Streit um Tunnel unter Naturschutzgebiet bei Wien

Kinder im Landschaftsschutzgebiet Obere Lobau. Foto: Harald Ulver / CC-BY-SA-4.0

Österreichs Hauptstadt wird von einer Entscheidung der Bundesregierung erschüttert: Der Bau des Lobautunnels wurde Anfang Dezember gestoppt. Sind neue Formen der Bürgerbeteiligung fällig?

Wie zahlreiche andere Großstädte Europas dies ebenso seit Jahrzehnten tun, plant Wien an einem Autostraßenring rund um die Stadt, um des zunehmenden Verkehrs- und insbesondere Fernverkehrsaufkommens Herr zu werden.

Ein Lkw, der von Danzig nach Zagreb oder von Bukarest nach Brüssel fährt, wird meist, wenn er Wien erreicht, über die sogenannte "Tangente" geführt, die Stadtautobahn, die nur gut drei Kilometer Luftlinie vom Stephansdom entfernt liegt.

Die Autobahn gleicht oft einem riesigen Parkplatz, weil sie das große Verkehrsaufkommen von mehr als 200.000 Fahrzeugen am Tag nicht mehr bewältigen kann. Deshalb wird seit langem an einer weiteren Donauquerung geplant, um insbesondere den Fernverkehr aus der Innenstadt herauszuhalten.

Hier beginnt Wiens topografisches Unglück: Im Osten liegt nämlich mit der Lobau eine Auenlandschaft, die ein einzigartiges und schützenswertes Ökosystem beherbergt. Weil eine Autobahnbrücke die Lobau fraglos erledigt hätte, entschied man sich zu einer teuren Untertunnelung – in der irrigen Annahme, damit seien sowohl Frösche als auch Frächter zufrieden.

Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler unterzog das Bauprojekt einer erneuten Umweltprüfung und kam zu dem Ergebnis, dass die neue Donauquerung nicht gebaut werden kann. Dies tat sie nicht nur zur Freude der zahlreichen Umweltaktivisten, die seit Jahren gegen den Lobau-Bau protestierten, sondern sie markierte damit vielleicht auch einen Epochenwechsel in der österreichischen Bundespolitik, weil damit erstmals den Gefahren durch den Klimawandel Rechnung getragen wird.

Ist ein Tunnel die Lösung?

Die von der SPÖ geführte Wiener Stadtregierung hingegen schäumt. Aus ihrer Sicht hat man jahrzehntelange Umweltprüfungsverfahren durchgeführt, als deren endgültiges Ergebnis die Baugenehmigung zu gelten hat. Prüfungsverfahren, die, wie gerne von der SPÖ betont wird, unter der damaligen grünen Vizebürgermeisterin durchgeführt wurden – und somit hätten die Wiener Grünen entschieden, was die Bundesgrünen nun abblasen.

An dieser Stelle tut sich ein Abgrund auf, der noch viel tiefer reicht als der in 60 Meter Tiefe geplante Lonautunnel. Beide Seiten, die Stadtregierung, Wirtschaftsverbände und die ÖVP einerseits und die Grünen gemeinsam mit vielen Umweltinitiativen andererseits, führen in diesem Streit minutiöses Fachwissen an, das kaum wiedergegeben werden kann, ohne parteiisch zu wirken.

Nur so viel: Der Tunnel würde die Donauauen aufgrund von Bautätigkeit und späterer Abgasemissionen (die können nicht im Tunnel bleiben) tatsächlich beeinträchtigen. Da im Untergrund Wiens traditionell vieles liegt, sind auch hier gewisse Überraschungen zu erwarten.

Ein Beispiel: Während des Zweiten Weltkriegs mussten Zwangsarbeiter den Ölhafen Lobau anlegen. Unter dem noch heute genutzten Hafengebiet findet sich ein stark verschmutztes Erdreich, vor dem die für Wiens Wasserversorgung genutzten Auen mittels einer Mauer geschützt werden. Ebendiese Mauer würde beim Bau des Tunnels perforiert werden.

Kein Problem, sagen die Befürworter des Tunnels. Ein riesiges Problem, behaupten die Gegner des Baus. Denen geht es aber auch um viel mehr. Die Zufahrtsstraßen zu dem Tunnel wären fraglos eine Bodenversiegelung und würden Ackerland vernichten, wovon die Wien überraschenderweise im Osten des Stadtgebiets noch viel besitzt.

