Studie sagt dramatischen Lehrermangel voraus
Bis 2035 könnte Personallücke größer ausfallen als bislang angenommen. Politik rechnet sich die Lage schön.
In der Bundesrepublik fehlen Lehrer; aber nach zwei Jahren Pandemie hat sich der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschoben. Während der allgemeine Lehrermangel kaum noch thematisiert wird, sind die Engpässe an den Schulen größer geworden. Corona-bedingt fielen in den letzten beiden Jahren viele Lehrkräfte aus, wurden entweder selbst krank oder mussten in Quarantäne.
Zuletzt verschärfte sich die Lage durch die seit Wochen zirkulierende Omikron-Variante. Nun mehrten sich wieder Berichte über die große Zahl an fehlenden Pädagogen.
Dabei wäre die Situation auch ganz ohne Pandemie schon bedrückend genug. Seit etlichen Jahren sind die deutschen Schulen mit einem massiven Schwund an Lehrern konfrontiert, dessen Ausmaß in der Geschichte der Bundesrepublik wohl beispiellos ist. Verantwortlich dafür sind politische Versäumnisse und Fehleinschätzungen, die auf dem Mist einer Haushaltspolitik gewachsen sind, die sich vor allem an Sparzwängen orientiert.
Und auf diesem Mist gedeiht es weiter: In der letzten Woche legte der Verband Bildung und Erziehung (VBE) eine Studie vor, die sämtliche Alarmglocken schrillen lassen müsste. Im Auftrag des VBE hat der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm ermittelt, dass bis Mitte des kommenden Jahrzehnts knapp 160.000 Lehrkräfte im Schuldienst fehlen könnten
Die prognostizierte Personallücke ist enorm, aber sie macht erst richtig Eindruck, wenn man sie mit einer aktuellen Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) vergleicht. Die hatte nämlich erst vor einem Monat durch "zusammengefasste Modellrechnungen der Länder" ein Defizit von lediglich 23.800 Pädagogen bis 2035 ausgemacht. Sollte Klemm mit seiner Kalkulation richtig liegen, könnten die Kultusminister den drohenden Lehrkräftemangel um satte 134.900 unterschätzen.
"Fünf nach Zwölf"
Mit Sorge blickt der VBE-Bundesvorsitzende Udo Höchst auf die Befunde. "Die Zeiten der Schönrechnerei und das weitere Verschleppen dringend gebotener umfänglicher Maßnahmen zur Lehrkräftegewinnung und -bindung sind vorbei". Vor Pressevertretern bekräftigte er am vergangenen Donnerstag: "Stand die Uhr vor der Pandemie noch auf kurz vor zwölf, ist es jetzt bereits fünf nach zwölf!"
Aber warum sollte die KMK mit ihrer Vorhersage so krass daneben liegen? Die Antwort ist einfach: Weil sie das in der Vergangenheit immer wieder getan hat. Andernfalls wären die Schwierigkeiten jetzt auch nicht so groß.
Tatsächlich ist Unterrichtsausfall in den Schulen längst fester Bestandteil des Stundenplans und in deutschen Klassenzimmern sind seit längerem und in wachsender Zahl Lehrkräfte tätig, die gar keine klassische akademische Lehramtsausbildung genossen haben. Mancherorts, wie etwa in der Hauptstadt, reicht die Zahl der sogenannten Quer- und Seiteneinsteiger in Kollegien schon an die der echten Pädagogen heran. Seiteneinsteiger haben weder auf Lehramt studiert noch ein Referendariat abgeschlossen, während Quereinsteiger immerhin letzteres vorweisen können.
Außerdem tummeln sich heutzutage in den Lehrerzimmern pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, unfertige Lehramtsstudierende, Referendare mit erweitertem Lehrauftrag oder "Lovls". Diese "Lehrer ohne volle Lehrbefähigung" sind namentlich ein Berliner Phänomen, in der Form aber auch in anderen Bundesländern anzutreffen. Die Betroffenen müssen nichts studiert haben, was mit einem Schulfach auch nur entfernt verwandt ist, und bilden als Lehrer dritter Klasse so etwas wie das "moderne" Schulprekariat.
