Streit bei den Hobbits
Neue Argumente für die Diskussion um die Zwergmenschen von der indonesischen Insel Flores
Im September 2003 entdeckten Paläoanthropologen ein sehr kleines, menschliches Skelett, das sich als Sensation entpuppte. Denn die Knochen stammten nicht – wie zuerst angenommen – von einem Mädchen, sondern von einer erwachsenen Frau, einer Zwergin, die nur einen Meter groß und 25 Kilo schwer geworden war. Eine individuelle Missbildung? Die Entdecker waren und sind überzeugt davon, dass es sich um eine neue Menschenart handelt und nannten sie Homo floresiensis.
Die kleinen Menschen von Flores erhielten rasch den Spitznamen „Hobbits“ nach den kleinwüchsigen Bewohnern von Mittelerde aus dem Herrn der Ringe (vgl. Tolkien reloaded). Das erste Skelett war ungefähr 18.000 Jahre alt und wies verschiedene Merkmale auf, die nicht einfach einzuordnen waren. Die Hobbit-Frau hatte ein winziges, affenähnliches Gehirn, aber auch Hominiden-Merkmale. Ihre Oberschenkelknochen verdeutlichen, dass sie aufrecht lief. Sie hatte auffallend lange Armen, stark ausgeprägte Überaugenwülste, eine fliehende Stirn und kein Kinn.
Einer der am Fund beteiligten Wissenschaftler, Mike Moorwood von der University of New England in Armidale erklärte:
Es handelt sich im eine neue Art von Mensch, das mit uns [Homo sapiens] gleichzeitig lebte, aber nur halb so groß wurde wie wir. Sie erreichten die Größe eines dreijährigen Kindes, wogen um 25 Kilogramm und hatten ein kleineres Gehirn als die meisten Schimpansen. Trotzdem nutzten sie das Feuer, stellten technisch ausgefeilte Steinwerkzeuge her; und sie jagten Stegodons (eine primitive Art von Elefanten) und Riesenratten. Wir glauben, dass ihre Vorfahren die Insel auf Bambus-Flößen erreichten. Die logische Schlussfolgerung ist, dass diese kleinen Menschen, trotz ihrer winzigen Gehirne intelligent waren und ziemlich sicher über Sprache verfügten.
Skeleton reveals "lost world of little people"
Die Hobbit-Fossilien wurden in einer Schicht zusammen mit Steinwerkzeugen und den Knochen verschiedener Beutetiere gefunden (Die kleine Frau aus Flores). Die Einordnung als Homo floresiensis sorgte schnell für heftige Debatten in der Wissenschaftswelt. Viele Anthropologen bezweifelten, dass der Hobbit ein Nachkomme der ungefähr vor 800.000 Jahren zugewanderten Homo-Erectus-Population darstellt und durch die geringen Ressourcen der Inselwelt von Flores vor Ort schrumpfte. Ein Phänomen, das Island Dwarfing genannt wird: Durch natürliche Selektion haben kleinere Individuen einer Tierart bessere Überlebenschancen, auf einer Insel mit stark begrenztem Nahrungsangebot zu überleben. Mit der Zeit setzt sich der Zwergenwuchs in der Art durch, ein Effekt, der für die Fauna auf Flores nachweisbar ist.
Kleine Gehirne
Die Kritiker überzeugte diese Argumentation nicht, denn beim Island Dwarfing schwindet zwar die Körpergröße, aber das Gehirn schrumpft nicht im gleichen Maß. Ein langsam verzwergender Homo erectus müsste immer noch ein Hirn haben, dass niemals so klein könnte wir das der Halblinge von Flores. Ein Beispiel dafür sind die Pygmäen. Mit diesem kolonial geprägten Sammelbegriff werden verschiedene kleinwüchsige Gruppen von Jägern und Sammlern bezeichnet, deren Gehirn sich aber nicht proportional zum Körper reduzierte.
Die Zweifler hielten die etwa 30jährige Frau, deren versteinerte Knochen 2003 in der Liang Bua-Höhle ausgegraben wurden, schlicht für ein krankes Individuum, ein Opfer der Mikrozephalie, ein Leiden bei dem sich das Gehirn und oft auch der Körper krankhaft verkleinern.
Ein Team um Dean Falk von der Florida State University in Tallahassee erstellte eine virtuelle Rekonstruktion des Gehirns der Hobbit-Frau und verglich es zudem mit Gehirnen von Affen, eines Homo erectus, eines modernen Menschen sowie eines Pygmäen und eines im Alter von zehn Jahren verstorbenen Mikrozephalie-Patienten (The Brain of LB1, Homo floresiensis). Das Halbling-Hirn erwies sich dabei als ungewöhnlich und einmalig.
