Strategien des Widerstands: Warum List effektiver ist als Konfrontation
Ein Gefängnispsychologe erklärt, warum der Hofnarr klüger handelt als der Revolutionär – und was Orwell mit heruntergelassenen Hosen zu tun hat.
Gegen Schufte muss man mit List agieren, sonst ist man perdu.
Heinrich Heine
Wenn mir bei meiner Tätigkeit als Gefängnispsychologe ein Gefangener begegnete, der sich über die Maßen über eine vermeintliche oder auch reale Ungerechtigkeit aufregte, welche die Justiz ihm angetan hatte, habe ich diesem manchmal mit Karl Valentin geraten: "Am besten gar net erst ignorieren!"
Will sagen: Man muss nicht in jedes Messer hineinlaufen, das einem hingehalten wird. Aus irgendeinem Gefängnis der Welt stammt der Satz:
"Wer mit dem Kopf gegen die Wand rennt, landet in der Nachbarzelle."
Man muss nicht immer direkt gegen ein erlittenes Unrecht angehen, man kann sich auch mal listig verhalten oder die Situation mit einem Witz und einem anarchischen Lachen entspannen. Der Macht eine Nase drehen.
Vor allem sollte man sich von der Macht nicht auf ein Gelände locken lassen, wo sie sich auskennt und ein Heimspiel hat und man garantiert den Kürzeren zieht. Nicht reflexartig das tun, was erwartet wird, sich mal seitwärts in die Büsche schlagen und an einer Stelle wieder auftauchen, wo niemand mit einem rechnet. Sich wie ein Guerrillero verhalten, den Feind nicht frontal angreifen und ihm nicht ins Messer laufen, sondern in die Flanken fallen.
Das ist die Strategie des Widerstands. Die Herrschenden wollen, dass man sie frontal angreift, den Gefallen dürfen wir ihnen nicht tun. Man muss listig sein und von Seiten kommen, die der Gegner nicht erwartet. Man muss der Macht nicht überall und immer die Stirn bieten.
Gelegentlich kann und darf man auch fliehen und es so einrichten, dass die Fahnenflucht das ironische Aussehen des Konformismus annimmt. Wer seine Identität ausschließlich aus dem Kampf gegen den Staat bezieht, wird ihm immer ähnlicher und schließlich selbst zum Staat.
Revolutionäre Gruppierungen und Parteien, die mit der Macht liebäugeln und den Staat erobern wollen, werden zu Embryonen neuer Staatsapparate. Die Geschichte des Bolschewismus und der Sowjetunion haben gezeigt, wohin das führen kann.
Linke sollten um den Zusammenhang von Zielen und Mitteln wissen, den Gustav Landauer so formuliert hat:
"Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit."
Mit anderen Worten: Es besteht die Gefahr, dass die Gewalt, die im Klassenkampf notwendig sein mag, in die neue Gesellschaft eingeschleppt wird und sie im Kern beschädigt. Das einzige Gegengift gegen die Gewalt der Abstraktion und den Rigorismus des: "Dieser Mensch ist nichts als ..." ist Mitgefühl und Sensibilität für besondere Umstände.
Wie Orwell auf einen Faschisten schießen wollte
In diesem Kontext fällt mir eine Szene aus einer Dokumentation über George Orwell ein, die ich vor Jahren einmal gesehen habe. Orwell ist zu Beginn des Bürgerkriegs nach Spanien gekommen, um für die Republik und gegen die Faschisten zu kämpfen. Viel Zeit vergeht mit Vorbereitungen und mehr oder minder sinnlosen militärischen Übungen.
Man sieht ihn auf einem Kasernenhof inmitten seiner Kameradinnen und Kameraden. Wegen seiner enormen Körpergröße ragt sein Kopf aus der Menge der Exerzierenden heraus. Endlich zu den feindlichen Gräben an der Aragon-Front vorgedrungen, wartet Orwell tagelang vergeblich darauf, einen Faschisten ins Visier zu bekommen.
Als er schließlich einen Feind im Schussfeld auftauchen sieht, war es ein Soldat, der eben seine Notdurft verrichtet hatte. Er geriet dabei unter Beschuss und musste auf seiner Flucht seine Hosen halten, um nicht zu stürzen, und plötzlich konnte Orwell nicht abdrücken:
"Ich war gekommen, um 'Faschisten' zu erschießen; aber ein Mann mit heruntergelassenen Hosen ist kein 'Faschist', er ist offensichtlich ein Mitgeschöpf."
Eine beeindruckende Szene, wie er das Gewehr sinken lässt und diesen Satz sagt. Er enthält im Kern alles, was den Orwellschen Humanismus ausmacht und ihn vor Vereinnahmung durch Systeme totalitärer Herrschaft schützte. Plötzlich funktioniert die Reduktion des Anderen auf den "Feind" nicht mehr: "Das da ist ein Faschist, der zu liquidieren ist!"
