Suche nach einer alternativen Vergesellschaftung jenseits von Markt und Staat

Zahnrad mit Wirtschaftswachstum vom Volk eingefasst

Im Kapitalismus wachsen Wirtschaft und Kapital oft gegen die Bevölkerung. Wie kann sich die Gesellschaft neu organisieren, um mehr Steuerung zu ermöglichen?

Das wirtschaftliche Geschehen (auf Märkten) und das Wachstum des Reichtums (als Kapital) verselbstständigen sich gegen die Bevölkerung. Wie vermag sie sich selbst auf eine solche Weise zu vergesellschaften, die ein höheres Maß an Steuerung und Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse ermöglicht?

Von der Kritik der Problemvermarktung …

Anbieter können ihre Angebote in der Marktwirtschaft häufig nur in dem Maße absetzen, wie bestimmte Probleme existieren und diese nicht bearbeitet oder überwunden werden. Unter Voraussetzung der unangetasteten Problemursachen und Probleme suchen die Betroffenen nach Kompensation oder Überkompensation. Die folgenden Beispiele veranschaulichen diese These.

Eine zentrale Ursache für den hohen Absatz der Autoindustrie besteht darin, dass die Menschen infolge des schlechten Zustands des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) auf Pkws angewiesen sind. Zudem bedienen viele beliebte Produkte ideologische Vorstellungen oder eine ideologische Subjektivität und setzen sie voraus. Das betrifft z. B. die sog. Autokultur (vgl. Creydt 2017, 98–101) und das Eigenheim (vgl. Bourdieu 1999).

Ein großer Teil der Lebensmittel wird produziert für solche Konsumenten, die wenig Zeit, Kompetenzen und Lust haben, sich sorgfältig ein Essen zuzubereiten. Sie bevorzugen Fastfood und Produkte, die mit ihrem hohen Gehalt an Zucker und Salz so etwas wie das psychische Belohnungszentrum unmittelbar ansprechen.

Hochverarbeitete Lebensmittel wie Hamburger, Pommes frites oder Chicken Nuggets in Fast-Food-Lokalen versorgen den Körper mit raffinierten, also nährstoffarmen Kohlenhydraten, zugesetzten Fetten und weiteren Zusatzstoffen, die es nicht zu kaufen gibt und die das Essen daher zu "etwas Besonderem" machen.

Häfliger (2024)

Solche Lebensmittel können Menschen süchtig machen. Mittlerweile heißt es selbst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:

Eine schlechte Ernährung – und Übergewicht – ist kein Versagen des Einzelnen, sondern Folge der Omnipräsenz ungesunder Lebensmittel.

Kuroczik (2023)

Trotzdem ist es nach wie vor weitverbreitet, gesundheitliche Probleme zu individualisieren: "An Deinen gesundheitlichen Problemen bist Du selbst schuld!"

… zur Aufmerksamkeit für das gesellschaftliche Gefüge

Aus der Aufmerksamkeit für diese Probleme kann ein Bewusstsein entstehen für die konstitutiven Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen, Lebensweise, Angeboten und Bedürfnissen. Dieses Bewusstsein widmet sich der Frage "Was trägt dazu bei, dass Menschen bestimmte Inhalte bevorzugen und andere nicht?"

Eine zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum Staatssozialismus alternative Vergesellschaftung setzt eine veränderte Aufmerksamkeit für die Wirkzusammenhänge zwischen den Wirtschaftsbranchen und den gesellschaftlichen Bereichen voraus. Deutlich wird gegenwärtig z. B., wie die Art und Weise der Landwirtschaft, die niedrigen Preise für ihre Produkte und die Nachfrage(macht) der Einzelhandelskonzerne zusammenhängen.

Dieses Bewusstsein für die konkreten qualitativen Vernetzungen steht quer zu den profitwirtschaftlichen Motiven, Zwängen und Eigendynamiken. Es vermag die Arbeiten, die Bedürfnisse, die Motive, die Lebensweise anders aufeinander zu beziehen.

Ein solches Bewusstsein verhält sich kritisch auch zur weit verbreiteten Vorstellung einer Spontan-Autonomie: "Was mir nutzt und was ich mag, das spüre ich ganz authentisch allein aus mir selbst heraus".

Konkrete Vorstellungen entstehen, wie eine gute Landwirtschaft oder Mobilität mit dem Vorrang öffentlichen Personenverkehrs aussehen. Die Einsicht verbreitete sich, dass eine solche Prävention gegen Krankheit ansteht, die krankheitsförderliche Belastungen und Widersprüche in der Arbeit und Wirtschaft sowie die ungesunde Ernährung überwindet. Die Gesellschaft kann es dann nicht bei Medizin als Reparaturbetrieb belassen.

Neue Verbindungen zwischen bislang voneinander getrennten Gruppen

Die alternative Vergesellschaftung vermag zweitens anzuknüpfen an neuen sozialen Verbindungen zwischen Arbeitenden, Konsumierenden und von Arbeit und Konsum indirekt Betroffenen.