So weit wäre es nie gekommen, hätte die KMK nicht nur die Bedarfszahlen gründlich eruiert, sondern die zur Deckung des Bedarfs nötigen Maßnahmen ergriffen. Dazu zählen im Wesentlichen: Mehr Absolventen von den Hochschulen mobilisieren und den Lehrerberuf aufwerten – durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Die Realität sieht anders aus. Die Zahl der Pflichtstunden wurde erhöht, die Klassen wurden größer und die Aufgaben mehr, etwa durch Inklusion, Migration und Ganztagsbetreuung.
Bedarf beliebig manipulierbar
Was die Sache noch bitterer macht: Die drei großen Schulreformen, also der Ausbau von Ganztagsangeboten, die Regelbeschulung von beeinträchtigten Kindern und die Unterstützung von sozial benachteiligten Kindern wurden und werden von den Schulplanern in Bund und Ländern weder personell unterfüttert, noch finden sie in den "Lehrkräftebedarfsprognosen" angemessene Berücksichtigung.
Zu den Forderungen des VBE gehört deshalb auch, dass die Politik "sich ehrlich machen" müsse, "ob und wie ernst sie es meint" mit den besagten Projekten. Um diese "bedarfsgerecht umzusetzen, braucht es etwa ein Zwei-Pädagogen-System, was den Lehrkräftebedarf massiv erhöht".
Während Klemms Analyse den Einstellungsbedarf bis 2035 mit 532.600 Personen beziffert, kommt die KMK nur auf knapp über 500.000. Die zweite Größe, um den aktuellen und bevorstehenden Lehrermangel zu bemessen, ist das Neunangebot ausgebildeter Lehrkräfte. Hier sind die Diskrepanzen zwischen den VBE-Zahlen und denen der Kultusminister noch größer.
Den von ihnen ermittelten 477.600 Nachrückern aus den Universitäten stellt Klemm bloß 374.300 gegenüber. Dabei seien die Annahmen der KMK weder "durch jüngste Entwicklungen bei den Studierendenzahlen im Lehramtsstudium gedeckt noch durch die Zahl der Schulabsolventinnen und -absolventen in den kommenden Jahren". Die Aussagekraft der KMK-Prognose "als Grundlage für dringend benötigte Maßnahmen zur Lehrkräftegewinnung und -bindung löst sich damit abermals in Luft auf", konstatierte VBE-Chef Beckmann.
Die Bundesrepublik erlebte immer wieder Phasen, in denen das Angebot an Pädagogen mit dem Bedarf nicht mithalten konnte. Wobei "Bedarf" eine schwammige Größe ist, die sich entsprechend gesellschaftlicher, politischer und vor allem haushälterischer Erfordernisse beliebig zurechtbiegen lässt.
Dagegen haben die schulischen Erfordernisse, also die Frage, was der Nachwuchs für ein gedeihliches Aufwachsen wirklich an Lehre und Betreuung braucht, eine nachrangige Rolle. Tatsächlich dürften die Vorgaben für eine "auskömmliche Unterrichtsversorgung" noch niemals darauf abgestellt gewesen sein, was wahrhaftig und gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Besten des Kindeswohls ist.
Prognose nach Kassenlage
Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Aussage, die immer wieder in den Ausführungen der KMK zu ihren Vorausberechnungen auftaucht. Demnach befänden sich die Rahmenbedingungen der Modelle "oft in einem Wandel, der sich durch unterschiedliche, jeweils landeseigene Beschlüsse oder Entwicklungen im Bereich Bildung (wie z. B. Senkung der Klassenhöchststärke, Inanspruchnahme von Altersteilzeiten, vorzeitiges Ausscheiden der Lehrkräfte vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Schuldienst, Befristung von Arbeitsverträgen, Entwicklung des Anteils von Teilzeitbeschäftigung, Veränderung des Regelstundenmaßes der Lehrkräfte, Ausbau der Ganztagsschulangebote oder Einführung des achtjährigen Gymnasiums bzw. die Rückumstellung auf das neunjährige Gymnasium) manifestieren kann".
