Syrien: Islamistische Bildungsreform sorgt für Aufruhr

Nach dem Sturz des syrischen Regimes feiern die Syrer die Flucht Baschar al-Assads. Damaskus, Syrien, 8. Dezember 2024

Damaskus, 8. Dezember 2024, nach dem Sturz und der Flucht von Baschar al-Assad. Bild: Mohammad Bash / Shutterstock.com

Wie wird der neue Staat gemacht? Große Kernprobleme, neuer Lehrplan, alte Ängste. Wo findet der politische Dschihadismus Grenzen, die er respektiert? Analyse.

Das neu besetzte syrische Bildungsministerium will den Lehrplan ändern. Die Ankündigung kam zum Jahreswechsel. "Die neuen Schulbücher für Syrien gehen von einer nationalistischen zu einer islamistischen Interpretation der syrischen Geschichte über", kommentierte der US-amerikanische Geschichtsprofessor und Syrien-Kenner Joshua Landis den Vorstoß.

Zurückgerudert

Der war zwar keine wirkliche Überraschung angesichts der neuen Macht in Damaskus, löste jedoch stante pede vehementen Protest aus. Bildungsminister Nadhir al-Qadri ruderte tags darauf zurück: "Die Lehrpläne in Syrien bleiben unverändert, bis Fachausschüsse gebildet werden, die sie überprüfen und kontrollieren." (Enab Baladi).

Quadri reagierte damit auf eine Debatte unter "lokalen Aktivisten, Menschenrechtsverfechtern und Syrienexperten" über den "Charakter und die Rechtmäßigkeit der Änderung des Lehrplans durch eine Übergangsregierung", erklärt die englisch-sprachige Ausgabe des syrischen Mediums Enab Baladi, aus der Taufe gehoben 2011, zur Begründung.

Vorhaben noch nicht vom Tisch

Das Vorhaben an sich ist also nicht vom Tisch, wird aber neu aufgestellt. Nicht alles geht so schnell wie die militärische Eroberung von Damaskus. Jetzt wird es komplizierter für die neue Macht, die gerade dabei ist, einen neuen Staat zu errichten.

Dessen Geist soll von einem neuen politischen Dschihadismus getragen werden. Und viele schauen jetzt genau hin: alle Dschihadisten dieser Welt, was den IS offenbar zu mörderische Aufmerksamkeitsstrategien mobilisiert, die Nachbarstaaten, die arabische Welt, die islamische Welt, Russland – und der Westen.

Die neue Macht in Syrien braucht Geld

Die neue Macht in Syrien braucht Geld. Viel Geld, um den Fehler zu vermeiden, den auch der russische Außenminister Lawrow der aus Damaskus verjagten Regierung Assad vorwirft: "die Unfähigkeit die grundlegenden Forderungen der Bevölkerung inmitten eines langwierigen Bürgerkriegs zu erfüllen".

Zwar ist nun kein Bürgerkrieg mehr, aber die Lage bleibt entflammbar und die Befriedung kostet, wie Beobachter vorrechnen.

"Wie soll man Hunderttausende von jungen Soldaten, Beamten und Polizisten ohne jegliche Mittel finanzieren?" – die Frage des französischen Syrien-Beobachters Cédric Labrousse, ebenfalls ein Geschichtsprofessor, der seit 2011 die Geschehnisse im syrischen Mosaik genauer unter die Lupe nimmt, steuert direkt auf den Kern der zentralen Debatten über die nächste Zukunft in Syrien zu:

Das wird das große Problem des Syriens von morgen sein. Was soll man mit den Massen an jungen Menschen machen, die keine Arbeit und kein Einkommen haben und von denen viele für den Staat arbeiten wollen (öffentliche Dienste, Verwaltungen, Armee, Polizei ...).

Hier zeigt sich die Handschrift, die der Baathismus geprägt hat, der den Staat in den Mittelpunkt von allem stellte, und selbst nach der Revolution scheint die Bevölkerung noch daran zu glauben. Der syrische Staat verfügt jedoch über keinerlei Einnahmen.

Cédric Labrousse

Wenn es um den künftigen Schulunterreicht in Syrien geht, so drängen sich auch erstmal andere Fragen auf als die beabsichtigte Neuformulierung des Märtyrertums im neuen Curriculum.

