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Stresstest zugunsten Frankreichs

Wir erleben nicht nur eine Gaskrise. Die wirkliche Gefahr geht von alten AKW aus. Ein Blick auf die Krise der französischen Atomindustrie und die Entscheidung über deutsche Laufzeitverlängerungen.

Der zu Beginn dieser Woche veröffentlichte Stresstest der Bundesregierung sieht vor, die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 als Notreserve bis zum April 2023 bereitzuhalten – ein Fehler. Denn die beiden besagten Atomkraftwerke stellen ein besonders erhöhtes Risiko dar. Gleichzeitig reicht ihre Stromproduktion nicht aus, um etwaige Energieknappheiten zu beheben.

Doch statt die erneuerbaren Energien mit Hochdruck auszubauen und einen Stromsparplan zu entwickeln, scheinen CDU und FDP, wie schon 2009, erneut Laufzeitverlängerungen auch über April 2023 hinaus, anzustreben. Der Grund: die deutsch-französische Zusammenarbeit und die zivil-militärische Nutzung von Atomenergie.

Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass es sich zurzeit nicht nur um eine Gaskrise handelt, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und die EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Es gibt ein weiteres Problem: Fast alle europäischen und deutschen Atommeiler sind alt – mehr als 80 Prozent laufen schon länger als 30 Jahre1 [1] und sind korrosionsanfällig. Das gilt besonders für die französischen Atomkraftwerke. Zu Anfang dieses Jahres musste ein Drittel und aktuell mehr als die Hälfte der französischen Atommeiler vom Netz genommen werden.

Dr. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin und Ko-Vorsitzende der Deutschen Sektion der Friedens- und Ärzteorganisation IPPNW.

Neben den Korrosionsproblemen ist dafür vor allem der Klimawandel verantwortlich: Wasserpegel sinken, das Kühlwasser in den Flüssen ist entweder zu warm oder nur noch unzureichend vorhanden. Frankreich hat ein strukturelles Problem mit seinen Atommeilern; es muss im Gegensatz zu früheren Jahren Strom importieren.

Deswegen versorgen andere Länder, darunter insbesondere Deutschland, Frankreich mit dem fehlenden Strom, um das Netz zu stabilisieren und einen Blackout zu verhindern. Die Wissenschaftler:innen des Fraunhofer ISE stellten fest, dass die Stromproduktion aus Erdgas im Mai 2022 einen Höchststand erreichte [2].

Nuklearkrise und "Energieschmerzen" für Europa

Deutsche Gaskraftwerke haben kurzfristig den fehlenden Strom aus französischen Atomkraftwerken ersetzt. Allein im Juni 2022 flossen 1,7 Milliarden Kilowattstunden Strom [3] aus deutschen Gaskraftwerken nach Frankreich, um den Atomstromausfall der französischen Atomkraftwerke zu kompensieren.

Schon im Mai 2022 titelte [4] die Wirtschafts- und Finanzagentur Bloomberg: "Die sich vertiefende Nuklearkrise in Frankreich wird für Europa noch mehr Energieschmerzen bedeuten". Bloomberg warnte wegen des langfristigen Ausfalls der französischen Atomkraftwerke vor hohen Preisen und Schwierigkeiten für die Energieversorgung im kommenden Winter. Die Entscheidung um die Laufzeitverlängerung in Deutschland ist damit direkt verbunden.

Nüchtern betrachtet überrascht es, wie Sicherheitsaspekte in der Entscheidung führender Politiker komplett ausgeblendet werden. Die neueste Studie des BUND [5] erinnert daran, dass Deutschland den Atomausstieg 2011 mit der Begründung der unberechenbaren Sicherheitsrisiken im AKW-Betrieb beschlossen hat.

Das Sicherheitsrisiko ist jedoch seit 2011 größer geworden. Die drei am Netz verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland haben ihre Betriebsdauer von 30 Jahren überschritten. Zudem erlaubten die Atomaufsichtsbehörden den Betreibern Abstriche auf Sicherheitsüberprüfungen, Nachrüstungen und Reparaturen.

In den Reaktoren der Meiler Neckarwestheim und Lingen wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Risse in den Dampferzeugern entdeckt. Ursache ist eine Spannungsrisskorrosion in den Dampferzeugerrohren, die im ungünstigen Fall einen Super-Gau auslösen kann. Im Atomkraftwerk Neckarwestheim sind bereits mehr als 300 Risse bekannt. Risse, wie sie auch in französischen AKW festgestellt wurden, die deshalb vom Netz gehen mussten. Lokale Atomkraftgegner:innen haben zusammen mit der Antiatominitiative "Ausgestrahlt" Klage gegen den Weiterbetrieb erhoben.