Im Grunde besagt der Satz nichts weniger, als dass die sogenannte Bedarfsprognosen wenig relevant sind, weil jedes Bundesland seine Zahlen unter jeweils spezifischen Umständen, nach politischem Gusto und vor allem nach Haushaltslage ganz exklusiv bestimmt.
Wegen der fehlenden Vergleichbarkeit müsste es sich eigentlich verbieten, sie in einen Topf zu werfen und in einer bundesweiten Statistik abzubilden. Denn wo von Land zu Land verschiedene und beliebig veränderbare Festlegungen über eine "auskömmliche Unterrichtsversorgung" existieren, leiten sich immer auch unterschiedliche Erforderlichkeiten in puncto Personalausstattung ab.
Und wenn etwas einmal nicht passt, wird es passend gemacht, in dem man zum Beispiel eine Flüchtlingskrise verschläft oder einen plötzlichen Kinderboom. Weil Bildung und Schulen über Jahrzehnte immer mehr Ressourcen entzogen wurden, mussten auch die Standards für gute Bildung immer weiter abgesenkt werden.
Das führte unter anderem dazu, dass für immer mehr Schülerinnen und Schüler immer weniger Pädagogen zur Verfügung stehen und der Lehrerberuf nachhaltig entwertet wurde – etwa durch die Umstellung auf die Bachelor-Master-Studienstruktur, eine verschleppte Reform der Lehrerausbildung oder politische Stimmungsmache gegen eine "faule und überbezahlte" Lehrerschaft.
Bildung statt Bomben
"Es ist im mehrfachen Sinne fatal und nicht hinnehmbar, wenn sich die Politik angesichts kaum kalkulierbarer und nicht einberechneter Mehrbedarfe, wie sie aktuell etwa die Auswirkungen der Flüchtlingsbewegungen und Pandemie erfordern, seriöser Berechnungen auf Basis bekannter Parameter verschließt und den immensen Handlungsdruck hierdurch wiederholt kaschiert", monierte sodann auch der VBE-Vorsitzende Beckmann und erklärte weiter: "Die Politik kann sich nicht mehr aus der Verantwortung stehlen und sagen, sie hätte es nicht besser gewusst."
Auch Anja Bensinger-Stolze, bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Vorstandsbereich Schule zuständig, wirft der Politik Untätigkeit vor. "Seit Jahren versuchen sich die Länder und auch die KMK daran vorbeizumogeln, dass hier längst Zeit in Verzug ist", äußerte sie sich am Dienstag gegenüber Telepolis. Mancherorts könnten "nur noch 50 Prozent der freien Stellen mit ausgebildeten Lehrkräften besetzt werden".
Die Versäumnisse blockierten Reformen wie die Inklusion und beschädigten "insgesamt zunehmend Qualitäts- und professionelle Standards", so Bensinger-Stolze. Im Zentrum müssten deshalb die "Behebung des personellen Mangels, die Steigerung der Attraktivität der pädagogischen Berufe in Bildung und Erziehung sowie deren angemessene und faire Bezahlung" stehen.
Der VBE sieht ebenfalls die Bundesregierung in der Pflicht. So brauche es eine "bundesweite Fachkräfteoffensive", um deutlich mehr Schulabgänger für den Lehrerberuf zu gewinnen, mehr Studienplätze sowie eine verbesserte Lehramtsausbildung und die gleiche Bezahlung aller Lehrkräfte "unabhängig von Schulform und -stufe". Auch müsste die Integration von Seiteneinsteigenden oder Pensionisten stetig evaluiert werden. Es müsste auch eine "mindestens sechsmonatige Vorqualifizierung" grundsätzlich sichergestellt sein.
Ein Wörtchen fehlt derweil im Forderungskatalog: Geld. Daran sollte es nicht mangeln, konnte die Bundesregierung doch über Nacht 100 Milliarden Euro bereitstellen, um die Bundeswehr aufzurüsten. Bildung sollte auf der Prioritätenliste eigentlich vor Bomben stehen.
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