Straffreies Containern: Kein Ende der Debatte in Sicht
Politiker diskutieren, ob Containern weiter bestraft werden soll. Immer mehr Initiativen werden aktiv, um übriggebliebenes Essen gerecht zu verteilen. Der Kern des Problems ist systembedingt.
Das Café Raupe Immersatt [1] in Stuttgart ist stets gut besucht. Erwachsene wie Kinder machen es sich an Tischen und auf Sofas gemütlich, genießen Getränke und essen Croissants, Brötchen oder Donuts. Sonntags gebe man so um die 400 Heißgetränke aus, schätzt Maximilian Kraft, Vereinsvorstand des ersten Foodsharing-Cafés in Deutschland. Das Café wird vor allem von ehrenamtlichen Lebensmittelrettern der Initiative Foodsharing [2] mit Backwaren beliefert. Zudem bringen Privatpersonen sowie einige Gastronomie- und Catering-Betriebe regelmäßig überschüssiges Essen selbst vorbei.
"Wir erhalten die Lebensmittel kostenlos von Betrieben und Privatpersonen und teilen sie deshalb auch kostenlos", schreiben die Betreiber [3] auf der Website. Lebensmittel sollen wieder einen echten ideellen Wert erhalten, das gehe am besten ohne Preis. Würde man Geld nehmen, um das Café zu finanzieren, wäre man von der Verschwendung abhängig.
Viele Lebensmittel können direkt im Café verzehrt werden (z.B. süße Stückchen, Kuchen, Obst, auch bereits fertig gekochte Gerichte wie Suppen). Andere werden erst zubereitet und können dann mitgenommen (z.B. Gemüse, Salate, Trockenware wie Reis oder Pasta) oder mit eigenen Aufstrichen zubereitet werden.
Die meisten Lebensmittel holen Retter der Initiative Foodsharing von den zahlreichen Bäckereien, Supermärkten, Biomärkten bis hin zu Cafés und Restaurants. Ferner beliefert Foodsharing Hunderte sogenannte Fairteiler-Regale und Schränke, zu denen jeder Lebensmittel hinbringen und auch mitnehmen darf.
Zum Teil werden sogar Lebensmittel von den Tafeln abgeholt, die dort nicht verkauft wurden. Zum Beispiel bei der schwäbischen Tafel in Stuttgart, bei der keine Lebensmittel mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) oder bereits zubereitete Speisen verkauft werden. Geteilt werden nur genießbare Lebensmittel mit MHD, die vorher geprüft wurden. Denn dieses sagt lediglich aus, wie lang ein Produkt haltbar ist, ohne wesentliche Geschmacks- und Qualitätseinbußen. Ein großer Teil der Lebensmittel ist jedoch bei korrekter Lagerung viel länger genießbar.
Das Netzwerk Foodsharing, das vor zehn Jahren von Filmemacher Valentin Thurn und Lebensmittelretter Raphael Fellmer gegründet wurde, setzt sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und für ein nachhaltiges Ernährungssystem ein. Für eine Welt, in der die meisten Lebensmittel aus lokalem Anbau stammen und nur ein kleinerer Teil zu fairen Bedingungen gehandelt wird, wie es in der Selbsterklärung heißt.
An erster Stelle stehe das Ziel [4], dass "jeder Mensch und jedes Unternehmen dafür Sorge trägt, dass produzierte Nahrung nicht vergeudet, sondern in dankbaren Mägen landet". Die Initiative sieht sich weniger als Konkurrenz, sondern mehr als bereichernde Ergänzung zu den Tafeln. Foodsharing ist vor allem in großen Städten aktiv, wie aus einer interaktiven Karte [5] hervorgeht, auf der man Lebensmittel in einem digitalen Essenskorb eintragen kann.
Containern – ein Gewinn für alle Seiten?
Während Initiativen wie Foodsharing zeigen, wie überzählige Lebensmittel sinnvoll verwertet werden können, sind die Politiker noch uneins in der Frage, wie das umstrittene "Containern" zu bewerten sei. Im Januar warb Cem Özdemir (Grüne) dafür, die Strafen für das sogenannte Containern abzuschaffen [6].
Wer noch ess- oder trinkbare Lebensmittel aus Müllcontainern heraussuche, solle dafür nicht mehr belangt werden. Wenn sich Menschen weggeworfene Lebensmittel mit nach Hause nehmen, ohne eine Sachbeschädigung oder einen Hausfriedensbruch zu begehen, müsse dies nicht strafrechtlich verfolgt werden, erklärt auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Seither ist in der Sache rechtlich wenig passiert. Der Agrarminister hat offenbar Besseres zu tun: Anstatt endlich einen konkreten Gesetzesentwurf vorzulegen, lässt er sich medienwirksam im Tarnanzug der Bundeswehr feiern [7].
