche nämlich nach einem verbindlichen Sinngehalt, der vom heutigen Planen-Bauen-Wohnen ausgeht und in die moderne Gesellschaft hineinwirkt.

Der Ansatz mit der Eigenlogik jedenfalls ist schon deswegen eine prima Sache, weil er einen neuen Zugang gewährt.

Zugleich gibt er jener dialektischen Beziehung einen sinnigen Rahmen, in der die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur Ausdruck des Sozialen, sondern auch des Physischen ist – und vice versa.

Städte sind nicht nur der Handlungsrahmen, innerhalb dessen man agiert, sondern diese Vorgänge konstituieren Wirklichkeit.

Dass eine lokale Biersorte in Köln sehr viel mehr stolze Identifikation herzustellen vermag als etwa in Frankfurt; dass die Love-Parade in Berlin anders funktioniert als in Dortmund oder Essen: Das sind Aspekte, die lebensweltlich durchschlagen, auch wenn man sie in der Planung der Stadt ignoriert.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Heute geht es kaum mehr darum, neue Städte zu bauen, sondern man steht vielmehr vor der Aufgabe, die bestehenden und von Menschen bewohnten Umwelten zu gestalten und neuen Gegebenheiten anzupassen.

Hin zum Lebensraum der Bewohner

Und auch deswegen gehören die bisherigen Planungswerkzeuge und Leitbilder auf den Prüfstand. Was es braucht, ist mindestens eine deutliche Akzentverschiebung: Weg von der Dominanz des Planungsraums des Architekten, hin zum Lebensraum der Bewohner.

Das adressiert aber auch eine neue Verantwortung bei uns allen. Eine mahnende Erinnerung an etwas, das wir erlernt haben (sollten) und das zu unserer kulturellen Kompetenz gehört: Sich selbst im Raum zu verorten.

Doch die Relation zwischen der Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums und dem Maßstab der urbanen Architektur ist durchaus herausfordernd. Zum einen nimmt der Mensch – aufgrund seiner Körperhaltung und der Adaptionszeit, die die Augen brauchen, um zwischen Fern- und Nahsicht zu wechseln – immer nur Ausschnitte wahr, was letztlich auch dazu führt, dass er aufgrund seiner unsystematischen Betrachtungsweise sich keine Fassaden merken kann.

Zum anderen konkurriert Architektur als unbewegte Konstante im Stadtraum mit einer Vielzahl von bewegten Reizen und bleibt deshalb in der Regel im Hintergrund. Aufmerksam wird man üblicherweise nur auf "Eyecatcher": D.h. besonders expressive oder auch störende Architektur.

Gleichwohl stellt sich – gerade unter den Bedingungen von marktgesteuerten urbanistischen Prozessen, von Migration und ökonomischen Umbrüchen – die Frage, ob und wo die Gestaltung der Städte das, was man Praktiken der Identitätserzeugung und -konservierung nennen kann, verlangt.

Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt: Es geht anders

Und wie sich diese Praktiken mit den heute ohnehin als heterogen anzunehmenden traditionalen Bezügen der Bewohner vermitteln. Wenn Stichworte wie Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt die zeitgenössische Stadtentwicklung kennzeichnen, scheint es überfällig, daran zu rütteln.

"Berlin in Abriss" hieß eine epochale Ausstellung, mit der vor vierzig Jahren an der Spree vehement eine neue Stadtwahrnehmung eingefordert wurde. Ihr Kurator Janos Frecot verwahrte sich gegen vornehmlich utilitaristische Betrachtungsweisen:

Dem steht das Bild der Stadt als Lebendiges, als Gestalt und Geflecht gegenüber. Wenn wir Leben nicht als Meßlatte für buchbare Erfolge, wenn wir Wissenschaft weder als Faktenakkumulierung noch als abgehobene Ideengeschichte, sondern als Teil des Geflechts aus Hoffnung, Angst und Traum erfahren haben, werden wir die Stadt als leibliche Gestalt erleben.