Die Befürworter des Baus sagen nun, die Zeit des Rüben- und Salatanbaus in einer Zwei-Millionen-Stadt sei eben vorbei; und durch die Blockade des Bauprojekts sind nun Genehmigungsverfahren hinfällig, die einzuholen eben Jahrzehnte gedauert hat. Die Stadt stehe jetzt ohne Alternative da und die gnädige Frau Umweltministerin solle bitte sagen, welche Lösung sie sich vorstelle, die nicht auch wieder Jahrzehnte der Prüfung erfordern werde. Bis dahin ersticke die Stadt im Lkw-Verkehr.

Wie vermitteln?

Die Lösungen hat die grüne Umweltministerin nicht und kann sie auch nicht haben. Sie tritt das Erbe einer langjährigen wachstums- und verkehrsfreundlichen Politik an, die nicht so leicht beendet werden kann. Europäischer Güterverkehr findet in hohem Maße mittels Lkw statt. Die Waren können in Wien nicht auf Straßenbahnen umgeladen werden. Aber wo sind die Schienenprojekte für einen ökologischeren Warentransport?

Die Stadt Wien bietet selbst durch ihre Bautätigkeit reichlich Anschauungsmaterial für die Frage, wie es um die Verlagerung auf die Schiene so steht. Der Öffentliche Nahverkehr in Wien ist vorbildlich. U-Bahnen und Straßenbahnen werden ausgebaut und das Angebot ist gut. Zugleich haben die Österreichischen Bundesbahnen das Schienennetz in Wien drastisch reduziert, weil sie in Teilen längst eine Art "Immobiliengesellschaft" geworden sind.

Verkehrsflächen, die "nicht mehr gebraucht werden", wurden umgewidmet in lukratives Bauland in Innenstadtnähe. Nur, wer Hochhäuser links und rechts eines verkleinerten Schienenstrangs bauen lässt, der glaubt selbst nicht an das Wachstum des "Erfolgsmodells Schiene".

Wen dies alles an die hitzigen Debatten rund um Stuttgart 21 erinnert, der oder die liegt nicht ganz falsch. Mit dem Lobautunnel wird ihn Wien ein ähnlicher Kampf geführt zwischen zwei sehr unversöhnlichen Lagern. Eine Vermittlung ist enorm schwierig.

Wirtschaftsverbände und Autoclubs wie der ÖAMTC sind mit dem Schienenverkehr durch. Sie glaube nicht daran, dass es in absehbarer Zeit zu einer echten Renaissance des Güterverkehrs auf der Schiene kommen wird. Sie sehen auch kein Umweltproblem, weil es bald ohnehin mehr Elektromobilität gäbe. Dass es momentan keinen einzigen gut funktionierenden Elektro-Lkw gibt, sei nur ein Problem, das bald durch Innovation behoben werde.

Die Gegenseite macht eine andere Rechnung auf. Jede neue Straße führe zu einem Verkehrszuwachs. Jeder neue Autobahnkilometer mache das Fahren von Pkws und Lkws wieder attraktiver und lukrativer. Die Glasgower Klimaziele seien mit dieser Art Verkehrspolitik niemals zu erreichen. Wer die Klimakrise und das Streben nach Klimagerechtigkeit ernst nehme, müsse endlich aufhören, Straßen zu bauen.

Wer der Umweltministerin Gewessler genau zuhört, erkennt ähnliche Argumentation in ihren Aussagen: Sie könne nicht Entscheidungen weitertragen, die vor Jahrzehnten und vor einem anderen Hintergrund getroffen wurden. Heute sind die Gefahren des Klimawandels wissenschaftlich verbürgt. Die Republik Österreich müsse dem nun Rechnung tragen, weil ihre Bundesverfassung Schutzpflichten vorsieht. Der Staat müsse deshalb nun vorsorglich agieren, um weiteren durch den Klimawandel entstehenden Schaden von der Bevölkerung abzuwenden.

Und wenn mal die Bürger entscheiden würden?