Dabei wäre jetzt konsequente Umsetzung angesagt, denn vom Handel kommt Gegenwind. Christian Böttcher etwa sieht in straffreien Containern einen völlig falschen Ansatz. Aus rechtlicher Perspektive brauche man diesen Änderungsvorschlag nicht, erklärt der Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Lebensmittelhandel.
Die Abfalltonnen im Handel seien in der Regel verschlossen oder stünden in abgeschlossenen Bereichen. Wer dort eindringe, begehe Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung. Zudem sei es potenziell gesundheitsgefährdend, wenn etwa verdorbene Lebensmittel im Mülleimer aussortiert und dann wieder von Menschen gegessen würden.
Allerdings wird beim Containern kein vergammeltes, sondern genießbares Essen aus der Tonne geholt. Nicht wenige Leute, vor allem in den Großstädten, ziehen Abend für Abend los, um gute Lebensmittel aus dem Müll von Supermärkten zu retten: hygienisch einwandfreies, abgepacktes Obst, Gemüse, Scheibenkäse, Kekse ...
Gleichzeitig protestieren sie gegen die Wegwerfkultur der Wohlstandsgesellschaft und werben für ein umweltfreundliches, ethisch vernünftiges Verhalten. Wie zum Beispiel Jonas aus Köln. Warum schließen einige Supermärkte ihre Tonnen überhaupt ab, fragt sich der Student? Was noch genießbar ist, sollte allen Menschen angeboten werden [8]. So könnte man etwa eine Tonne offen stehen lassen für bedürftige Menschen. Er fühlt sich moralisch im Recht und möchte daher weitermachen.
Straffrei Containern: "Symbolpolitik, die am Kern vorbeigeht"
Jochen Brühl hielte es für grundsätzlich gut, wenn weniger Lebensmittel verschwendet würden. Zwar sieht der Vorsitzende der Tafeln im "Containern" generell keine Konkurrenz. Doch hält er es für zynisch, wenn es Menschen erlaubt werde, im Müll zu wühlen, um sich ernähren zu können. Bedürftige sollten das Angebot der Tafeln nutzen [9]. Eine Strafbefreiung helfe weder gegen Armut noch löse sie das Problem der Lebensmittelverschwendung.
Viel wichtiger sei es, dass Supermärkte nicht bis Ladenschluss ein übervolles Angebot präsentierten, weil dadurch am Ende zu viele Lebensmittel weggeschmissen würden. Zudem sollten Lebensmittelspenden vereinfacht werden.
Im letzten Jahr war der Andrang bei den Tafeln noch größer als sonst. Schuld daran waren vor allem die Preissteigerungen. Auf zwei Millionen Besucher [10] schätzten die Tafeln die Besucherzahl – 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund drei Viertel der Tafeln klagte, zu wenig Lebensmittel zur Verfügung zu haben, ein Drittel verhängte einen Aufnahmestopp. Ursprünglich waren die Tafeln angetreten, um übriggebliebene Lebensmittel an bedürftige Menschen weiterzugeben. Inzwischen werden sie von der Politik fest einkalkuliert, um die wachsende Zahl der Armen aufzufangen.
Vorbild Frankreich: Gesetz soll Verschwendung reduzieren
Seit 2016 verpflichtet ein französisches Gesetz [11] Supermärkte mit einer Fläche von mehr als 400 Quadratmetern dazu, genießbare Lebensmittel entweder selbst weiterzuverwenden oder sie an gemeinnützige Organisationen zu spenden. Die Händler sind aufgefordert, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um Lebensmittelverluste und Verschwendung zu vermeiden.
Erst an zweiter Stelle folgt das Spenden oder Weiterverarbeiten unverkaufter und für den menschlichen Verzehr geeigneter Lebensmittel. An dritter Stelle steht die Verwertung als Tierfutter und an vierter steht die Kompostierung für die Landwirtschaft oder die energetische Verwertung.
