Stirbt der klassische Nachrichtenjournalismus?
Bald Vergangenheit? Kiosk in Düsseldorf. Bild: Maiko33 / Shutterstock.com
Facebook und Twitter verlieren als Nachrichtenquellen dramatisch an Bedeutung. Doch was bedeutet der Siegeszug von KI und Influencern für die Zukunft des klassischen Journalismus?
Der Journalismus steht vor seiner bisher größten Transformation, verkündet eine Studie des Reuters-Institute.
Was dort an Veränderungen angesprochen wird, kann die öffentliche Sphäre stark verändern. "Zielgruppenorientiert" ist ein zentrales Schlagwort für die neue Ausrichtung der Medienstrategien, die verstärkt auf KI setzen und darauf, Nachrichten auf die Vorlieben – "Präferenzen" – der Leserschaft zuzuschneidern, auf dass neue Abonnenten gewonnen werden.
"Veränderung der Medienlandschaft"
Was passiert infolge solcherart an Zielgruppen orientierter Neuausrichtung mit der Bereitschaft des Publikums, über seinen Tellerrand zu schauen und den Horizont zu erweitern? Was passiert mit der Frustrationstoleranz gegenüber gegensätzlichen Ansichten, Meinungen, Argumenten, Darstellungen und Rahmengebungen?
Wie groß ist bei austarierten Newsangeboten für das smarte Home der Reiz, gegensätzliche Meinungen auszuhalten? Wie groß der Anreiz, diese öffentlich zu diskutieren? Kurz: Wie wird sich die gesellschaftliche Debatte verändern?
Das ist alles noch nicht absehbar, kommt einem allerdings angesichts der Trends der Reuters-Studie in den Sinn, wenn man sie etwas weiterspinnt im Sinne einer Öffentlichkeit, die täglich neu als wichtige Säule einer funktionierenden Demokratie beschworen wird.
Auch wenn man die Latte niedriger hängt und der Öffentlichkeit zunächst "nur" eine Wichtigkeit für das Selbstverständnis der daran Teilnehmenden zuweist, so scheinen die Trends im Journalismus auf beachtliche Veränderungen des bislang gewohnten Verständigungsgeländes hinauszulaufen.
Der Kampf um digitale Reichweite
Die Trends basieren auf Aussagen von 326 führenden Medienmanagern aus 51 Ländern. Die FAZ berichtet aktuell darüber – mit dem Finger am ökonomischen Puls: Es geht um den Kampf der Verlage um die digitale Reichweite.
Man hat Illusionen verloren, so wird gleich am Anfang festgehalten:
Die Medienhäuser stehen vor einem fundamentalen Umbruch ihrer digitalen Strategien. Wie die aktuelle Reuters-Studie "Journalism and Technology Trends and Predictions 2025" zeigt, brechen die klassischen Reichweitenkanäle dramatisch ein. Der Traffic von Facebook zu Nachrichtenseiten ist in den vergangenen beiden Jahren um 67 Prozent zurückgegangen, bei Twitter/X beträgt der Rückgang 50 Prozent.
FAZ
Die Verlage reagieren laut Studie einerseits mit einer "radikalen Neuausrichtung" ihrer Plattformstrategien: "Sie setzen verstärkt auf neue KI-getriebene Plattformen (…) sowie auf Videonetzwerke wie Youtube (…) und Tiktok (…)".
Bemerkenswert ist auch die wachsende Bedeutung von KI-Plattformen als Umsatzquelle. 36 Prozent der kommerziellen Publisher erwarten signifikante Lizenzeinnahmen von Tech- und KI-Unternehmen – doppelt so viele wie im Vorjahr.
FAZ
Andrerseits haben die Verleger Bezahlmodelle vor Augen:
"77 Prozent der befragten Verlage sehen Abonnements als wichtigste Erlösquelle".
Als nicht mehr ganz neues, aber offensichtlich noch immer oder wieder neu funktionierendes Erfolgsmodell werden die Newsletter gesehen und damit der Trend zu personalisierten Nachrichten:
Newsletter erleben ein spektakuläres Comeback. Sie versprechen direkte Leserbeziehungen, hohe Conversions-Raten und bieten einen Ausweg aus der Plattform-Abhängigkeit. (…) Newsletter gelten als der letzte direkte Draht zum Leser. In einer Zeit, in der Facebook und Google die Kontrolle über die Reichweite haben, bieten sie eine rare Chance auf unabhängige Distribution.
Kuratierter Journalismus
Newsletter-Abonnenten sollen eine "bis zu fünfmal höhere Conversions-Rate" haben – also dass sie zu Abonnenten werden – als Social-Media-Nutzer.
Der Trend geht zum kuratierten Journalismus mit Haltung, da die Leser nicht nur Information suchen, sondern Orientierung und Einordnung.
FAZ
In diesem Zusammenhang zitiert die Zeitung den Medienökonomen Christopher Buschow mit dem Schlagwort von der "Atomisierung des Journalismus". Statt weniger Massenmedien würden Tausende hoch spezialisierte Angebote für spezifische Zielgruppen entstehen und neue Geschäftsmodelle.
Die nächste Evolutionsstufe kündigt sich bereits an: KI-gestützte Systeme ermöglichen eine noch präzisere Personalisierung, während neue Plattformen wie Beehiiv zusätzliche Monetarisierungsoptionen bieten. Erfolgreiche Newsletter entwickeln sich dabei zunehmend zu Community-Hubs mit eigenen Events und Diskussionsforen.
Für Verlage und Journalisten bedeutet dies: Newsletter sind nicht länger nur ein Marketingkanal, sondern entwickeln sich zum strategischen Asset. Sie kombinieren die Reichweite digitaler Medien mit der Bindungskraft persönlicher Beziehungen – eine Kombination, die in Zeiten schwindender Plattform-Reichweiten als wichtiger Erfolgsfaktor gilt.
FAZ
Aus der Befragung des Reuters-Institutes ergab sich darüber hinaus, dass viele Verlage mit Funktionen experimentieren, die Textartikel automatisch in Audio verwandeln (75 Prozent), KI-Zusammenfassungen an der Spitze von Geschichten bieten (70 Prozent) oder Nachrichtenartikel in verschiedene Sprachen übersetzen (65 Prozent).
Über die Hälfte (56 Prozent) der Befragten gab an, dass sie sich mit KI-gestützten Chatbots und Suchschnittstellen beschäftigen würden.
Nachrichten von Influencern
Eine besondere Herausforderung stellt der Aufstieg von Influencern und Content Creators dar. Laut einer Pew-Studie beziehen bereits 21 Prozent der Amerikaner – bei den unter Dreißigjährigen sogar 37 Prozent – regelmäßig Nachrichten von Influencern. Die Verlage reagieren gespalten: 28 Prozent sehen darin Chancen für neue Erzählformate, 27 Prozent fürchten eine Verdrängung klassischer Berichterstattung.
Der Talentmarkt verschärft diese Situation zusätzlich. Während 81 Prozent der Verlage zuversichtlich sind, redaktionelle Toptalente halten zu können, haben mehr als die Hälfte Schwierigkeiten, dringend benötigte Experten für Datenanalyse (52 Prozent) und Softwareentwicklung (55 Prozent) zu gewinnen und zu binden.