Janos Frecot

Damit wird etwas adressiert, was sich auch mit dem Begriff der Atmosphäre umschreiben ließe. Geht es doch um etwas, das sich im Zwischenraum von architektonischer Objektwelt (was aus dem Arrangement der Dinge strahlt) und subjektivem Raumerlebnis (dem Reflex von Stimmungen und Affekten) konstituiert.

In seinem – mittlerweile zum Klassiker avancierten – Buch Atmosphäre [1] hat der Philosoph Gernot Böhme festgehalten:

In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin.

Gernot Böhme

Die Atmosphäre ist auf eine unbestimmte Art in den Raum ergossen. Nachgegangen werden kann ihr nur, indem sie erfahren wird. Man muss sich ihr aussetzen und affektiv von ihr betroffen sein.

Um auf die Rolle der Architektur zurückzukommen: Abstrakte Schönheit und kühle Rationalität herzustellen, war, zumindest implizit, eine Absicht der klassischen Moderne; ein Vorsatz jedoch, der sich mit den Grundbedürfnissen des Menschen nicht recht zu vertragen scheint.

In der dünnen Höhenluft ästhetischer Sphären hält es der Normalbürger nicht lange aus. Atmosphäre ist schon deshalb ein zentraler Begriff, weil er diesbezüglich ein Defizit benennt. Denn es sind nicht ideale Proportionsverhältnisse wie der Goldene Schnitt und nicht der metrische, euklidische Raum, die den Menschen anrühren.

Es ist der Ort mit seinen Beziehungen und seiner Aura, der alle Sinne anspricht. Es ist die akustische Atmosphäre, die Stimmung des Lichts, der Farbe und der Materialien mit ihren sinnlichen Qualitäten, die zum Anfassen, Anfühlen animieren.

Ähnlich verhält es sich in der nächsthöheren Raumkategorie: Es heißt ja nicht zu Unrecht, die öffentlichen Räume formen das Gedächtnis der Stadt. Hinter dieser poetischen Formulierung verbirgt sich ein über die Jahrhunderte ausgebildetes westliches Stadtverständnis, das von der Prägekraft von Raumfiguren auf stadtgesellschaftliche Wirklichkeit ausgeht.

Wahr jedenfalls ist, dass in der Architektur die Fähigkeit zur Kooperation im Ensemble eine unabdingbare Voraussetzung für höhere Qualität darstellt. Und zwar nicht einfach nur im Sinne der umgebenden Bebauung, sondern im Sinne eines architektonischen Raums, der das menschliche Leben behaust.

Allerdings muss man sehen, dass Atmosphäre heute gerne auch anderweitig vereinnahmt wird: Nämlich als Grundbegriff des Entwerfens von postmodernen Gesamtkunstwerken, in denen Architektur mit anderen Disziplinen, etwa Szenografie oder Mediendesign, so verquickt wird, dass sie in die Konfektionierung von öffentlichen Raum-Bühnen einmünden.

Doch um die Propagierung solch‘ konsumstrategischer Ansätze ist es hier gerade nicht zu tun. Zumal sich – gerade in der Dimension städtischer Phänomene – Atmosphäre nur allmählich, über lange Prozesse aufbaut.

Was heißt das? Gegen den derzeitigen, ungehinderten Zugriff der Immobilienwirtschaft auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist, müssen sich erneut Stadtbürger etwa mit Kunsthistorikern und Architekten solidarisieren.

Dabei geht es um die Verteidigung örtlicher und räumlicher Spezifika, die sich nicht allein an vermeintlichen Schönheitskonstanten orientieren, sondern an dem, was Architekten lernen: An Identifikationsangeboten, die für keine Epoche zuvor gelten können, weil sich sozioökonomische oder auch technisch-naturwissenschaftliche Kontexte nie wiederholen.

Das ist kein ästhetisierendes oder akademisches Blabla, sondern ein existenzielles Thema.


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[1] https://www.suhrkamp.de/buch/gernot-boehme-atmosphaere-t-9783518126646