Standards in der Architektur
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- Normiertes Bauen bedeutet nicht den Tod der Individualität
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Von der Normalität zur Norm – und zurück?
Derzeit konfrontiert uns die Corona-Krise ja auch mit solchen Problemen: Welche Regeln braucht eine Gesellschaft, wenn sie das öffentliche Interesse wahren, das Zusammenleben erleichtern oder vor Gefahren schützen will? Welche sind überbordend oder erfüllen vor allem Partikularinteressen? Was sagt das Vorschriftenwesen eines Landes über dessen Gesellschaftsbild aus? Was für eine Architektur entsteht bei "auf Nummer sicher"? Das sind mitnichten kleinkrämerische Fragen, sondern grundlegend für die Gestaltung unserer Umwelt.
Es lohnt, einen Blick auf wesensverwandte Begriffe wie Standard, Durchschnitt, Berechenbarkeit, Normalität zu werfen. Wenn Wissenschaftler ihre Daten veröffentlichen, sind das typischerweise Durchschnittswerte - das Mittel, das X auf der Kurve oder eine bestimmte Größe im Balkendiagramm. Und zu diesen Werten gehört immer ein "Fehlerterm", der angibt, wie groß die Varianz um den Durchschnittswert herum war - und mithin auch, wie verlässlich dieser Wert ist. Wenn man einen Wert bei drei Personen misst und dabei die Zahlen 99, 100, 101 herauskommen, hat man einen Durchschnitt von 100. Lauten die Resultate 50, 100, 150, liegt der Durchschnitt ebenfalls bei 100. Aber der Nutzwert dieser Resultate ist höchst unterschiedlich; im ersten Fall wird eine wesentlich höhere Aussagekraft und Verbindlichkeit erzielt als im zweiten.
Aber uns Menschen interessieren ja Abweichungen ungleich mehr als der Durchschnitt. Es ist mäßig prickelnd, dass wir im Durchschnitt einen Intelligenzquotienten von 100 haben - neugierig machen uns die Ausnahmefälle. Wenn ein erwachsener Mann 100 Meter in durchschnittlich 25 Sekunden läuft, dreht sich niemand nach ihm um; es braucht einen Usain Bolt, damit wir hingucken. Auch die durchschnittliche Lebenserwartung schert uns wenig; relevant für uns ist, was das Schicksal mit uns selbst oder den uns Nahestehenden vorhat. Massendemonstrationen finden nicht wegen des Durchschnittseinkommens statt, sondern wenn die Ungleichheit zwischen Hoch- und Niedrigverdienern ein nicht mehr tragbares Maß erreicht.
Hinzu kommt: Im gesellschaftspolitischen Sinne ist "Norm" nicht mehr als eine fiktive Größe. Dies ist bedeutsam, weil wir dazu neigen, "Durchschnitt" mit "die Norm" zu übersetzen und dann mit "normal" oder "ideal". Infolgedessen wird das, was wir als normal oder ideal ansehen, immer außerhalb unserer Reichweite sein. Wir alle weichen von der Norm ab, von einem Wert, der letztlich ein künstliches, statistisches Konstrukt ist, welches nicht wirklich existiert.
Nun gelten freilich in der Sphäre des Menschlichen andere Regeln als im technischen Bereich. Und damit kommen wir zur Frage der Gestaltung unserer (gebauten) Umwelt: Versuchen Sie einmal, einen Turm zu bauen, indem Sie unregelmäßig geformte Steine aufeinanderstapeln. Man nehme einigermaßen runde Steine von einem Flussufer. Ein zweijähriges Kind wird zwei Steine hoch bauen können; ein dreijähriges mit weiter entwickelter Hand-Augen-Koordination schafft drei. Es braucht Erfahrung, um bis zu acht Steinen zu kommen. Und nur mit enormer Geschicklichkeit und einer Menge von Trial-and-Error-Versuchen bringt man es auf mehr als zehn. Fingerfertigkeit, Geduld und Erfahrung stoßen irgendwann an Grenzen.
Machen Sie jetzt dasselbe Experiment mit Lego-Bausteinen. Sie können viel höher bauen - und wichtiger noch: Ihr Dreijähriger kann ebenso hoch bauen wie Sie. Warum? Dank Normierung. Die Stabilität resultiert aus der standardisierten Geometrie der Einzelteile. Der Vorteil, den die Geschicklichkeit verschafft, schrumpft gewaltig. Die Geometrie der Lego-Klötze korrigiert die Ungenauigkeiten der Hand. Aber strukturelle Stabilität ist bei weitem nicht der größte Bonus der Normierung. Der Gewinn, den die Zusammenarbeit unter Menschen daraus zieht, ist ungleich bedeutsamer.