Das große Bildungsproblem

Die neue Regierung, wenn es um Schulbildung geht, vor einer immensen Nachholarbeit, was elementare Kenntnisse, Wissen und Fähigkeiten, das Eingemachte, betrifft

"Der Syrienkonflikt hat zu einer der schlimmsten Bildungskrisen in der jüngeren Geschichte geführt. 2,45 Millionen Kinder in Syrien, darunter 40 Prozent Mädchen, können keine Schule besuchen. Eine von drei Schulen ist nicht funktionsfähig (…)", berichtete Unicef vor drei Jahren.

Dies zur Einordnung der Meldungen zum neuen Lehrplan, wie sie etwa von der Financial Times aktuell übermittelt werden. Deren Überschrift lautet: "Syrer werfen den Machthabern vor, mit dem neuen Lehrplan eine islamistische Agenda durchzusetzen."

Die islamistische Agenda

Dem kann im Grundsatz nicht widersprochen werden, die offene Frage lautet, wie stark können oder werden sich die politischen Dschihadisten an der Macht in Damaskus in dieser Beziehung vorwagen können?

Wie oft wird sie aufgrund von Debatten zurückrudern? Nur jetzt am Anfang, später dann nicht mehr?

Die Änderungen, die in 12 Dokumenten vorgeschlagen wurden, fasst die britische Zeitung wie folgt zusammen:

Die meisten Änderungen betrafen die Entfernung von Verweisen auf das Regime des gestürzten Präsidenten Bashar al-Assad und seines verstorbenen Vaters Hafez, die zusammen fünf Jahrzehnte lang mit eiserner Faust regierten, einschließlich Fotos und Erwähnungen der Armee und der Nationalhymne.

Doch die Behörden alarmierten viele auch, indem sie Verweise auf vorislamische Gottheiten – und selbst das Wort "Gottheiten" – entfernten und die Kritik am Osmanischen Reich zurückfuhren. Ebenfalls weggelassen wurden der Text des syrischen Staatsbürgerschaftsgesetzes, ein Abschnitt über die Evolution der Wirbeltiergehirne und die Erwähnung von Zenobia, einer berühmten vorislamischen Königin der antiken Stadt Palmyra.

Kritiker befürchteten, dass die Änderungen einen gefährlichen Weg darstellen, auf dem die islamistische Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham, die die neue Regierung dominiert, versuchen würde, ihre religiöse Weltanschauung einem der säkularsten Länder des Nahen Ostens aufzuzwingen.

Financial Times

Die Richtung, die hier eingeschlagen wird, ist nicht neu. Dass die früheren Machthaber, immerhin geht es um etwa ein halbes Jahrhundert Herrschaft der Assad-Familie, in einem neuen Licht präsentiert und unterrichtet werden, gehört zu den erwartbaren Resultaten einer Machtübernahme.

Eine fundamentalistisch getragene Bewegung

Dass eine fundamentalistisch getragene Bewegung, die einen modernen islamistischen Staat plant und naturgemäß kein System mit demokratischen und liberalen Parteien, auch früheste Zeugnisse einer säkularen Vorgeschichte tilgen will, erstaunt ebenso wenig wie Prioritätensetzung literarisch-religiöser Erzählungen statt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Weltbilder.

Aber wie weit kann sie damit in einer gesellschaftlich und religiös so heterogenen Umgebung wie in Syrien kommen?

Vorbild Taliban?

Dass sich die HTS (die selbst Lawrow jetzt nicht mehr als "Terroristen" brandmarkt) die Taliban in vieler Hinsicht als Vorbild nimmt, lässt Schlimmes befürchten, nämlich, dass sie sich mit der Zeit auch im Bildungsprogramm und vor allem im Umgang mit den Frauen radikalisieren, weil sie auf Zeit setzen und die Aufmerksamkeitsspanne von internationalen Medien sehr launisch ist.

Die Hoffnung wäre, dass sich die HTS, wie der französische Journalist und Dschihad-Experte Wassim Nasr vor Ort in Idlib beobachtete, ein anderes, zivileres Programm gesetzt hat als die Taliban im Bergland Afghanistans. Sie wird allerdings konterkariert durch die Nominierung islamistischer Hardcore-Persönlichkeiten an prominenter Stelle (siehe hier und hier und hier).

Es heißt also, weiterhin genau hinschauen, besonders darauf, wie die HTS-Führer, die nun an den Hebeln der Macht in Syrien sitzen, mit oppositioneller Kritik, der Zivilgesellschaft und mit den Rechten und Äußerungen von Minderheiten umgehen.