Als dann noch weitere zwergenhafte Individuen mit einem Alter bis zu 95.000 Jahren in der Liang-Bua ausgegraben wurden, verstummten die zweifelnden Stimmen – zumindest für eine Weile (Die Rückkehr der Hobbits). Aber jetzt wird wieder scharf geschossen. Robert D. Martin vom Field Museum in Chicago und Kollegen verschiedener Institute in den USA und Großbritannien zweifeln erneut die Schlüsse aus den Gehirnuntersuchungen an und stellen in der Wissenschaftszeitschrift Science erneut die Vermutung in den Raum, es handle sich zumindest bei der zuerst gefundenen Hobbit-Frau um einen modernen Menschen, sprich einen Homo sapiens, der an Mikrozephalie litt (Comment on "The Brain of LB1, Homo floresiensis".
Die Forscher kritisieren, dass eine Schrumpfung durch Selektion niemals das Hirn eines Homo erectus derartig winzig hätte werden lassen und zudem hätten Falk und Kollegen als Vergleichsstück des Schädel eines als 10jährigem Verstorbenen verwendet, was zu einer Verzerrung der Resultate geführt habe, denn die Hobbit-Frau sei erwachsen gewesen – und stelle schlicht eine individuelle Missbildung dar. Robert Martin bringt seine harten Vorwürfe auf den Punkt:
Es gab zu viel Medien-Hype und zu wenig kritische wissenschaftliche Evaluation rund um diese Entdeckung, und es ist schlicht inakzeptabel, dass wissenschaftliche Artikel publiziert werden, ohne dass die dazugehörigen Einzelheiten der untersuchten Exemplare vorgelegt werden. Das Prinzip der Wiederholbarkeit ist für die Wissenschaft fundamental und in diesem Fall wurde es nicht respektiert.
Das lassen Dean Falk und Kollegen natürlich nicht auf sich sitzen. Sie widersprechen öffentlich und machen darauf aufmerksam, dass sie den Homo floresiensis eben nicht für eine Sonderform des Homo erectus, sondern für eine ganz eigene Art halten. Das Hirn der Halblinge zeige eine ganz eigene Struktur, die sich auch deutlich von der des Homo sapiens unterscheide, und dennoch auf die Fähigkeit zum höheren Denken hinweise. Im Übrigen solle erstmal die Kritiker-Gruppe ihre Details und nicht nur Strichzeichnungen vorlegen, dann könne man anhand der Details weiter streiten (Response to Comment on "The Brain of LB1, Homo floresiensis").
Steinwerkzeuge
Das Team um Martin vertritt zudem die Meinung, dass die bei den Hobbit-Knochen gefundenen Steinwerkzeuge zu ausgefeilt sind, um von einem Homo Erectus oder einem anderen Hominiden zu stammen. Sie sind überzeugt, dass nur ein Homo sapiens über die handwerklichen Fähigkeiten verfügte, um sie herzustellen.
Diese Auffassung teilen die australischen Verteidiger der Eigenständigkeit des Homo floresiensis nicht – im Gegenteil: Nach einer eingehenden Analyse der Machart der Werkzeuge kam ein Spezialist an der University of New England, Mark Moore, zu dem Schluss, dass die gefundenen Stücke eine sehr primitive Form der Bearbeitung aufweisen (Stone tools reveal cognitive limitations of 'little people').
Unterstützung bekommt die Homo floresiensis-Fraktion jetzt von Paläoanthropologen, die eine große Zahl von sehr viel älteren steinernen Artefakten von einer anderen Grabung ausgewertet hat. Adam Brumm von der Australian National University in Canberra und Kollegen weiterer Institute aus Indonesien, den Niederlanden und Australien präsentieren in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature ihre Untersuchung von Steinwerkzeugen, die vermutlich von den Vorfahren der Hobbits stammen (Early stone technology on Flores and its implications for Homo floresiensis).
Das Team um Adam Brumm nahm mehr als 500 als Werkzeuge behauene Steine genauer unter die Lupe, die in Mata Menge (Ancient Mariners), einem Fundort in Zentral-Flores, 50 Kilometer von der Liang-Bua-Höhle entfernt, ausgegraben wurden. Sie stammen aus der Zeit der Zuwanderung des Homo erectus auf die Insel vor mehr als 800.000 Jahren. Die Feuersteinklingen ähneln in ihrer Machart sehr stark den bei den Halblingen gefundenen Stücken. Homo floresiensis verwendete also wahrscheinlich Techniken, die seine Homo-erectus-Vorfahren bereits auf die Insel mitgebracht hatten und die sich in Hunderttausenden von Jahren kaum änderten. Die Wissenschaftler sind angesichts ihrer Analysen überzeugt, dass zumindest die gefunden Steinwerkzeuge kein Grund sind, die Eigenständigkeit der Art Homo floresiensis anzuzweifeln. Sie schreiben:
Die Beweise von Meta Menge verwerfen die Annahme, dass die steinernen Artefakte, die dem Homo floresiensis zugeordnet werden, technisch derartig komplex sind, dass sie von modernen Menschen (Homo sapiens) angefertigt worden sein müssen.