Strukturwandel verpasst: Deutschlands wirtschaftlicher Niedergang seit den 80er-Jahren

Deutschland war ein Wirtschaftswunder. Doch die Stärke schwindet schon seit Längerem. Was einst fehlschlug, wirkt bis heute nach. Ein Kommentar.
Nun ist der Sonderkredit aufgenommen, um die große Rechnung zu bezahlen. Es ist die Rechnung für eine jahrzehntelange Haushaltsführung mit strukturellen Schwächen. Sie fällt an, weil notwendige Korrekturen zum Erhalt unserer Wehrfähigkeit, unserer Infrastruktur und vor allem unserer Wirtschaftskraft seit Jahrzehnten ausgeblieben sind.
Der Bundestag hat die Schuldenbremse ausgesetzt, um die Verschuldung zu ermöglichen. Das heißt, die Neuverschuldung und die Staatsschulden steigen weiter an.
Schwächen schon in den Achtzigerjahren absehbar
Die Schwächen der bundesdeutschen Wirtschaft waren schon in den Achtzigerjahren klar geworden, unter Helmut Kohl. Seine Vorgänger, noch geprägt vom Aufbauwillen der Nachkriegsjahre, hatten Deutschland zu einem außergewöhnlichen Wirtschaftsstandort mit enormer Wohlstandsentwicklung gemacht.
Doch die Schulden und die Neuverschuldung nahmen zu. Das Grundgesetz mit seinem Art. 109 GG zur Schuldenbremse konnte daran nichts ändern.
Manche nannten es ein Wunder. Aber Kohl, dessen Schwerpunkt auf historischen und sozialen Themen lag, wurde von Kritikern mangelndes wirtschaftliches Gespür vorgeworfen. Er ließ die Gewerkschaften gewähren, und auch der Zeitgeist forderte mehr Soziales.
Lothar Späth hätte es richten können
Das war allgemein klar in der Wirtschaft, aber auch in der arbeitenden Bevölkerung rumorte es. Lothar Späth sollte deshalb Kohl ablösen. Das war 1988. Er wäre wohl der Mann gewesen, der hier Korrekturen im Format eines Helmut Schmidt hätte umsetzen können. Aber Kohl konnte sich an der Macht halten. Die CDU stand hinter ihm, trotz wachsender Staatsschulden und Verschuldung.
Lesen Sie auch
Chiptraum geplatzt: Wie Deutschlands Halbleiter-Vision zerbröckelt
Von Stasi bis AfD: Die unvergänglichen Klischees über Ostdeutschland
311.000.000 Texte analysiert: So blickt unsere Presse auf Ostdeutschland
Journalistische Voreinstellungen: Gefühlte Fakten beim Blick auf Ostdeutschland
Chipkrise bei Intel: Magdeburger Fabrikbau um zwei Jahre verschoben
Dann kam die Gelegenheit zur Wiedervereinigung, und Kohl war der große Held. Aber die Herausforderungen bei der Wiederherstellung der Wirtschaftskraft blieben bestehen. Nach anfänglich ehrgeizigen Aufbau-Investitionen vieler Unternehmen zog sich die internationale Wirtschaft enttäuscht zurück, als die IG Metall das westdeutsche Lohn-Niveau als bereits kurzfristiges Ziel erklärte.
Der Aufschwung Ost blieb aus
Aber solche Lohn-Niveaus passten nicht zu Aufbauphasen und so blieb der Aufschwung in Ostdeutschland aus. Wieder stiegen die Schulden, dieses Mal für die Einheit Deutschlands.
Kohl vermied sogar jeden weiteren Ratschlag von Lothar Späth, diesem erfahrenen Wirtschaftspolitiker, und ließ Wolfgang Schäuble dicke Steuerpakete gestalten, entgegen dem Ratschlag von Lothar Späth.
Die Stadt Jena als Gegenbeispiel
Was der gekonnt hätte, zeigt heute die blühende Stadt Jena, die Einzige neben Dresden, die wirklichen Aufschwung erlebt hat. Fast alles andere in den ostdeutschen Bundesländern ist kraftlos. Die AfD macht sich dies heute zunutze und macht Front gegen die etablierten Parteien wie CDU und SPD.
