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Syrien: Neue Allianzen am Horizont?

Milizen in Hama. Bild: Propagandamaterial/Qalaat Al Mudiq/Twitter

Assad soll an einem Treffen mit Erdogan interessiert sein und Russland mit Saudi-Arabien Lösungen für den Südosten Syriens anstreben

Von 180.000 Binnenflüchtlingen in Idlib berichtete [1] die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR zuletzt. Die Zahlen stammen von Anfang Mai. Seither gingen die Angriffe [2] der syrischen Armee und der russischen Luftwaffe auf Ziele in Hama und Idlib weiter.

Im größeren Bild [3] ist zu sehen, dass auch die gegnerischen Milizen angreifen. Ihre Ziele sind unter anderem Lattakia, also mittendrin im Kerngebiet der friedlichen Regierungszone, und die russische Luftwaffenbasis Hmeimim (oft auch: Khmeimim). Gemeldet werden aber auch Angriffe der extremistischen Milizen auf zivile Ziele in Hama [4].

Aus Sicht der syrischen Regierung gilt der al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir asch-Scham, der stets mit dem alten Namen Jabath al-Nusra bezeichnet wird, als Hauptverantwortlicher für die Angriffe. Diese seien eindeutige Verstöße der Vereinbarungen zur "De-Eskalationszone", weswegen sie die syrische Armee mit Angriffen auf Verstecke der Milizen in Nord-Hama beantworte, wie es eine aktuelle "Breaking News" der syrischen Nachrichtenagentur Sana meldet [5].

Westliche Medien sehen eine syrische Offensive im Gange, die aus einer größeren militärischen Absicht besteht, als nur Gegenschläge auszuführen. "Die syrische Armee und ihre Verbündeten haben eine lange, langsame und gewaltsame Militärkampagne begonnen, um die letzte Provinz, die noch unter der Kontrolle der Opposition ist, zurückzuerobern. Die Regierung treibt dort gleichermaßen Rebellen, Extremisten und Zivilisten in die Enge", so sieht das zum Beispiel die New York Times [6].

Flüchtlinge, die politisch vereinnahmt werden

Dort ist auch die Rede von Flüchtlingen. Am Beispiel einer Familie will der Artikel exemplarisch veranschaulichen, mit welchen Härten und Aussichten die Flüchtenden konfrontiert sind. Sie wollen auf keinen Fall "auf Feldern campieren", wie das auf Bildern anderer Flüchtender zu sehen ist, heißt es an einer Stelle.

Der dramatische Kontext zum Zoom auf die Familie lautet: Die Kämpfe können jeden erwischen und vertreiben, es gibt drei Millionen Zivilisten und die medizinische und humanitäre Versorgung wird immer schlechter.

In den kommenden Tagen werden wir ein schwarzes Loch haben, das von terroristischen Gruppen kontrolliert wird und weder internationale Hilfe noch humanitäre Hilfe. Weil keiner willens ist, auf die drei Millionen Zivilisten zu achten.

Bassam Barabandi [7], früherer syrischer Diplomat

Barabandi hat die Seiten gewechselt, er lebt jetzt in Washington. Sein Zitat spielt mit der Unterscheidung zwischen "internationaler Hilfe" und humanitärer Hilfe, darauf an, was auch ein Brief von US-Kongressabgeordneten [8] fordert: Mehr "Aktivität" der USA. Wie die konkret aussehen soll, darauf wird gar nicht eingegangen. Das damit auch militärische Aktionen eingeschlossen sein können, wird zwar nicht direkt gesagt, drängt sich aber auch ungesagt als "Option" auf.

"Iran ist hauptsächlich verantwortlich"

Argumentiert wird gegen den Rückzug aus Syrien, stattdessen soll mehr Druck auf Iran und Russland, die Unterstützer des "brutalen Regimes", ausgeübt werden, mit stärkeren Sanktionen, mit mehr Druck speziell gegen die Hizbollah, der Schutz Israels soll verstärkt werden und dessen Recht auf Selbstverteidigung.

Ein Kernsatz des Schreibens, unterzeichnet von mehreren Hundert Kongressabgeordneten beider Parteien lautet: "Die Region ist durch das bedrohliche Verhalten Irans destabilisiert worden."

Man kennt die Ausrichtung und die dazugehörigen Lücken - von der eigenen Verantwortung der "Freunde Syriens", wie man früher das von den USA geführte Bündnis aus europäischen und arabischen Staaten genannt hat, für das Desaster in Syrien ist nicht die Rede.

