Syrien: Über 1000 Tote bei Gewaltausbrüchen in Küstenregion
Bild: Shutterstock.com
Die Gewalt richtet sich vor allem gegen die religiöse Minderheit der Alawiten. Befürchtet wird eine Rachewelle. Landeskenner warnt vor Desinformationen.
Über 1.000 Tote soll es in den vergangenen Tagen in Syrien gegeben haben, hauptsächlich in der Küstenregion mit den Städten Latakia, Jableh, Baniyas, wo eine Vielzahl aus der religiösen Minderheit der Alawiten lebt.
Leser, die sich für Syrien interessieren, wissen, dass die Alawiten durch die Herrschaft der Familie Assad etwa ein halbes Jahrhundert lang ein privilegiertes Standing im Land hatten, das mit einer ungewöhnlichen Gewalt gegen andere Grupperungen einhergehen konnte. Es gab mörderische Kämpfe, brutale Niederschlagungen und Massaker.
Die Furcht
So war die Furcht vor großen Racheaktionen, sollten die Alewiten einmal aus der Macht verschwinden, immer präsent. Der deutsche Journalist Peter Scholl-Latour beschrieb es in seinem letzten Buch "Der Fluch der bösen Tat" so:
"Die Alawiten wußten (sic!) nur zu gut, was ihnen bevorstand, falls die fanatischen Eiferer der Jibhat al-Nusra (…) in Damaskus die Macht an sich rissen. Schon hieß es in Aufrufen der Salafisten, Jihadisten und anderer sunnitischer Takfiri, sie würden die Christen Syriens (…) nach Beirut verjagen, während die Alawiten einem erbarmungslosen Massaker ausgeliefert würden."
Als ob ein Science-Fiction-Autor die Fortsetzung des Buches von 2014 geschrieben hätte: Gute zehn Jahre später, im März 2025, ist der frühere Chef der Al-Nusra-Front, Muhammad al-Jolani, unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Sharaa syrischer Staatspräsident, wenn auch nur als Interimspräsident. Wahlen soll es allerdings erst in drei oder vier Jahren geben.
Seine Regierung, Anfang Dezember an die Macht gekommen durch einen erfolgreichen Eroberungsfeldzug der Hayat Tahrir al-Scham, der Nachfolgeorganisation der Jibhat al-Nusra, ist nun mit gravierenden Problemen konfrontiert, die mit dem Horror zu tun haben, der seit vielen Jahrzehnten beschworen wurde: mörderische Racheaktionen.
"Blutige Auseinandersetzungen und sektiererischen Gewaltakte"
Seit Donnerstag vergangener Woche gibt es erste Meldungen über gewalttätige Auseinandersetzungen in der Provinz Latakia. Da war die Rede von "Zusammenstößen zwischen Assad-Loyalisten und Regierungstruppen". Wer oder was jeweils den Anstoß gibt, ist laut der Publikation Syria Direct nicht immer zweifelsfrei geklärt.
Bald gab es auf Musks X dazu immer mehr Bilder, und bald wurden die Zusammenstöße unübersichtlich.
Seither gibt es brutalste Tötungsvideos auf X, der früheren Twitterplattform, in größerer Zahl. Wer genau getötet wurde und wer die Mörder sind, ist oft unklar. Dazu gibt es Videos von demütigenden Aktionen, augenscheinlich von Mitgliedern der HTS. Es gibt kurze Videos von Schusswechseln und Auseinandersetzungen an Orten an der syrischen Mittelmeerküste; Hunderte von Alawiten waren Hilfe suchend in die russische Militärbasis Hmeymym geflohen.
In den Nachrichten war die Rede von "blutigen Auseinandersetzungen und sektiererischen Gewaltakten", "die das Land erneut in eine tiefe Krise stürzen".
Im Hintergrund heißt es – mit Material unterlegt –, dass sich Loyalisten des alten Assad-Regimes zusammengeschlossen hätten, um gegen die neue Herrschaft der HTS zu kämpfen.
Dazu gibt es Berichte von Rachemorden, übermittelt etwa von der Journalistin Jenan Moussa.
Laut Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle, die von der Zeit übermittelt werden, sollen in 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus, Hama und Homs regelrechte "Massaker" unter den Angehörigen der religiösen Minderheit der Alawiten angerichtet worden sein. "Unter den Getöteten seien 745 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder."
Das syrische Staatsfernsehen mache Unbekannte dafür verantwortlich, die "sich als Regierungstruppen verkleidet hätten, um mit diesen Taten einen neuen Bürgerkrieg zu beginnen".
Warnungen und Ankündigungen
Der französische Journalist und Dschihad-Experten Wassim Nasr warnt seinerseits davor, dass derzeit besonders viele Versuche unternommen würden, die neue Herrschaft in Damaskus zu untergraben, nicht nur mit brachialen Vorgehensweisen in der Wirklichkeit, sondern auch mit gestreuter Desinformation.
So würde sich etwa der Vorwurf, dass nun auch syrische Christen unter das Feuer von brutalen sunnitischen Fanatikern unter den HTS-Mitgliedern kommen, als falsch herausgestellt haben.
Indessen habe Interimspräsident Ahmed al-Sharaa angekündigt: "Alle, die Zivilisten ins Visier genommen haben, indem sie die Vorrechte des Staates überschritten oder ihre Macht missbraucht haben, werden schonungslos verurteilt (...) ein Untersuchungsausschuss wurde gebildet (...) ein Ausschuss für sozialen Frieden wird gebildet, um in direkter Verbindung mit den Küstenbewohnern zu stehen."
Mancher Beobachter sieht hier die Glaubwürdigkeit der Übergangsregierung sehr auf die Probe gestellt – mit unsicherem Ausgang, wie dies auch jüngste Nachrichten von US-Professor und Syrien-Kenner Joshua Landis bestärken.
Schließlich gibt es unter den Mitgliedern der HTS brutale und radikale Glaubensfatantiker und die Kontrolle über die Mitglieder, die auch nicht nur aus Syrien kommen, dürfte hohe Schwierigkeitsgrade und Durchlässigkeiten haben.
Die US-Regierung, Frankreich, das Auswärtige Amt in Berlin wie auch die EU und die UN verurteilten die Gewalt und forderten ein sofortiges Ende der Angriffe auf die Zivilbevölkerung.
Anas Khatab, der Geheimdienstchef der neuen syrischen Regierung, forderte die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung auf und machte führende Militär- und Sicherheitsfiguren des gestürzten Ex-Präsidenten für die Zusammenstöße verantwortlich. Er behauptet, die Angriffe würden aus dem Ausland gesteuert.