Nun also neue Schulden, mehr als je zuvor. Friedrich Merz von der CDU bezeichnet diese Kredite als notwendig. Sahra Wagenknecht hielt dagegen: „Das wird den Menschen teuer zu stehen kommen.“ Und das schon jetzt, wo so mancher über seine Steuererklärung klagt.
Geschichte wiederholt sich
Es ist, als ob sich die Geschichte wiederholt. Nach der Wende sind 200 Milliarden Aufbau Ost verpufft. Erst 95 Milliarden für den deutschen Einheitsfonds und dann 115 für den Solidarpakt I. Das sorgte für gute Infrastruktur, aber – welch unheimliche Parallele – ohne Reform der Arbeitswelt kam die Wirtschaft nicht in Gang. Und so bleibt Ostdeutschland ein Sanierungsfall.
Wobei „Reform“ ein hochtrabendes Wort ist. Denn im Grunde ging es nur darum, zu alten Verhältnissen zurückzukehren. Also zum Gleichgewicht von Arbeitskosten und Arbeitszeiten mit der Produktivität und sozialen Leistungen, soweit leistbar, sowie Bürokratie, soweit nötig.
Aber die Ministerien und die EU hatten längst ihre Eigendynamik und trieben die Bürokratie weiter nach vorn. Und der zunehmende Wohlstand machte es für die sozialdemokratischen Parteien schwieriger, Wählergruppen zu halten. Entsprechend wurden die Geschenke für diese Gruppen ausgebaut – und Geschenke für neue Gruppen kamen hinzu. Die Verschuldung Deutschlands stieg weiter.
Trotz zunehmender Lebenserwartung blieb die Altersgrenze der Rentenversicherung unverändert, auch für die Berufsbranchen, die auch länger und mehr arbeiten könnten. Dann kam die Herausforderung, dass Deutschland aufgrund seiner Attraktivität verstärkt Ziel von Migration wurde, auch irregulärer Art. Die von Gerhard Schröder mit hoher Kompetenz durchgesetzte Agenda wurde gekippt und durch ein großzügiges Bürgergeld ersetzt.
Für all diese sozialen Großzügigkeiten erhält nun die arbeitende Bevölkerung eine Kreditaufnahme für laufende hohe Ausgaben, die aus der jetzigen Wirtschaftskraft nicht zu bezahlen sind. Die Regierung hat sich entschlossen, zur Begleichung einen Sonderkredit aufzunehmen, der in den nächsten 20 Jahren zurückzuzahlen und zu verzinsen ist bei einem Zinssatz auf 2,8 Prozent für Bundesanleihen aktuell, 0,3 Prozent mehr als in der Vorwoche.
In Summe also eine Belastung der nächsten Jahrzehnte mit nochmals einigen 100 Milliarden. Und zurückgezahlt werden muss es.
Koalitionen – ein verbrauchtes Regierungsmodell
Das Tragische an diesem Beschluss ist, dass die rasche Aufstockung der vernachlässigten militärischen Abschreckung keinen Aufschub duldet. Um aber die wegen fraglicher Mehrheit im nächsten Bundestag jetzt noch durchzusetzen, hat das die SPD genutzt, um ein Riesenpaket für „Infrastruktur“ einzufordern, in seiner Dimension weit oberhalb des notwendigen Wehretats und im Übrigen in keiner Weise so dringend, dass es nicht auch der nächste Bundestag zeitgerecht beschließen könnte.
Und dies alles, ohne jede Korrektur am nicht mehr leistbaren Sozialstaat und der aktuellen Arbeitskultur. Aber Gesetze zu beschließen, ist derzeit nur mit Koalitionen möglich, und der kleinere Partner erpresst den größeren.
Dieser Tag ist ein erneuter Beweis für die Schwierigkeit, langfristige strukturelle Veränderungen in Koalitionsregierungen umzusetzen, geprägt durch die Priorisierung parteipolitischer Interessen über langfristige Sachpolitik.