Bei Nichteinhaltung drohen hohe Geldstrafen. Bestraft werden auch Unternehmer, die ihre sicheren Lebensmittel absichtlich ungenießbar machen. Damit ist Frankreich weltweit das erste Land, das die Lebensmittelverschwendung offiziell unter Strafe gestellt hat. Im Nebeneffekt erhalten die Tafeln deutlich mehr Lebensmittel. Könnte man ein ähnliches Gesetz nicht in Deutschland erlassen, und wenn ja, warum ist es nicht längst in Kraft, fragt jemand auf dem Portal Abgeortnetenwatch.de [12]
Hierzulande ist das Spendenaufkommen aus Handel und Produktion deutlich höher: Allein an die Tafeln werden jährlich rund 265.000 Tonnen pro Jahr Lebensmittel gespendet (die durch 60.000 Ehrenamtliche an 1,65 Mio. Tafelkunden verteilt werden). In Frankreich hingegen werde weniger als die Hälfte dieser Menge an zwei Millionen Bedürftige verteilt, argumentiert die Grünen-Abgeordnete Ophelia Nick [13].
Es müsse in erster Linie darum gehen, Lebensmittelüberschüsse oder -abfälle zu vermeiden. Eine entsprechende Zielvereinbarung wurde im April 2021 für die Außer-Haus-Verpflegung unterzeichnet. Für die Primärproduktion, Verarbeitung und Handel sollte die Vereinbarung bis Ende letzten Jahres abgeschlossen gewesen sein.
Tatsächlich veröffentlichte das Agrarministerium im November eine Reihe Absichtserklärungen: So soll sowohl in Dialogforen pro Sektor als auch im übergeordneten Nationalen Dialogforum über Maßnahmen, Fortschritte und Handlungsbedarf diskutiert werden. Zudem steuert ein "ressortübergreifendes Bund-Länder-Gremium [14] die Umsetzung der Strategie und identifiziert weitere Handlungsfelder".
Jährlich fallen hierzulande entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette rund elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle an. Gut die Hälfte davon kommt aus privaten Haushalten. Hier zum Beispiel wollen das Dialogforum private Haushalte sowie die Nationale Strategie "Zu gut für die Tonne [15]" ansetzen. Das klingt nach langen Meetings und ermüdenden Diskussionen, aber auch nach bürokratischen Mühlen, die nur langsam mahlen. Wichtiger wäre die Frage, was davon zeitnah in der Praxis umgesetzt wird.
Den Lebensmitteln ihren Wert zurückgeben
Einerseits entsteht in unserer Überflussgesellschaft eine große Menge an Essensmüll. Essen, das tonnenweise Treibhausgase emittiert – sowohl in der Herstellung als auch auf den Müllhalden. Andererseits wächst die Zahl der Armen, deren Geld nicht ausreicht, um sich Lebensmittel zu kaufen.
Sicher wird dieser Widerspruch nicht allein durch straffreies Containern aufgelöst. Dennoch wäre es ein erster Schritt zur Entkriminalisierung von Menschen, die sich aus Abfalltonnen bedienen, deren Inhalt ohnehin entsorgt werden soll.
Beim Wegwerfen von Essen handelt es sich um ein systemimmanentes Problem, das einhergeht mit der Entwertung von guten Lebensmitteln. Um es zu lösen, müsste man an die Ursachen ran – an den Kapitalismus, der darüber hinaus Menschen in nützliche Arbeitskräfte und nutzlose Esser aufteilt. Mehr soziale Gerechtigkeit, nicht nur innerhalb unserer Gesellschaft, sondern auch entlang globaler Lieferketten vom Produzenten bis zum Supermarkt wäre nötig. Die wenigsten Politiker setzen sich ernsthaft und konsequent dafür ein.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.raupeimmersatt.de
[2] https://foodsharing.de/
[3] https://www.raupeimmersatt.de/konzept/foodsharing/
[4] https://foodsharing.de/ueber-uns
[5] https://foodsharing.de/essenskoerbe/find
[6] https://www.tagesschau.de/inland/containern-ohne-strafe-101.html
[7] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Cem-Oezdemir-bei-Wehruebungen-der-Bundeswehr-in-Niedersachsen,oezdemir328.html
[8] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/containern-105.html
[9] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/containern-105.html
[10] https://www.tagesschau.de/inland/mehr-menschen-nutzen-tafeln-101.html
[11] https://www.bundestag.de/resource/blob/568808/21ec9f0fbd1bce3c48c063f24498428e/wd-5-095-18-pdf-data.pdf
[12] https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/ophelia-nick/fragen-antworten/sg-frau-nick-warum-ist-ein-gesetz-wie-la-loi-garot-in-frankreich-gegen-lebensmittelverschwendung-noch-nicht
[13] https://ophelia-nick.de/
[14] https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung/strategie-lebensmittelverschwendung.html
[15] https://www.zugutfuerdietonne.de/
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