Auch praktische Antworten auf die Not und die Hilfsbedürftigkeit der syrischen Bevölkerung werden nicht gegeben. Ihre bittere Lage, so der Eindruck, wird vor allem als politisches Instrument gebraucht, um darauf die jeweils eigenen strategischen Interessen aufzusetzen.

Geht es nach der eingangs zitierten OCHA-Meldung [9], so gibt es auf die Frage, wo denn die 180.000 Flüchtlinge Zuflucht finden, nur ganz oberflächliche Antworten. 97.000 sind demnach in Lagern und Empfangszentren untergebracht, 83.000 Personen leben außerhalb der Lager. Insgesamt seien seit Februar über 300.000 geflüchtet. Erwähnt wird dazu, dass 130.000 in Lagern in al-Dana in Idlib [10] untergekommen seien, wo die Bedingungen immer schwieriger würden.

Wie das Problem auf Dauer gelöst werden kann, steht in den Sternen. Es gibt zu den politischen Manövern, die mit dem Problem der Flüchtlinge zusammenhängen, eine ganze Reihe von Spekulationen. Da die Öffentlichkeit von Hintergrundgesprächen nur das Wenigste mitbekommt, erreichen die Spekulationen und "Insider-Infos" bemerkenswerte Dimensionen. Die ohnehin komplizierte Situation bekommt noch ein paar Verwicklungen mehr.

Neue Hintergrundverbindungen

Als ziemlich solide kann man noch den Hintergrundbericht von al-Monitor [11] auffassen. Dort ist einerseits von der Befürchtung der Türkei die Rede, dass eine syrisch-russische Idlib-Offensive noch mehr Flüchtlinge in die Türkei treiben würde. Anderseits wird angenommen, dass Russland die Türkei mit dem jüngsten Vorgehen in Idlib ("die Geduld ist zu Ende") dazu bringen will, sich gegenüber Russland genauer zu positionieren. Gemeint ist die bisherige Taktik zu beenden, die zwischen den USA und Russland laviert.

Als strategisches Interesse in Idlib, das Russland zusammen mit der syrischen Regierung verfolgt, wird die Kontrolle über wichtige Verkehrsverbindungen genannt, die für Syriens Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Die Kontrolle über die Verbindungsstraßen müsse sichergestellt werden, wie dies auch zwischen der Türkei und Russland in der Sotschi-Vereinbarung ausgemacht wurde.

Dazu kommt: Die Türkei besetzt Beobachtungsposten in Idlib, die, wie sich Anfang Mai gezeigt hat, unter Beschuss auch seitens syrischer Einheiten kommen können. Sie ist also gewissen Risiken ausgesetzt. Das lässt man sie spüren.

"Dann können wir Erdogan treffen"

Ob dies ein Anlass war, dass die türkische und die syrische Regierung direkte Gespräche suchen, wie es ein Artikel des Syrian Observers behauptet [12]? Geht es nach Informationen, die auf einen türkischen Journalisten namens Mehmet Yuva zurückgehen, soll Baschar al-Assad dem Journalisten persönlich erklärt haben, dass er offen für eine Kooperation mit der Türkei sei: "… und wenn es in Syriens Interesse liegt und nicht die Souveränität beeinträchtigt, dann können wir Erdogan treffen."

Es habe bereits direkte Verhandlungen gegeben, wird Assad weiter zitiert. Man verhandle nicht nur via Russland und Iran mit der Türkei, sondern syrische und türkische Offiziere hätten auch untereinander wichtige Punkte besprochen. Die wichtigste Verhandlung habe es am Grenzübergang Kassab zwischen der türkischen Provinz Hatay und der syrischen Provinz Lattakia gegeben. Erwähnt wird auch eine Zusammenkunft in Teheran, wo sich die syrische Delegation mit dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan getroffen habe.

Über den Inhalt der Gespräche wird nichts bekannt. Assad erwähnt den neuralgischen Punkt: die syrische Souveränität. Erdogan hat das syrische Afrin mehr oder weniger zu einem Protektorat gemacht, wo die Türkei die Verwaltung übernommen hat und auf deutliche Weise mit Baumaßnahmen - einer Mauer zum Beispiel oder "Militärbasen" [13] - dokumentiert, was er in diesem Fall von der syrischen Souveränität hält. Welche Brücken die einstmals befreundeten, später verfeindeten Staatschefs hier finden und bauen können?

