Subsystem einer "Zwei-Klassen-Medizin"

In Kanada sind private Krankenversicherungen grundsätzlich verboten. Weil die staatlichen nicht alle Leistungen sofort anbieten, gibt es einen Operationstourismus in die USA

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Mit seinem Health Act wagte Kanada einen radikalen Schritt: Mit einem Verbot der privaten Versicherung von Gesundheitsleistungen, die auch die Einheitsversicherungen in den Provinzen anboten, sollte die Entstehung einer so genannten "Zwei-Klassen-Medizin" verhindert werden, wie sie derzeit auch in Deutschland beklagt wird – vor allem aufgrund längerer Wartezeiten für Facharztuntersuchungen. Gleichzeitig sollte verhindert werden, dass sich Politiker – wie in Großbritannien - privat versichern und das öffentliche Gesundheitssystem als Nichtbetroffene "kaputtsparen".

Mit der Regelung gab der Bundesstaat Rahmenbedingungen vor, welche die 10 Provinzen in unterschiedlicher Weise ausgestalteten. Sie sind die Träger der öffentlichen Versicherungen, die vorwiegend über Steuern finanziert werden. Nur in Alberta und British Columbia muss man zusätzliche Krankenversicherungsbeiträge bezahlen – allerdings relativ niedrige. In Alberta liegen sie für eine Einzelperson unter 50 Dollar und für eine Familie unter 100 Dollar monatlich.

In den gesetzlichen Einheitskrankenkassen der Bundesstaaten sind alle Bürger pflichtversichert – egal, ob und was sie arbeiten. Daneben gibt es private Zusatzversicherungen für Medikamentenkosten, Zahnersatz oder bestimmte Zuzahlungen – diese werden häufig vom Arbeitgeber als zusätzliche Sozialleistungen angeboten.

Das oberste Bundesgericht sah in der Beschränkung der Angebote der privaten Versicherer keine Verletzungen der Eigentumsgarantie, entschied aber 2005, dass dann, wenn es zu absehbar unangemessen langen Wartezeiten kommt, keine tatsächliche Abdeckung durch die staatliche Einheitsversicherung mehr vorliegt, weshalb in solchen Fällen auch private Dienstleister tätig werden können.

Die Übernahme der Medikamentenkosten ist in den Bundesstaaten unterschiedlich geregelt. In Québec greift eine verpflichtende öffentliche Zusatzversicherung der Régie de l'assurance maladie du Québec für all jene Personen, bei denen der Arbeitgeber diese nicht bietet. Die Zuzahlung für Medikamente ist in dieser Provinz auf höchstens 904 Dollar jährlich begrenzt. Von Zahlungen ausgenommen sind vor allem die Bereiche, in denen es Wettbewerb – also nicht patentgeschützte Konkurrenzprodukte - gibt und in denen sich tatsächlich Märkte mit so etwas wie Wettbewerb bilden konnten – beispielsweise bei bestimmten Schmerzmitteln und bei Antibiotika. Daneben sorgt staatliche Regulierung dafür, dass auch patentgeschützte Medikamente von den Herstellern in Kanada meist sehr viel billiger abgegeben werden als in Deutschland.

Kanadische Krankenhäuser werden meist von der öffentlichen Hand oder von gemeinnützigen Trägern betrieben – nicht als Wirtschaftsunternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht, sondern als Non-Profit-Betriebe. Dadurch findet kein Geldabfluss an Finanzinvestoren statt, der das System über Gebühr belasten würde. Dafür sind in den Krankenhäusern Spendengelder willkommen, was auch dazu führt, dass sich die Kliniken mit – wenn man so will – einer Art von "Werbung" teilfinanzieren: Nicht für Pharma- oder Technologieunternehmen, sondern für die Spender, die ihre Namen nicht nur auf Gedenktafeln hinterlassen, sondern auch in ganzen Abteilungen. Das muss nicht unbedingt ein Nachteil für das Personal oder die Patienten sein: Einen nach einem großzügigen Spender benannten Flügel merkt man sich möglicherweise leichter als eine abstrakte Bezeichnung wie "Haus F, Station 14". Dadurch, dass die Namen der Spender auf den Gedenktafeln nach der Höhe der Spendengelder gestaffelt sind, entsteht auch ein gewisser Wettbewerb, der dazu führt, das in den Krankenhäusern behandelte Senioren Teile ihres Vermögens dem Krankenhaus vererben, anstatt es vollständig den nichtsnutzigen Enkeln für Aktienspekulationen zu überlassen.

