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Slavoj Zizek kommentiert Microsoft und das Kommunistische Manifest

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Der Verlag Arkzin ist ein aus der Anti-Kriegsbewegung entstandenes Kollektiv von Autoren und Künstlern in Zagreb, der zum 150-jährigen Jubiläum der Erstpublikation das Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels in einer poppigen Fassung neu aufgelegt hat - als Broschüre und in einer Online-Fassung. Versehen wurde es mit einer Einleitung des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek: The Spectre is still roaming around, die auch als englischer Sonderdruck erhältlich ist.

Als Text, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verfaßt worden ist, kann das Kommunistische Manifest gegenwärtig noch als die Beschreibung einer Zeit gelesen werden, die bestimmte gesellschaftliche Funktionen, darunter die Kommunikation, für sich als Produktivkraft entdeckt hat. Marx und Engels beklagen, daß in diesem Prozeß persönliche Werte in Tauschwert aufgelöst werden, und sie stellen fest, daß die Ausbeutung immer subtilere Formen anzunehmen beginnt und die Geschwindigkeit alle Sozialbeziehungen mitbestimmt. Überdies erörtern siw, wie die ständige Revolutionierung der Produktionsinstrumente unter Auflösung fester gesellschaftlicher Verhältnisse mit der Globalisierung des Marktes zusammenspielt. Das Manifest diagnostiziert in den "unendlich verbesserten Kommunikationen" einen Schlüsselfaktor der modernen Wirtschaft, deren Vorstellung ungehinderten "allseitigen Verkehrs" immer wieder, zuletzt 1993 in Al Gores Forderung nach allgemeinen Information-Highways, auftaucht.

Bezogen auf die Realpolitik des zwanzigsten Jahrhunderts, so vermutet Zizek zunächst, könnte ein Durchschnittsleser heute das Manifest aufgrund vieler empirischer Tatsachen einfach für falsch halten, beziehungsweise für definitiv widerlegt durch die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte - allerdings scheint die gebotene Diagnose der kapitalistischen Realität mehr denn je auch auf unsere heutige Wirklichkeit zuzutreffen. Nun wäre sein Name nicht Zizek, würde er darin nicht eine "Lacansche Differenz" zwischen dem Realen und dem Reellen entziffern - oder der sozialen Wirklichkeit auf der einen Seite, die auf der anderen überlagert wird von der gespenstischen Logik des Kapitals. Letztere bedient sich der gesellschaftlichen Defizite, um die immer abstrakteren Formen eines jetzt schon "virtuellen Kapitalismus" durchzusetzen.

Damit wird allerdings nicht behauptet, daß diese Form des Kapitalismus eine weniger wirkliche wäre. Es wird nur gesagt, daß sich - entgegen der Karikatur des beleibten Kapitalisten mit seiner dicken Zigarre - das Bild des Kapitalismus in der Öffentlichkeit grundsätzlich geändert hat, und seine Kritiker es daher schwerer haben, seit ihnen der gute alte ödipale Herr abhanden kam. Der Kapitalismus konnte es sich leisten, Toleranz für eine ganze Reihe von Phänomenen zu entwickeln, die seine eigene Existenz früher allein schon auf der symbolischen Ebene bedroht hätten. Bestimmte kulturelle und auch sexuelle Repressionen sind also nicht mehr nötig. Und schließlich haben sich die Herrschaftsformen mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit in Richtung einer alles vereinnahmenden Kulturindustrie grundlegend verändert.

Dies wird von Zizek mit Bemerkungen zum öffentlichen Image von Bill Gates als einer Ikone des Erfolgs in unserer Gesellschaft illustriert. Jenseits des patriarchalen Herrn und Meisters, des aus einem James-Bond Film entsprungenen bösen Genies oder der Verkörperung einer Big Brother-Geschäftswelt beinhaltet die Bill Gates-Ikone lediglich den häßlichen Jungen von nebenan, der es geschafft hat - und das einfach als ein Opportunist, der die Gunst des Augenblicks zu nutzen verstand. Es wäre eine Illusion zu denken, daß die geschäftliche Macht tatsächlich in den Händen eines Individuums läge. Dies ist mehr schon ein Effekt der Medien, welche die berühmte Marxsche Formel umkehren: im gegenwärtigen Kapitalismus nehmen die objektiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen Dingen die phantasmagorische Form pseudo-personalisierter Beziehungen zwischen Menschen an.