Bliebe aber die faktische Frage nach den Alternativen. Was kann den frustrierten Autofahrern, die keine Alternative zum PKW-Verkehr haben, wenn sie beispielsweise Berufspendler sind, angeboten werden? Wie kann man zugleich den Sorgen um eine lebenswerte Natur- und Umwelt in Wien gerecht werden?

Überraschenderweise schließt Bürgermeister Michael Ludwig von der SPÖ nun eine Volksbefragung nicht mehr aus. Hier sind natürlich gewisse Bedenken anzumelden. Eine Volksbefragung gewinnt, wer die Frage formuliert, hat angeblich einmal Konrad Adenauer gesagt.

Möglicherweise wünscht sich die Wiener Stadtregierung ein Ergebnis, das ihre Position und die Notwendigkeit des Straßenausbaus untermauert. Befragungen dieser Art sind rechtlich unverbindlich, aber nicht ohne Risiko für die politischen Entscheider. Ist das Ergebnis doch nicht das bestellte, dann wird es viel schwerer, dies durchzusetzen.

In Wien haben sich verschiedene Initiativen zusammengefunden, die dem Problem mit einem "Zukunftsrat Verkehr" beikommen wollen. Von der aktuellen Entwicklung sind sie überrascht und geben offen zu, dass ihre eigenen Mobilisierung und Projektentwicklung noch im Aufbau befindlich sei. Die Brisanz der Lobau-Entscheidung der Ministerin Gewessler kommt deshalb für den Zukunftsrat etwas zur Unzeit.

Was aber in den nächsten Monaten erreicht werden soll, ist ein möglichst breiter, diverser und niederschwelliger Diskussionsprozess unter Einbeziehung der Menschen in Wien und Niederösterreich, die unmittelbar von dem Bau oder Nichtbau der Autostrecke betroffen wären.

Bei dieser Grassroots-Initiative sollen Stimmen gehört werden von Bürgern, die weder parteipolitisch engagiert sind (und die zu erwartenden "Talking Points" im Gepäck haben), noch in irgendeiner Form Lobbyisten sind.

Die Schwierigkeiten hierbei sind groß, weil gerade bei Verkehrsthemen einen äußerst aufgeheizte Stimmung herrscht. Den wutschäumenden Debatten in den sozialen Medien will man nicht eine weitere Plattform geben, sondern zu echtem Dialog und Ausgleich divergierender Interessen einladen.

Die Demokratiewissenschafterin und Evaluatorin des Klimabürgerrats, Tamara Ehs, betont, dass Bürgerräte bereits in anderen Ländern durchaus erfolgreich an politischer Bildung und Entscheidungsprozessen beteiligt sind. In Österreich komme dies noch zu kurz. Die wichtigen Klimaschutzziele seien aber vielleicht erst durch einen Klimabürgerrat durchzusetzen und auch bei der Lobau-Frage wäre es gut, wenn zumindest eine Art Bürgergutachten mit einbezogen würde.

Auch sei bei so komplexen Fragen wie dem Verkehr eine Ja- oder Nein-Option fast immer falsch und für diejenigen, die ihr Kreuzerl machen, schlicht unbefriedigend. Besser als ein Referendum über den Straßenbau, sei ein "Präferendum", bei dem Vorschläge von Bürgerinitiativen als Alternativen einfließen könnten.

Das klingt sehr interessant und zugleich nach einem weiten Weg für Initiativen dieser Art. "Räte" haben in bürgerlichen Kreisen in Österreich aus historischen Gründen keinen guten Klang, weshalb sie sorgfältig kaschiert werden müssen mit Zusätzen, wie "Zukunftsrat" oder "Bürgerrat", um die nötige Akzeptanz zu erreichen.

Unter welchem Label auch immer, müsste es mit den Räten gelingen, möglichst vielen Menschen im erweiterten Stadtraum Wiens, auch jenen die nicht über die "richtige" Staatsbürgerschaft verfügen, ein Angebot zu machen, das ihnen glaubhaft vermittelt, ihre Meinung würde gehört werden und ihre Interessen mit den vielleicht entgegengesetzten Interessen anderer Bürger vermittelt.

Wenn dies gelänge, dann würde die im Kleinklein und parteipolitischem Hickhack zuweilen erstickende österreichische Demokratie an Reife und Akzeptanz hinzugewinnen. Zur Freude von Mensch und Umwelt.

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