Steigt Indien zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt auf?
Indien ist ein zunehmend wichtiger Handelspartner von Deutschland. Baerbocks Reise dorthin vor einem Monat zeigt das. Doch was steckt wirklich im riesigen, expandierenden Markt?
Eine kürzlich erschienene Analyse der US-amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley "Indias Impending Economic Boom" (Der kommende wirtschaftliche Aufschwung in Indiens) ist begeistert auf dem Subkontinent aufgenommen worden – insbesondere von der an den USA orientierten Wirtschaftselite. Regelrecht elektrisiert berichtet etwa die Times of India, dass demnach mehr als eine Verdoppelung des indischen Bruttonationaleinkommens (BNE) von derzeit 3,5 auf dann 7,5 Billionen US-Dollar noch in diesem Jahrzehnt möglich sei. Das würde Indien zur drittgrößten Wirtschaft der Welt machen – nach den USA und China und vor Japan und Deutschland.
Allerdings müsste die indische Volkswirtschaft dafür ununterbrochen mindestens im aktuellen rasanten Tempo (6,9 Prozent) weiterwachsen. In den letzten zehn Jahren hat das Wirtschaftswachstum durchschnittlich - immer noch sehr solide - 5,5 Prozent betragen.
Zur Orientierung: Ausgedrückt in US-Dollar (was nur relativ wenig über die realen Kaufkraftverhältnisse aussagt) erwirtschafteten die USA 2020 über 21 Billionen, China über 14,5, Japan über fünf und Deutschland knapp vier Billionen US-Dollar. Es folgten Großbritannien und Frankreich. Indien lag mit 2,64 Billionen US-Dollar noch auf Platz 7. In diesem Jahr hat die indische Wirtschaft Frankreich und Großbritannien jedoch "überholt" und liegt im globalen Ranking jetzt auf Platz 5.
Relativer Wohlstand für wenige
Gemäß den Prognosen von Morgan Stanley soll sich auch das Pro-Kopf-Einkommen Indiens mehr als verdoppeln – und zwar von derzeit 2.278 auf 5.242 US-Dollar im Jahr 2031. (Das durchschnittliche Einkommen in Deutschland lag 2021 bei 44.828 Euro.) Der Zuwachs an verfügbarem Einkommen soll nach Meinung der Investmentbanker eine Art Konsumrausch auslösen.
Die Zahl der Haushalte, die über mehr als 35.000 US-Dollar jährlich verfügen, könnte sich in den kommenden zehn Jahren demnach auf über 25 Millionen verfünffachen. Solch ein relativer Wohlstand würde (je nach Definition und sozialer Entwicklung) damit rund 125 bis 150 Millionen Menschen betreffen – grob überschlagen also etwa zehn Prozent der fast 1,4 Milliarden Inder:innen.
Selbstverständlich loben die Banker die neoliberale Agenda der hindu-nationalistischen Regierung von Narendra Modi: Indien sei auf dem Weg, die "Fabrik der Welt" zu werden, da die Regierung die Unternehmenssteuern gesenkt habe, Investitionen fördere und Geld für die Verbesserung der Infrastruktur in die Hand nehme. All das sei geeignet, private Investitionen in Industrie und Verarbeitung anzukurbeln.
Zudem begrüßten multinationale Unternehmen die neuen Investitionsaussichten in Indien, und die Regierung stelle nicht nur Infrastruktur, sondern auch Land zur Verfügung, um Industrieanlagen zu errichten.
Industrielle Expansion?
Dass eine industrielle Expansion auf dem dicht besiedelten Subkontinent problematisch werden kann, mussten allerdings sogar schon indische Konzerne erleben – so etwa Tata Motors. Das indische Großunternehmen hat vergeblich versucht, im Bundesstaat West Bengalen eine Fabrik für das Kleinauto "Nano" zu errichten.
Morgan Stanley geht trotzdem davon aus, dass der Anteil der Warenproduktion am indischen Nationaleinkommen bis 2031 von jetzt 15,6 auf 21 Prozent steigen könnte.
Aber das klingt einerseits viel großartiger als es ist und würde andererseits vor allem eine dringend notwendige Trendumkehr voraussetzen. Denn vor der Bankenkrise 2008 lag der Anteil der Fertigung am BNE noch bei fast 19 Prozent und ist seitdem deutlich zurückgegangen.
Unerwähnt lassen die US-Banker auch, dass hier politische Unwägbarkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Wie weit der Westen tatsächlich bereit ist, sich wirtschaftlich von China abzukoppeln und in Indien zu produzieren und zu kaufen, muss sich erst noch erweisen. Und Menschenrechtsverletzungen, wie sie gerade etwa Foxconn in Chennai vorgeworfen werden, bleiben auf absehbare Zeit sicher unangenehme Begleiterscheinungen dieser (angestrebten) Industrialisierung im Schnellverfahren.