Die hier folgende Diagnose einer Politisierung der Ökonomie mit dem Ausblick darauf, daß Microsoft die kommunikativen Strukturen der Gesellschaft stärker unter Kontrolle bringen könnte als jede Regierungsmacht, bildet eher einen Schwachpunkt in Zizeks Essay. Mit seiner Faszination für Filme und Filmemacher (wie bei so manchen Theoretikern, die in den Siebzigern und unter der strengen Dominanz französischer Theoriebildung intellektuell sozialisiert wurden) scheint er nicht besonders vertraut zu sein mit der neueren Medientheorie, mit den alternativen Formen des Technologiegebrauchs oder mit dem Netz selbst. Bezeichnenderweise greift Zizek in seiner Annäherung an interaktive Medien den Begriff der "Interpassivität" auf, der das kommunikative Verhalten "unter Bedingungen einer fetischisierten Nichtanerkennung" am besten beschreibe; wir halten die Medienwirklichkeit nicht im Ernst für wirklich, wir spielen trotz besseren Wissens aber dennoch mit - die Show muß schließlich weitergehen.

Das bedeutet, daß die altmodische Form der Aufklärung nicht mehr funktioniert - und auch die Psychoanalyse, daran läßt Zizek keinen Zweifel, hält kein Privileg mehr auf gelungene Interpretation: "Die Formierungen des Unbewußten haben ihre Unschuld verloren." Und da die Rahmenbedingungen als solche nicht mehr stimmen, "verliert die Interpretation des Psychoanalytikers ihre symbolische Effizienz und läßt die Symbole einer idiotischen Ebene des 'Genießens' intakt". Über diese idiotischen, unreflektierten Formen des Genusses äußert sich Zizek oft sehr harsch, wie seine anderen Texte zeigen, und er befindet sich dabei oft an der Grenze der Ignoranz gegenüber subversiven Formen beispielsweise innerhalb der neuen Popkultur.

Besteht jenseits der Subversion noch irgendeine Hoffnung auf politisches Handeln? Die Pattstellung der heutigen Linken, so sieht es Zizek, begründet sich aus deren Akzeptanz des Verlusts - mit dem gleichzeitigen Zusammenbruch der männlichen Arbeiterklassen-Symbolik. Nachdem die Hoffnung und die Perspektive auf eine Revolution aufgegeben werden mußten, weiß man jetzt weder, welchen Prinzipien man folgen solle, noch läßt sich aus Treue zu den alten Inhalten auf leeren Formen beharren. Angesichts einer postmodernen Gesellschaft wird die klassische linke Politik entweder zum nostalgischen Akt oder zur Pose der Verlierer (Zizek weist darauf hin, daß dieses Motiv im gegenwärtigen britischen Film gern aufgegriffen wird).

Nachdem sich der "realexistierende Kapitalismus" in den ehemals kommunistischen osteuropäischen Ländern etablieren konnte, schwelgt die Weltpolitik in demokratischem Enthusiasmus, wobei neue, halb politische Akteure wie die NGOs, die 'Civil Society' usw., kräftig idealisiert werden. Und das, obwohl das Dilemma von Marktliberalismus gegen Fundamentalismus nicht gelöst, sondern eher vermieden wird, indem man beide hat: als "dystopische Realisierung eines Traumes" speziell in Osteuropa. Wenn allenthalben die gewöhnlichen Leute zu vulgären Konsumenten gemacht werden, ist der Triumph des Kapitalismus ebenso offensichtlich wie noch nicht endgültig. Laut Zizek hält daher das Manifest, das hier keine Antworten bietet, immer noch eine Aussage für uns bereit: daß unsere Gesellschaft andere Zwecke entwickeln wird müssen als entweder

  1. zu glauben , sämtliche sozialen Widersprüche würden durch das Vorantreiben einer kapitalistischen Ökonomie und ihres Gegenstücks, der liberalen, multikulturellen Demokratie einfach aufgelöst, oder
  2. den Rückzug auf traditionelle Werte zu propagieren (vom Katholizismus bzw. Islamischen Fundamentalismus bis zu den orientalischen New Age-Weisheiten).

The Spectre is still roaming around - das Gespenst geht immer noch um. Diese 78 Seiten der Einführung sind es wert, gelesen zu werden. Zizek hält mit einigen Gründen dafür, daß die Autoren des Manifests unserer Zeit näher stehen als so manche der postmodernen Sophisten. Er argumentiert nicht akademisch, bezieht seine Beispiele vielmehr aus der Popkultur, was seinem Schreiben einen gewissen Sex-Appeal verpaßt. Wie dem auch sei - als Alternative zum etablierten akademischen Argumentationsstil ebenso wie zur verwegen postmodernen Kritik entwickelt er daraus einen erfrischend unbestechlichen Stil der essayistischen Reflexion.