Sterbehilfe bei "vollendetem Leben" - oder "Entsorgung" der Alten?
Seite 2: Individuum versus Gesellschaft
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Glaubt man der Darstellung von D66, die treibende Kraft hinter der Gesetzesinitiative, dann befreit die Sterbehilfe bei Lebensmüdigkeit die Menschen vom "Leiden unter einem zu lang gewordenen Leben". Das mag bei ihrer bürgerlich-liberalen Klientel gut ankommen. Tatsächlich dürften aber auch viele Menschen lebensmüde sein, weil sie die vorherrschende Gesellschaftsform nicht ertragen.
Und so finden wir hier das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft wieder, das für die Zeit des Neoliberalismus so kennzeichnend ist: Demnach ist jeder seines eigenen Glückes (und damit auch Leidens) Schmid. Wer verzweifelt, so könnte man denken, hat sich bloß nicht genug angestrengt.
Der vorherrschende Ansatz der Biologischen Psychiatrie stellt ein Fangnetz bereit: Die Ursache des Leidens liegt dann zwar im Individuum, nämlich seinen Genen und Gehirnzuständen, ist aber Folge natürlicher Vorgänge und daher unverschuldet (Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!).
Diese Sichtweise ist aber primär ideologisch begründet und schon wissenschaftlich unschlüssig: Denn einerseits sind unsere Gehirne durch unsere Umwelt und Erfahrungen geprägt und befinden sich im permanenten Wandel (Neuroplastizität). Und andererseits wird sogar die Aktivität unserer Gene durch äußere Faktoren beeinflusst (Stichwort: Epigenetik).
Man mag vielleicht als gebildeter Mensch und im Sinne der Aufklärung das Ideal des autonomen Individuums hochhalten und dementsprechend die Selbstbestimmung über eigenes Leben und eigenen Tod einfordern. Wir sind aber nicht nur als biologische Organismen, sondern auch als Menschen entscheidend von unserer Umwelt abhängig.
In diesem Sinne ist das (völlig) autonome Subjekt allenfalls ein Idealbild. Gerade die Coronapandemie und ihre Schutzmaßnahmen haben uns vor Augen geführt, wie wir von dem Verhalten Anderer abhängig sind. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über die Ursachen von Lebensmüdigkeit nachdenken.
Dann hängt auch das Ausmaß an Leid, das jemand für erträglich hält, von seinen oder ihren gesellschaftlichen Erfahrungen und Möglichkeiten ab. Geht es hier also wirklich um individuelle Würde - oder um gesellschaftliche Integration und Klassenunterschiede?
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.