Solche Verbindungen finden sich bspw. im Bündnis zwischen umweltbewussten Bauern, ernährungsbewussten Konsumenten und Umweltschützern. Im Engagement gegen den Abbau von Krankenhäusern und deren Privatisierung können dort Arbeitende und die lokale Bevölkerung zusammenfinden.

Bereits gegenwärtig gibt es "bei Volkswagen sog. Fahrzeugkliniken; sie sind nicht zum Reparieren da, sondern zum Diskutieren. Marktforscher stellen ausgewählten Familien die Modellentwürfe vor und notieren Wünsche und Verbesserungsvorschläge" (Schieritz 2023).

Solche Einrichtungen gilt es aus ihrer Bornierung auf die einzelbetriebliche Absatzförderung zu emanzipieren und zu öffnen für eine gemeinsame Beratung zwischen den Konsumenten und Produzenten über sinnvolle Produkte. "Ideenträger, Experten, Nutzer und Produzenten" können in "öffentliche Entwicklungswerkstätten für Produktentwicklung und -innovation" zusammenkommen (Birkhölzer, in Forschungsprojekt 1994, 31).

Getrennt voneinander und einander entgegengesetzt sind in der kapitalistischen Marktwirtschaft auch die verschiedenen Belegschaften. Die Zusammenarbeit von verschiedenen Betrieben (Entwicklungskooperation, langfristige Koordination zwischen Zuliefern und Produzenten u.ä.) und das Privateigentum an Produktionsmitteln stehen in einem Konflikt. Betriebsgeheimnisse sorgen dafür, dass Arbeitskollektive und Forschungs- und Entwicklungsprojekte sich gegeneinander abschotten.

Das erleben die Betroffenen als für ihre Arbeit abträglich. In gegenseitigen Hospitationen und Beratungen wäre es – nach Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln – möglich, dass Arbeitende aus verschiedenen Betrieben voneinander lernen, sich untereinander über best practice-Vorgehensweisen auseinandersetzen und sich etwas voneinander abgucken.

Gegenwärtig stellt sich erst auf den Märkten heraus, ob das Produkt die gesellschaftlich durchschnittlichen Standards übertrifft oder unterbietet. "Wenn man an verschiedenen Produktionsstätten erzeugt", muss "der Ausgleich der Erzeugungsmethoden und Produktionsbedingungen innerhalb einer Branche" erfolgen. Dieser Ausgleich vollzieht sich in der Marktwirtschaft über "den antagonistischen Konkurrenzkampf" (Leichter 1923, 32).

Statt diesen Umweg zu gehen, "wäre es viel einfacher und zweckmäßiger, man würde […] die Geheimnistuerei lassen und sich […] in den verschiedenen Werkstätten zusammensetzen können, um solidarisch miteinander die Erfahrungen der Produktion auszutauschen und den Erzeugungsprozess zu verbessern" (Ebd., 31).

Der Markt ist sowohl als "Wissensverarbeitungsmaschine" Markt (Herzog 2023) als auch als Koordinationsform nicht konkurrenzlos. Eine nachkapitalistische Gesellschaft steht nach heutigem Diskussionsstand jedoch vor dem Problem, sowohl mit Märkten als auch ohne sie schlecht auszukommen (vgl. Creydt 2020.)

Bislang gibt es keine befriedigenden Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Gestaltung und Märkten in einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Allerdings kann angegeben werden, welche Momente einer Marktwirtschaft aus guten Gründen wegfallen (vgl. Creydt 2022).

Das Bedürfnis nach einer alternativen Vergesellschaftung entsteht in dem Maße, wie den Betroffenen eines gewiss wird: Sie sind von solchen Trennungen und Entgegensetzungen negativ betroffen, die aus dem Privateigentum, der Konkurrenz und den Imperativen der Profitwirtschaft resultieren.

Will die Bevölkerung nicht länger die abhängige Variable von selbstbezüglichen und verselbständigten wirtschaftlichen Prozessen sein, muss sie "Kompetenzen an den strategischen Stellen entwickeln, die im Selbstlauf der Dinge jetzt vom Kapital oder vom Management" und "von den Markteffekten […] besetzt werden: an den Stellen, die über das Zusammenbringen der Elemente des Gesellschaftsprozesses entscheiden" (Haug 1993, 106f.).

Zur kapitalistischen Marktwirtschaft gehört es, Zusammengehörendes zu trennen und zugleich problematische Verknüpfungen zu schaffen. Die alternative Vergesellschaftung setzt die verschiedenen Momente der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion neu zusammen.

Bereits heute gilt es, im Denken ausgetretene Pfade zu verlassen, eingefahrene Verknüpfungen zu lösen zu analysieren, wie sich bislang fehlgebundene Potentiale anders nutzen lassen.