Das ganze Dilemma der Atomkraftdebatte zeigt sich am Beispiel der französischen Atomindustrie. Hier wird auf dramatische Weise sichtbar, welche Defizite eine ausschließlich auf Atomkraftwerke ausgerichtete Stromgewinnung mit sich bringt. In Frankreich werden rund 70 Prozent [6] des Stroms mit Atomkraftwerken erzeugt.

AKW-Verlängerung blockiert Energiewende

Die fortgesetzte Nutzung von Atomkraft blockiert die dringend notwendige Energiewende [7], in Frankreich, Deutschland und ganz Europa. Denn Atomkraft ist träge, sie kann nicht kurzfristig zurückgefahren werden, wenn erneuerbare Energien gerade im Überfluss zur Verfügung stehen.

Wie Frankreich in diese selbstverschuldete Atomkrise rutschen konnte, wird deutlich, betrachtet man den zivil-militärischen französischen Atomindustriekomplexes. Infrastrukturen und Investitionen werden doppelt genutzt: zivil und militärisch. Sie sind auf eine langfristige Weiterentwicklung ausgerichtet, um die Infrastruktur für die Produktion von Atomwaffen und atomaren U-Booten zu sichern.

Bereits vor Beginn des Ukraine-Kriegs hatte der französische Präsident Macron der EU das Angebot gemacht, mit ihr über gemeinsame Atomwaffen zu reden [8]. "Wir glauben", so Macron, "die französische nukleare Abschreckung ist ein Weg, europäische Interessen zu schützen."

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs scheint dieses Interesse an einer doppelten Nutzung der Atomenergie auch in Deutschland zu wachsen. So plädierten bereits hochrangige Vertreter in der CDU für europäische Atomwaffen: Im Mai 2022 nahm der erste parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU Fraktion Torsten Frei die von Macron angestoßene Debatte in einem Gastbeitrag [9] in der FAZ auf.

Der Titel: "In der Krise das Undenkbare denken: Europa braucht eine eigene atomare Abschreckungsstreitmacht." Frei plädierte darin für eine Europäisierung der französischen Atommacht. Anschließend griff CDU-Chef Friedrich Merz im Juni 2022 das Angebot Macrons auf: Angesichts der Weltlage sähe er in einer gemeinsamen europäischen "nuklearen Kapazität unsere Lebensversicherung" [10]. Es dürfe da "keine Tabus mehr" geben.

Im Juli 2022 äußert sich schließlich der CDU-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, er halte eine nukleare Abschreckung auf europäischer Ebene für unverzichtbar [11]. Die europäische Verteidigungskapazität sei ohne die nukleare Dimension nicht denkbar. Auch der ehemalige deutsche Botschafter Eckhard Lübkemeier und andere Persönlichkeiten hatten sich zu der Idee geäußert.

So ist es nicht unwahrscheinlich, dass hinter den Laufzeitverlängerungen bis April das Kalkül steht, diese aus Interesse an einer Zusammenarbeit mit Frankreich, im zivilen und militärischen Bereich der Atomenergienutzung, auch über dieses Datum hinaus am Netz zu halten.

Dass die Altmeiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen, wird dabei wissentlich in Kauf genommen – nicht um uns selbst vor einem Blackout zu bewahren, sondern um Frankreich weiter mit Strom zu versorgen und sich die Möglichkeit offenzuhalten, an einer europäischen Atombombe mitzuwirken.

Dr. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin und Ko-Vorsitzende der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) sowie Präsidentin der IPPNW Europa.


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https://www.heise.de/-7259343

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Stresstest-zugunsten-Frankreichs-7259343.html?view=fussnoten#f_1
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/erdgas-stromversorgung-101.html
[3] https://www.klimareporter.de/deutschland/koalition-der-unwilligen-torpediertes-repowering-und-der-atomfetischismus
[4] https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-05-19/european-electricity-prices-jump-as-france-cuts-nuclear-forecast
[5] https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/atomkraft/atomkraft_atomstudie_laufzeitverlaengerung_2022.pdf
[6] https://www.nytimes.com/2022/06/18/business/france-nuclear-power-russia.html
[7] https://winfuture.de/news,129073.html
[8] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frankreich-erneuert-das-angebot-mit-der-eu-ueber-atomwaffen-zu-reden-17731897.html
[9] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/atommacht-europa-braucht-eine-eigene-atomare-abschreckung-18053196.html
[10] https://www.tagesspiegel.de/politik/nukleare-kapazitaet-ist-unsere-lebensversicherung-cdu-chef-merz-europa-muss-atommacht-werden/28400280.html
[11] https://www.deutschlandfunk.de/schaeuble-brauchen-auch-auf-europaeischer-ebene-die-nukleare-abschreckung-110.html