Wir benötigen eine neue Demokratie, ohne Koalitionen, mit parteienübergreifendem Regieren, eine, die langfristige Gleichgewichte, Transformation und soziale Gerechtigkeit kann. In keinem dieser Punkte ist die jetzige Demokratie vorbildlich.
Ein Problem fast aller westlichen Demokratien, mit Ausnahme der Schweiz, die mit ihrer Konkordanzdemokratie, ihrem Mehrheitswahlrecht und auch mehr Bürgerbeteiligung Anregung und Beispiel gibt. Eine bessere Demokratie ist möglich. Voraussetzung ist allerdings ein Problembewusstsein für die Schwächen unserer jetzigen. Damit sollten wir heute beginnen.
Schleichend schwindende Attraktivität
Heute nun gilt in Deutschland nicht mehr als wirtschaftsstarkes Land. Es war ein schleichender Prozess zum heutigen Schlusslicht auf der Wachstumsskala der Industriestaaten. Kohl hatte gegen Ende seiner Amtszeit nochmals versucht, wenigstens die für die Attraktivität als Wirtschaftsstandort wichtige Flexibilisierung vor Kapazitätsanpassungen zu verbessern.
Nach seiner Reise nach Australien und Neuseeland, Länder, die das Gleichgewicht zwischen Wirtschafts- und Gewerkschaftsstärke wiederhergestellt hatten, initiierte er mit Norbert Blüm ein Kündigungsgesetz, das die Abwägung zwischen Notwendigkeiten des Unternehmens u. a. im Kompetenz- und Altersaufbau und den Abbauzielen verbesserte.
Ein Gesetz, das die Wirtschaft sehr begrüßte. Aber die Abstimmung mit den Gewerkschaften war nicht gelungen. Sie schalteten auf Angriff und verlangten von ihrer Partner-Partei SPD die Annullierung, eine Forderung, der dann Gerhard Schröder nach seinem Wahlsieg trotz erheblicher Bedenken nachkam. Kapazitätsanpassungen sind für Unternehmen jetzt in Deutschland die teuersten der Welt.
Schröder meinte dann mit Blick auf die Kritik der Gewerkschaften gegen seine Agenda 2010 kritisch: „Die Gewerkschaften haben schon viel geschadet.“ Wobei er als Sozialdemokrat natürlich wusste, wie viel sie uns auch gebracht haben.
Aber er setzte sich durch und seine Agenda 2010 stärkte den Ruf Deutschlands. Die Wirtschaft kam wieder in Schwung, aber nicht ausreichend, um Schröder weiter Wahlen gewinnen zu lassen. Mit dem überraschenden Sieg von Angela Merkel präsentierte die CDU erneut eine Kanzlerin ohne jede Wirtschaftserfahrung, aber großem Machthunger und dem Vorsatz. „Wir müssen das anders machen“, nur mit den langjährigen Eindrücken sozialistischer Parteivorgabe als Führungserfahrung im Hinterkopf.
Auch die Tendenz der Gerichte, Eingefahrenes wegen Ungenauigkeiten im Grundgesetz zuungunsten der Wirtschaft zu interpretieren, trugen dazu bei, vorwiegend durch die Zulassung von Spartengewerkschaften, die dann Ehrgeizlinge wie gut verdienende Piloten oder streitende Lokführer zur Hochform auflaufen ließen.
Der durch das alte Gesetz vorgegebene Abstimmungszwang verschiedener Gewerkschaften im Unternehmen war überholt. Auch schleichend wurde die Verhältnismäßigkeit von Warnstreiks gekippt, früher erst nach erstem Verhandlungsergebnis oder Schlichterspruch möglich. Warnstreiks sind heute an der Tagesordnung, alles abschreckend für die Entscheider der Wirtschaft, aber auch eine unzumutbare Belastung der Bürger.
Es war ein schleichender Prozess schwindender Wirtschaftskraft, schwindender Steuereinnahmen und Ausgabenverschiebungen weg von den staatlichen Grundaufgaben hin zu neuen Trends und neuen Forderungen.