"Zwei neue Allianzen in Nordsyrien"

Noch komplizierter wird das Geflecht an Verabredungen oder Bündnissen im syrischen "Schlamassel", wenn stimmt, was al-Masdar aus dem Hinterland der Verhandlungen berichtet [14]. Der Artikel stammt von Leith Aboufadel, dem gute Verbindungen zur syrischen Regierung nachgesagt werden. Eine Quelle in Damaskus habe ihm nun anvertraut, dass es zwei neue Allianzen in Nordsyrien gebe. Eine werde von der Türkei und Iran angeführt, die andere von Saudi-Arabien und Russland.

Die Absicht sei es, dass Russland mit Saudi-Arabien, das gute Beziehungen zu den arabischen Stämmen habe, die mit den SDF kooperieren, auf eine Vereinbarung zwischen den Kurden und Damaskus hinarbeiten würde. Als Gemeinsamkeit zwischen Russland und Saudi-Arabien wird die Gegnerschaft zur Muslimbruderschaft ins Spiel gebracht.

Deal mit Saudi-Arabien?

Aus russischer Sicht wäre das Interesse daran nachvollziehbar, eine Regelung für den von Kurden verwalteten Osten Syriens zu finden, die den dortigen Einfluss der USA deutlich abschwächt. Allerdings müssten sich dazu auch die Partner USA und Saudi-Arabien in dieser Frage erst einigen. Saudi-Arabien hat seinerseits schon in der Vergangenheit finanzielle Unterstützung für die Kurden angeboten.

Darüber hinaus gibt es dazu noch einen anderen Spreizschritt, den Russland bei der syrischen Regierung veranlassen müsste. Saudi-Arabien und Iran stehen auf keinem guten Fuß und die syrische Regierung hat in Iran einen verlässlich engen Partner. Wie hier die Arrangements zwischen Damaskus und Riad aussehen könnten, wird im Bericht nicht ausgeführt. Angedeutet wird die Möglichkeit, dass sich die syrische Regierung über Saudi-Arabiens Einfluss auf das Weiße Haus mit den USA auf einen "Deal" verständigen könnte.

... gegen Iran?

Damaskus würde generell mehr Vorteile darin sehen, sich mit Saudi-Arabien besser zu stellen als mit einer Koalition aus Ländern, die mit den Muslimbrüdern sympathisieren, so die Hypothese in den Aussagen des unbekannten Damaskus-Insiders. Das würde allerdings bedeuten, dass Damaskus auf mehr Abstand zur Türkei geht und letztlich auch zu Iran. Erklärt wird letzteres Manöver damit, dass die Sanktionen gegen Iran auch Damaskus teuer zu stehen kommen und nun der Zeitpunkt im syrischen Krieg gekommen sei, wo dies deutlich zu spüren sei.

Den Ausführungen von Leith Aboufadel zufolge hat aber die "Achse Türkei-Iran" nützliche Optionen für die syrische Regierung: Über die Türkei könnte iranisches Öl nach Syrien geliefert werden, über Gebiete, die von den Milizen kontrolliert werden, zu denen Ankara und insbesondere der türkische Geheimdienst gute Beziehungen hat.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4427491

Links in diesem Artikel:
[1] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-situation-report-2-recent-developments-northwestern-syria-17-may
[2] https://twitter.com/QalaatAlMudiq/status/1128358087432310784
[3] https://southfront.org/military-situation-in-syria-on-may-20-2019-map-update/
[4] https://sana.sy/en/?p=166069
[5] https://sana.sy/en/?p=166076
[6] https://www.nytimes.com/2019/05/20/world/middleeast/syria-retaking-idlib.html
[7] https://www.nytimes.com/2019/05/20/world/middleeast/syria-retaking-idlib.html?action=click&module=Well&pgtype=Homepage&section=World
[8] https://foreignaffairs.house.gov/_cache/files/9/c/9cd4bda2-ca38-4d10-8099-55ec0f48e358/9FBE011D413F4AE806806A3F5F5E5181.syria-letter-final.pdf
[9] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-situation-report-2-recent-developments-northwestern-syria-17-may
[10] https://www.savethechildren.net/article/fears-more-11000-children-idlib-syria-flooding-hits-camps
[11] https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/05/turkey-russia-syria-idlib-tests-strength-of-ties.html#ixzz5oXeuY2Em
[12] https://syrianobserver.com/EN/news/50523/assad-we-met-with-hakan-fidan-in-tehran-and-we-are-ready-to-meet-erdogan.html
[13] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/efrin-doerfer-werden-zu-militaerbasen-umgewandelt-11520
[14] https://www.almasdarnews.com/article/the-new-proxy-war-in-syria-iran-and-turkey-vs-saudi-arabia-and-russia/