Dennoch ist die Ausweitung der heimischen Industrieproduktion aus der Perspektive Delhis dringend geboten, denn noch immer leben 58 Prozent aller Inder:innen von der Landwirtschaft. Das Wort "agriculture" ist allerdings in der Kurzfassung des Morgan Stanley-Berichts gar nicht erst zu finden.
Von Outsourcing zum biometrischen Zentralregister
Interessant ist, welche ökonomischen Einzelaspekte die Banker dagegen besonders betonen. Sie heben etwa hervor, dass die Zahl der Inder:innen, die Arbeiten bei verlagerten Produktionsprozessen aus anderen Ländern übernehmen, sich im nächsten Jahrzehnt auf mindesten elf Millionen verdoppeln wird. In der gleichen Zeit sollen die Aufwendungen für solche outgesourcten Tätigkeiten weltweit von heute 180 auf dann über 500 Milliarden US-Dollar steigen.
Der Onlinehandel soll seine Volumina bis 2031 ebenfalls verdoppeln und dann 12,3 Prozent des gesamten Handels ausmachen. Heute kaufen 250 Millionen Menschen auf dem Subkontinent online ein, 2031 sollen es 700 Millionen sein. Parallel dazu soll die Zahl der Internetnutzer:innen von heute 650 auf 960 Millionen Menschen anwachsen – damit wären dann etwa zwei Drittel der Inder:innen online.
Das umstrittene Aadhaar-System – einem biometrischen Zentralregister, in dem mittlerweile 1,3 Milliarden Inder:innen mit ihren Daten aufgenommen worden sind –, loben die Analysten von Morgan Stanley als Grundlage für "einfache und preiswerte Finanztransaktionen". Über das System sollen mittlerweile monatlich 4,5 Milliarden Zahlungsvorgänge mit einem Umsatz von umgerechnet etwa drei Milliarden US-Dollar abgewickelt werden. Darunter fallen Mautgebühren in Höhe von mehr als 15 Millionen US-Dollar pro Tag.
Wachstum, das begeistert?
Am meisten begeistern sich die Investmentbanker über das von ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstum. Da Indien das einzige Land weltweit sei, das ab 2023 jährlich über 400 Milliarden US-Dollar Wachstum haben werde und mehr als 500 Milliarden ab 2028, müsse die indische Ökonomie ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Investoren rücken.
Wer allerdings auf die physische Seite dieser Prognosen blickt, kann ein gewisses Gefühl der Unbehaglichkeit wahrscheinlich kaum unterdrücken: Ein Viertel des Wachstums der Automobilverkäufe werden auf Indien entfallen, und 2030 sollen 30 Prozent aller Personenfahrzeuge Stromer sein. Der Energieverbrauch werde bis dahin um etwa 60 Prozent ansteigen, was Investitionen von über 700 Milliarden US-Dollar nötig mache.
Zwar verfügen mittlerweile alle der mehr als 600.000 Dörfer Indiens über einen Zugang zum Stromnetz. Doch die Herausforderungen auf dem Weg zu einer modernen – geschweige denn inklusiven – Infrastruktur sind erheblich, wie etwa Standard & Poor schreibt.
Übrigens stammen derzeit drei Viertel des Stroms in Indien aus Kohle und rund 20 Prozent aus erneuerbaren Energien (Stand 2021). Die Umweltprobleme auf dem Subkontinent sind weiter enorm. Telepolis hat immer wieder darüber berichtet.
Große Hürden
In der Studie der US-Banker wird auch auf die "signifikanten Effekte" hingewiesen, die das zu erwartende Wirtschaftswachstum auf die Nachfrage im Wohnungsmarkt und nach Gewerbeimmobilien haben dürfte. Diese Aussicht bereitet den allermeisten Inder:innen dagegen sicherlich schlaflose Nächte.
Denn die Situation vor allem in den extrem dicht bevölkerten Städten ist schon heute beängstigend. Im Großraum Delhi sind die Preise für Land von Mitte 2021 bis Mitte 2022 um zehn Prozent und die für Wohnimmobilien um 20 Prozent gestiegen. Seit 2019 sind die Preise für Land in Indien zwischen 30 und 40 Prozent gestiegen.
Fragen der sozialen Entwicklung spart Morgan Stanley fast vollständig aus. Der Bericht erwähnt lediglich, dass der Anteil der Nutzer:innen im Gesundheitssystem in den nächsten zehn Jahren von heute 30 bis 40 Prozent auf 60 bis 70 Prozent steigen könne. Aspekte wie Armutsbekämpfung fehlen. Auch die wirtschaftlich durchaus relevante Tatsache, dass Indien die größte Ungleichheit bei der Entlohnung zwischen Männern und Frauen in ganz Asien aufweist, hat in den Erwägungen der Investmentbanker keinen Platz.
Sollte der derzeitige Trend anhalten, könnte Indien in den nächsten zehn Jahren zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Dass sich die Prognosen der US-Banker allerdings in vollem Umfang bewahrheiten, muss derzeit als zu optimistisch gelten.