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Streit zwischen Ukraine und Polen: Was Kiew daraus lernen sollte

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der polnische Präsident Andrzej Duda. Bild: Ukrainisches Präsidentenbüro / CC0

Auch wenn es einen Kompromiss bei Getreidelieferungen gibt: Spannungen deuten auf tiefere Verwerfungen. Warum Moskau zu hassen nicht heißt, Kiew zu lieben.

Der erbitterte Streit zwischen Polen und der Ukraine verdeutlicht einige Aspekte des westlichen Ansatzes für den Krieg in der Ukraine, die die ukrainische Regierung aufmerksam studieren sollte.

Der Streit hat seinen Ursprung in Vorwürfen Polens [1] und anderer mitteleuropäischer Regierungen, dass die stark gestiegenen Getreideexporte der Ukraine nach Europa – eine Folge der russischen Sperrung des Schwarzen Meeres für den ukrainischen Seehandel – die europäischen Märkte überschwemmen und die Preise für polnische und andere Landwirte drücken.

Die Lockerung der EU-Beschränkungen für ukrainische Lieferungen sollte es der Ukraine ermöglichen, die Ausfuhren nach Ägypten und in andere Länder wieder aufzunehmen, in denen die bedürftige Bevölkerung unter den gestiegenen Preisen infolge des Krieges leidet.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.

Ein beträchtlicher Teil davon ist jedoch in die EU selbst gegangen. Die EU verhängte ein vorübergehendes Verbot, das sie jedoch nicht aufheben wollte, als es am 15. September auslief. Polen, Ungarn und die Slowakei haben das Verbot jedoch unter Missachtung der EU-Vorschriften aufrechterhalten [2].

Die ukrainische Regierung hat Polen bei der Welthandelsorganisation verklagt und behauptet, dass der polnische Schritt vor allem durch den Wunsch der Regierung motiviert ist, die Stimmen der Landwirte bei den polnischen Parlamentswahlen im nächsten Monat zu erhalten.

In einer Rede vor den Vereinten Nationen beschuldigte Präsident Wolodymyr Selenskyj Polen und andere Länder, ein Theater zu inszenieren und "aus Getreide einen Thriller zu machen". Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki schlug heftig zurück:

Ich möchte Präsident Selenskyj sagen, dass er die Polen nie wieder beleidigen darf, wie er es kürzlich in seiner Rede vor der Uno getan hat. Das polnische Volk wird so etwas niemals zulassen. Den guten Namen Polens zu verteidigen ist nicht nur meine Pflicht und Ehre, sondern auch die wichtigste Aufgabe der polnischen Regierung.

Der polnische Präsident Andrzej Duda fügte hinzu:

Die Ukraine verhält sich wie ein Ertrinkender, der sich an alles klammert, was ihm zur Verfügung steht. Ein Ertrinkender ist extrem gefährlich, er kann einen in die Tiefe reißen und seinen Retter ertrinken lassen.

In einem Schritt, der weithin als Vergeltungsmaßnahme für die Proteste der Ukraine gegen das Getreideverbot interpretiert wird, hat Polen außerdem die Waffenlieferungen an die Ukraine gestoppt [3] und darauf bestanden, dass es sich nun auf die Ausrüstung seiner eigenen Streitkräfte zur Verteidigung Polens konzentrieren wird.

Das ist deshalb so ungewöhnlich, weil Polen sich lange Zeit als der größte Freund der Ukraine im Westen präsentiert und anderen westlichen Regierungen Feigheit vorgeworfen hat, weil sie nicht mehr für die Bewaffnung und Unterstützung der Ukraine tun.

Die erste Lehre, die wir aus all dem ziehen müssen, ist, dass selbst in Ländern, deren Bevölkerung die Ukraine am meisten unterstützt, diese Hilfe Grenzen hat, wenn sie ihnen selbst hohe und sichtbare Kosten auferlegt, und dass Politiker die daraus resultierende politische Reaktion unweigerlich ausnutzen werden. Das hat vor allem Auswirkungen auf die Chancen der Ukraine, der Europäischen Union beizutreten.

Im Falle Polens und anderer ehemals kommunistischer Staaten Mitteleuropas wurde ihr Weg zur EU-Mitgliedschaft durch umfangreiche Finanzhilfen der EU unterstützt. Der EU-Fonds für regionale Entwicklung [4] unterstützt weiterhin benachteiligte Gebiete in Polen und seinen Nachbarländern.

Die Ukraine so weit zu unterstützen, dass sie der EU beitreten kann, wird jedoch eine Aufgabe ganz anderer Größenordnung sein. Schon vor der russischen Invasion war die Ukraine eines der ärmsten Länder Europas, mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP von nur 4.828 Dollar [5] im Jahr 2021 (verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38.436 Dollar [6]). Ihre Chancen, in absehbarer Zeit der EU beizutreten, galten als verschwindend gering.

Eine zerstörte Ukraine wird niemals der EU beitreten können

Außerdem hatten die EU-Länder (sowohl in West- als auch in Mitteleuropa) stets Angst vor billigen ukrainischen Lebensmittelimporten. Das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU verbot ausdrücklich die meisten ukrainischen Getreideexporte als Teil der EU-Strategie zum Schutz der europäischen Landwirte durch ihre Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).

Dieses Verbot wurde von Brüssel erst als Reaktion auf die russische Invasion und Blockade aufgehoben. Polen hat es nun wieder eingeführt.

Im März dieses Jahres schätzte die Weltbank [7] die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg bis dahin auf rund 411 Milliarden Dollar. Diese Kosten werden natürlich weiter steigen, je länger der Krieg andauert.