Symbiotisches Verhältnis mit dem amerikanischen Gesundheitssystem

Mit dem System fuhr Kanada lange Zeit nicht schlecht: Es half dem Land nicht nur, ein relativ kostengünstiges Gesundheitssystem zu etablieren, sondern auch die USA bei Werten wie Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit bei weitem zu übertreffen. Die Ärztedichte war vergleichbar, bei den Krankenschwestern pro Einwohner hatte der nördliche Nachbar sogar einen deutlichen Vorsprung. In den 1990er Jahren waren Kanada und Finnland die einzigen OECD-Länder, die den Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt senken konnten. Vielleicht am Bemerkenswertesten ist, dass Kanada trotzdem seiner umfassenden Fürsorge einen deutlich kleineren Teil seiner Steuereinnahmen für Gesundheitsleistungen ausgeben musste (16,7 %) als die USA (18,5 %).1

Trotzdem wurde in den letzten Jahren verstärkt Kritik laut. Vor allem amerikanische PR-Agenturen verwiesen auf Wartelisten für Untersuchungen und Operationen, die dazu führten, dass reiche Kanadier sich jenseits der Grenze in den USA behandeln ließen. Allerdings spricht dieser als "Zwei-Klassen-Medizin" beklagte Effekt nicht unbedingt gegen das kanadische System – im Gegenteil: Wer es sich leisten kann, der erhält eine Leistung in den USA schneller, muss aber auch mehr dafür bezahlen. Weil das kanadische System aber steuerfinanziert und allgemein verpflichtend ist, kann er sich aber nicht – wie in Deutschland – aus der Solidargemeinschaft davonstehlen. Wer sich den Gesundheitstourismus nicht leisten kann, der muss zwar länger warten, ist aber immer noch wesentlich besser dran als ein völlig unversorgter Geringverdiener in den USA.

Beide, das amerikanische wie das kanadische Gesundheitssystem sind Subsysteme eines größeren Systems und existieren in einer Art symbiotischem Verhältnis: Denn es gibt nicht nur reiche Kanadier, die sich in US-Kliniken Sofortbehandeln lassen, sondern auch zahlreiche Durchschnittsamerikaner, die jede Gelegenheit nutzen, um mittels Kanada-Kurztrips die US-Phantasiepreise für Medikamente zu vermeiden. Schaden entsteht dabei weder dem kanadischen Gesundheitssystem noch der Volkswirtschaft. Im Gegenteil: viele kanadische Apotheken leben vor allem von ihren zahlreichen US-Kunden.

In den USA können sich mindestens 40 Millionen Menschen überhaupt keine Krankenversicherung leisten. Betroffen sind neben "working poor" vor allem Selbständige – das Lumpenproletariat erhält in den USA eine kostenlose Gesundheitsvorsorge über Medicaid, Altersrentner staatliche Beihilfen durch Medicare. Die Misere im amerikanischen Gesundheitswesen ist allerdings weniger eine Folge der Tatsache, dass es dort private Krankenversicherungen gibt, sondern vielmehr eine davon, dass diese ohne einen ausreichenden Ordnungsrahmen Geschäftsmodelle entwickeln konnten, die strukturell zu einer immer weiter gehenden Verschlechterung und Verteuerung des Gesundheitssystems führten.

Solange die Bedingungen privater Krankenversicherer nämlich keinem ausreichendem Verbraucherschutzrahmen unterworfen sind, sondern von findigen Rechtsabteilungen so gestaltet werden können, das "Kunden" für einen Versicherungsschutz zahlen, den sie dann aufgrund spitzfindiger Formulierungen nur sehr bedingt haben, so lange ist dieser "Markt" ein klassisches Beispiel für das Vorliegen eines Saure-Gurken-Problems, das nicht zu besseren Leistungen und niedrigeren Preisen, sondern exakt zum Gegenteil führt: So entstand weniger ein Wettbewerb um bessere und kostengünstigere Gesundheitsversorgung, als einer um das schnellere Hinauswerfen von Kranken und um das trickreichere Versagen von Versicherungsschutz.

Das US-Gesundheitssystem widerlegte durch diesen Effekt eindrucksvoll die These, dass sich ein "naturbelassener" Markt für Gesundheitsleistungen von selbst regulieren würde. Allerdings ist auch der extrem großzügig gewährte Patentschutz für sehr viele Medikamente, der Phantasiepreise erlaubt, durchaus ein staatlicher Regulierungseingriff – nur eben nicht zum Schutz der Verbraucher.