Syrien: Dschihadisten-Chef Golani auf dem Weg zum Staatsmann
Der Herrscher von Idlib konsolidiert seine Macht. Seine Karriere startete er bei al-Qaida
Es ist eine kleine Nachricht, aber sie hat ihre Bedeutung, weil sie zeigt, wie Dschihadisten zu Staatsmännern werden. Abu Mohammed al-Golani war kürzlich VIP bei der Einweihung einer wichtigen Straßenverbindung in Syrien. Der Bart ist geblieben, die Kleidung ist nicht länger die eines dschihadistischen Revolutionärs, sondern adrett zivil: So präsentierte sich Chef der Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) bei der Einweihung eines Highway-Regierungsprojekts, das Aleppo und die Grenze bei Bab al-Hawa verbindet.
Die Straße ist wichtig, sie wird zu den bedeutendsten Infrastrukturmaßnahmen Idlibs gezählt. An der Seite von al-Golani, dem mächtigsten Mann in der Provinz Idlib, fand sich nicht ein Vertreter der syrischen Regierung in Damaskus, sondern der Premierminister der "alternativen" Regierung, der sogenannten Heilsregierung: Ali Abdulrahman Keda. Keda hatte bereits engste Verbindungen zur al-Nusra-Miliz. So lautete der frühere Name von HTS. Und wenn man ein paar Jahre zurückliegende Nachrichten verfolgt, so war dies eine Truppe, die grausigen Schrecken und Terror im Namen der "syrischen Revolution" verbreitete.
Die al-Nusra-Miliz war ein al-Qaida-Abkömmling und noch heute steht die Nachfolgeorganisation Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) auf der Terrorliste der USA und der UN. Vor einigen Jahren hätte die Nachricht über den Aufstieg vom Dschihadistenführer zum unangefochtenen Provinzherrscher in westlicher Zivilkleidung noch für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Jetzt, nach dem "Epochenbruch" durch die Coronakrise, der neuen strategischen Orientierung der USA, ist das nur mehr von lokalem Interesse. Die Berichterstattung folgt der Umorientierung.
Dass der Krieg um Aleppo Ende 2016 wochenlang für große Aufregung in deutschen, französischen, englischen und US-amerikanischen Medien gesorgt hatte, ist zwei Reizfiguren zu verdanken: Putin und Baschar al-Assad. Sie waren die Bösen in der emotional aufgeladenen Erzählung. Die Dschihadisten waren Opposition, "Rebellen", und wurden daher von den scharfen Blicken verschont, die man auf die beiden Musterexemplare autoritärer Führung, die "über Leichen gehen", konzentrierte.
Jetzt baut al-Golani seinen Einflussbereich aus, verbessert sein Image, schaltet die Dschihadisten-Konkurrenz aus und kann seine Macht in aller Ruhe konsolidieren, weil die große Nachrichten-Karawane weitergezogen ist. Putin bleibt in der Aufmerksamkeit, aber in anderen Konfliktzonen, und Baschar al-Assad taucht in der Berichterstattung der westlichen Hemisphäre hauptsächlich dann wieder auf, wenn es um Foltervorwürfe vor Gerichten geht. Bei diesen Anklagen blitzt die Aufmerksamkeit kurz wieder auf. Sie sind nicht frei von politischem Interesse.
Europa wird sich dem schwierigen Konflikt erst wieder zuwenden, wenn das Flüchtlingsproblem in Syrien neu an die "Haustüren klopft".
In US-amerikanischen Publikationen, wie neulich in der Washington Post, wird der Wandel al-Golanis vom Dschihadisten-Outlaw zum maßgeblichen Vertreter der Region Idlib, an dem man bei Verhandlungen künftig nicht mehr vorbeikommt, unterstützt. Man gibt der Pragmatik den Vorzug.
"An diesem Mann kommt man nicht mehr vorbei", lautet die Botschaft des Artikels, der es bei wenigen kritischen Anmerkungen zur Vergangenheit al-Golanis belässt. Wobei diese Pragmatik politisch etwas einseitig orientiert ist, da von Verhandlungen mit dem autokratischen, aber regulären Staatschef Baschar al-Assad weiterhin keine Rede ist.
Die US-Politik, unterstützt von europäischen Nato-Partnern, lässt sich mit einem Hauptcharakteristikum beschreiben: wirtschaftliches Aushungern mittels Sanktionen. Die Bewohner verarmen auf zermürbende Weise. Jeder Akteur, der die Regierung beim Wiederaufbau - und das wird weit gefasst - unterstützt, hat empfindliche Strafen aus Washington zu befürchten. Indessen verfügt al-Golani über gute Kontakte zu Hilfsorganisationen, die seiner Regierung in Idlib mittelbar helfen.
Seinen Weg zum Staatsmann könnte er übrigens ohne die Rückendeckung aus der Türkei und Katar nicht weit fortsetzen.