Von der Norm zur Globalisierung
Im Jahr 1956 erfand der Amerikaner Malcom McLean den standardisierten Frachtcontainer - sozusagen den Legostein der globalen Logistik. Die Transportkosten für internationale Gütertransporte sanken auf einen Schlag um 90 Prozent. Nicht nur das. Weil nun schneller verladen werden konnte, reduzierten sich auch die in der Fracht gebundenen Kapitalkosten. Globalisierung ohne den normierten Frachtcontainer wäre undenkbar.
Wie gelangt man am besten zu optimalen Normen? Während die Spieltheorie hierzu einen reichen Erkenntnisfundus bietet, ist es in der realen Welt gar nicht so einfach, optimale Normen unter den einzelnen Akteuren zu vereinbaren. Aber die Vorteile, die selbst suboptimale Normen bringen, sind gewaltig, und die Anwendung eines nicht perfekten Normensystems ist dem Verzicht auf Koordination bei weitem vorzuziehen.
In letzter Zeit allerdings hat Normierung einen schlechten Ruf bekommen: der Euro, normierter Schulstoff, standardisierte Prüfungen (und damit die Tendenz, für Tests und nicht für Wissen zu lernen), die undurchdachte QWERTZ-Tastatur. Suboptimale Standards scheinen sehr zählebig zu sein. Normierung behindere Kreativität, so heißt es, und sie reduziere die Vielfalt. Doch möglicherweise ist das nur ein Mythos, oder ein Vorurteil. Viele Menschen verkennen außerdem, dass Normierung in den meisten Fällen bottom-up entsteht, durch freiwillige, teilweise stillschweigende Übereinkommen der Akteure. Nur in den seltensten Fällen ist Normierung ein top-down Phänomen - wie beim Geld, dem obligatorischen Schulstoff oder dem militärischen Training.
Recht vollmundig hatte das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe 2017 angekündigt: "Die digitale Transformation hat das Bauen nachhaltig verändert. Waren Entwurf und Umsetzung ehemals voneinander getrennt, fallen sie nun mit dem Einsatz digitaler Tools zusammen. Zudem ermöglicht die Digitalisierung neue, auch künstlerische Perspektiven für die Architektur, wenn ihre Gestaltungsprinzipien auf Medienkunst treffen."
Gesprochen haben am 4. August im ZKM-Medientheater einschlägige - und als solche bekannte - Protagonisten: Hani Rashid von Asymptote, Patrik Schumacher von Zaha Hadid Architects sowie der amerikanische Architekt Greg Lynn. Aber ist das wirklich "state of the art"?
Berühmt ist die ‚Frankfurter Küche‘, die Margarete Schütte-Lihotzky nach tayloristischem Vorbild entworfen hat, basierend auf Messungen aller erdenklichen Arbeitsvorgänge. Auf gerade einmal sechs Quadratmetern war alles so angeordnet, dass eine durchschnittlich gewachsene Frau sämtliche Küchenarbeiten mit einem Minimum an Zeit- und Kraftaufwand erledigen konnte, aber eben auch nur Küchenarbeiten und nur die durchschnittlich gewachsene Frau.
Im Medium einer vermeintlich fortschrittlichen Programmatik, die Mühe und Last der Hausarbeit verringern wollte, wurde zugleich die Rolle der Frau als emsige Hausfrau festgeschrieben. Ein helfender Mann war in dieser Küche nicht vorgesehen, er hatte buchstäblich keinen Platz.
Ernst Neufert (1900-1986) hat dieses und andere Beispiele dann systematisiert. Wie kaum ein zweiter beförderte die deutsche Baunormung; seine "Bauentwurfslehre", 1936 erstmalig erschienen und mittlerweile in mehr als siebzig Sprachen übersetzt, avancierte weltweit zu dem Standardwerk schlechthin. Sie liest sich als Reduktion auf das Allerkonkreteste: den Platzbedarf des Menschen in verschiedensten Nutzungs- und Raumzusammenhängen.
Es mag ja sein, dass die Bemessungsgrundlagen standardisierter Grundrisse heute nicht mehr unserem gesellschaftlichen Selbstbild entsprechen. Aber effiziente Strukturen und qualifizierte Gebäude wünscht man sich noch immer. Was zeigt, dass die "heroische" Geschichte der modernen Architektur nicht von normativen Aspekten zu trennen ist.