Ein Mensch besteht aus verschiedenen Teilpersonen, ist immer der Inbegriff von Hoffnung, Erwartung, Sehnsüchten. Der Mann mit den heruntergelassenen Hosen hat eine Frau, Kinder, träumt von einem anständigen Leben und ist auf die betrügerischen Versprechungen der Faschisten hereingefallen.
Die Reduktion auf den "Feind" oder eine "Funktion", die ein Mensch im kapitalistischen Verwertungszusammenhang einnimmt, schneidet all das ab. Diese Szene lehrt uns: Einfühlungsvermögen ist kein bürgerliches Relikt, sondern eine Kardinaltugend der Veränderung und der aus ihr hervorgehenden freien Gesellschaft. Hass, so nachvollziehbar er sein mag, entstellt das Antlitz der Revolution und verzerrt die Züge der Kämpfenden.
"Keep cool!"
Der amerikanische Bürgerrechtler Marcus Garvey hat seinen afroamerikanischen Brüdern und Schwestern Ende der 1920er Jahre als Strategie im Kampf gegen die rassistische weiße Übermacht empfohlen: "Keep cool!" Das sollte keineswegs ein Aufruf zur Gefühllosigkeit und emotionalen Kälte als Grundhaltung und Dauerzustand sein, zu der Coolness unter dem Neoliberalismus verkommen ist.
Sie sollten sich nur so lange durch eine die eigene Würde bewahrende Affektkontrolle gegen die Demütigungen durch die weiße Übermacht immunisieren, bis sich die Konstellation des Kampfes zu ihren Gunsten verändert hätte. Sie sollten sich nicht durch überschäumende Wut zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen.
Das Gefängnis war, wenn man so will, meine Schule der Dissidenz. Ohne sie hätte auch ich im Gefängnis nicht überlebt. Während meiner Zeit als Psychologe im Gefängnis hatte ich zuverlässig die Rolle des Hofnarren inne.
Der Narr in der Tradition Till Eulenspiegels kultiviert den Widerstand der kleinen Schritte und vermag sich auf diese Weise der schmählichen Alternative, Handlanger des Systems zu sein oder als Opfer von ihm verschlungen zu werden, zu entziehen. Die Position des Narren ließ mir manche Freiheit, ging aber auch mit einer von mir akzeptierten Machtlosigkeit einher.
Auf Lob und Anerkennung "von oben" verzichten
Diese Rolle einzunehmen heißt auch, auf Lob und Anerkennung "von oben" zu verzichten, von dort keine Gratifikationen zu erwarten – weder materielle noch narzisstische. Lob und Anerkennung von oben sind in der Regel die Quittung für Anpassung und Unterwerfung.
Lob von oben gleicht dem Leckerli, das der Herr seinem Hund hinwirft, wenn er seine Aufgabe brav und zu dessen Zufriedenheit erledigt hat. Diesen Umstand hatte wohl Nietzsche vor Augen, als er bemerkte: "Im Lob ist mehr Zudringlichkeit als im Tadel."
Das heißt, der Dissident muss lernen, die auch für sein Leben unabdingbaren narzisstischen Gratifikationen aus etwas anderem zu schlagen – aus Augenblicken gelingenden Lebens, geglückten Gesprächen und Begegnungen, aus kurzen Momenten des Glücks, in denen die Möglichkeit der Freiheit aufblitzt. Diese Erfahrungen sind nur an den Rändern zu machen, nicht im Zentrum und mit starrem Blick auf die Macht.
Ich hatte mich also für die Ohn-Macht entschieden und fuhr ganz gut damit. Die Gefangenen waren darüber manchmal enttäuscht, weil sie sich von mir irgendwelche Wunderdinge erwarteten, die ich aber wegen meiner Ohn-Macht nicht bewirken konnte.
Die Klügeren unter ihnen verstanden und akzeptierten das. Der Preis, den ich hätte entrichten müssen, um Einfluss auf gewisse Entscheidungen nehmen zu können, war mir zu hoch. Ich hätte mich tief in den Apparat hineinbegeben müssen und wäre von ihm verschluckt worden. Macht zu besitzen und auszuüben widerspricht einfach meinem Naturell, wenn ich das so sagen darf.
Der Weg ins Leben war mir aus Gründen, über die hier nicht zu reden ist, versperrt. Ich stand, wie Robert Walser das einmal ausgedrückt hat, staunend vor der Tür des Lebens, die nur einen Spaltbreit geöffnet war.
So konnte ich aus meinem Abseits heraus beobachten, was im Leben der Erwachsenen vor sich geht, nahm aber nicht daran teil. Diese Beobachterrolle habe ich bis heute – nicht nur in meinem Schreiben – inne. Das distanzierte und staunende Beobachten ist die Essenz meines Schreibens und Lebens, was ja beinahe dasselbe ist.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Er ist unter anderem Verfasser einer dreibändigen "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus". Seit 2020 erscheint fortlaufend seine Durchhalteprosa, die Alltagsbeobachtungen mit gesellschaftskritischer Reflexion mischt.