Die gesamten EU-Ausgaben für die Krisengebiete innerhalb der EU belaufen sich in den sieben Jahren von 2014 bis 2021 auf 200 Milliarden Dollar. Nach den jüngsten Schritten Polens zu urteilen, scheint es unwahrscheinlich, dass eine künftige polnische Regierung von ihren Wählern verlangen wird, den polnischen Anteil an diesen Kosten zu übernehmen. Und wenn Polen nicht will, wer dann?

Ein weiterer Punkt, den die Ukrainer beachten sollten, ist, dass, wie Polens jüngste Reaktionen zeigen, Hass auf Russland und echte Sympathie für die Ukraine keineswegs dasselbe sind und sich sogar widersprechen können. Am polnischen Hass auf Russland kann kein Zweifel bestehen. Aber hinter der bemerkenswert harten Rhetorik der letzten Zeit zeigt sich, dass Polen und Ukrainer auch historisch gesehen erbitterte Feinde waren.

Das polnische Königreich und die polnische Republik zwischen 1919 und 1939 versuchten, ihre ukrainischen Bürger zu polonisieren, so wie die Russen versuchten, die ihren zu russifizieren. Bei ukrainischen Aufständen gegen die polnische Herrschaft wurden sowohl Polen als auch Juden massakriert.

Politische Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern um die Kontrolle über Galizien trugen in den Jahren vor 1914 zur Untergrabung der österreichisch-ungarischen Monarchie bei. Nach 1918 annektierte Polen die ukrainischen Gebiete Galiziens gewaltsam und behielt sie, bis sie im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Pakts von Josef Stalin an die Sowjetukraine abgetreten wurden – weshalb sie heute in der Ukraine und nicht in Polen liegen.

Während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg massakrierten ukrainische nationalistische Partisanen Zehntausende von ethnischen Polen, und Ukrainer, die in der 1. galizischen Division der Waffen-SS dienten, nahmen an rücksichtslosen deutschen Operationen gegen den polnischen Widerstand teil.

In den letzten Jahren haben sowohl Kiew als auch Warschau versucht, diese Geschichte herunterzuspielen, aber die Erinnerungen daran sind auf beiden Seiten immer noch sehr lebendig.

Diese Geschichte gilt insbesondere für Polen und die Ukraine. Aber auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten sollten sich die Ukrainer fragen, wie viel von der US-Unterstützung für die Ukraine durch echte Sympathie motiviert ist. Und was nur darauf abzielt, so viele Russen wie möglich zu töten und Russland so weit es geht zu schwächen, egal, wie viele Ukrainer dabei sterben oder wie sehr die Ukraine dabei geschwächt wird – wie einige Äußerungen von US-Politikern und -Vertretern zu vermuten scheinen.

So prahlte [8] Senator Mitch McConnell kürzlich: "Wir vernichten die russische Armee, ohne einen einzigen amerikanischen Soldaten zu verlieren."

Andere Hardliner-Kommentatoren in den USA haben argumentiert [9], dass es notwendig sei, Russland in der Ukraine zu besiegen, um China zu schwächen – was aber nicht der Grund ist, warum die ukrainischen Soldaten glauben, kämpfen und sterben zu müssen.

Ein Krieg auf unbestimmte Zeit, bei dem es keinen eindeutigen Sieger gibt, wird Russland in der Tat schwächen, aber er wird auch die unabhängige Ukraine ruinieren – etwas, das jetzt ein zentrales russisches Kriegsziel zu sein scheint [10]. Zudem wird eine zugrunde gerichtete Ukraine niemals in der Lage sein, der EU beizutreten.

Wenn das eintritt, werden die westlichen Versprechungen und Feststellungen über den westlichen Weg der Ukraine letztlich nichts zählen. Die Ukraine wird – wie sie es den größten Teil der Geschichte über war – ein verarmtes Grenzland zwischen Polen und Russland bleiben.

Das ist kein Ergebnis, auf das der Westen hinarbeiten sollte, wie sehr Russland dabei auch geschädigt werden mag.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [11]. Übersetzung: David Goeßmann [12].

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9324060

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.politico.eu/article/poland-farmer-law-and-justice-agriculture-grain-war-ukraine-russia/
[2] https://www.nytimes.com/2023/09/16/world/europe/ukraine-grain-ban-poland-hungary-slovakia.html
[3] https://www.newsweek.com/ukraine-double-dose-bad-news-top-nato-allies-1828976
[4] https://ec.europa.eu/regional_policy/funding/erdf_en
[5] https://www.macrotrends.net/countries/UKR/ukraine/gdp-per-capita
[6] https://www.macrotrends.net/countries/EUU/european-union/gdp-per-capita#:~:text=European%20Union%20gdp%20per%20capita%20for%202021%20was%20%2438%2C436%2C%20a,a%202.12%25%20decline%20from%202019.
[7] https://www.nytimes.com/2023/03/27/world/europe/the-world-bank-estimated-the-cost-of-rebuilding-ukraine-at-411-billion-support-is-growing-to-use-russian-funds-for-it.html#:~:text=The%20World%20Bank%20estimated%20the%20cost%20of%20rebuilding%20Ukraine%20at%20%24411%20billion.
[8] https://twitter.com/clashreport/status/1705866469886603378
[9] https://foreignpolicy.com/2022/04/05/china-russia-war-ukraine/
[10] https://newsland.com/post/7698415-karaganov-podgotovil-sekretnyy-doklad-dlya-putina-migrantam-vse-russkim-deportaciya-v-sibir-i-katorga
[11] https://responsiblestatecraft.org/ukraine-aid-government-shutdown-2665775252/
[12] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html