Syrien: Wie heraus aus der Dunkelheit?
Die Syrer werden wieder Licht am Ende des Tunnels sehen. Verspricht der neue Machthaber Ahmad al-Sharaa. Dazu braucht es aber – Elektrizität.
Als eine syrische Nachrichtenagentur jüngst die Einwohner von Damaskus fragte, was sie sich von der neuen Regierung wünschen, fiel vor allem ein Wort: "Strom!"
Tatsächlich steht Damaskus seit der Machtübernahme von Ahmad al-Sharaa und seiner Miliz, Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), mehr denn je im Dunklen: War die Hauptstadt in den Kriegsjahren täglich mit bis zu vier Stunden Strom "verwöhnt" worden, sind es jetzt vielerorts nur noch 15 bis 60 Minuten.
Brennstoff-Ebbe und Sanktionsflut
Um das zu verstehen, muss man das Dilemma betrachten, in das der Krieg Syrien brachte: Während seine Stromerzeugung zu 95 Prozent von Schweröl, Diesel und Gas abhängt, verlor es den Zugriff auf seine Gas- und Ölfelder. Diese liegen großteils nordöstlich des Euphrats und werden mittlerweile von der kurdischen YPG und den mit ihr verbündeten USA kontrolliert.
Für viele Syrer eine enorme Demütigung – wird doch ihr nationales Erbe, ihr "nützliches Syrien" von einer autonom gewordenen Region verwaltet; und im Zuge dessen an Damaskus zurückverkauft.
Zwar deckt die Menge nur einen Bruchteil des Tagesbedarfs von 400.000 Barrel – doch jeder Tropfen zählt. Zumal Damaskus seinen Brennstoffmangel nicht durch Importe ausgleichen kann. Dafür hat der von Donald Trump 2019 initiierte Caesar Act gesorgt – eine Maßnahme, die absolut jeden staatlichen oder nicht-staatlichen Akteur bestraft, der den Militär-, Handels-, Bau-, oder Energiesektor von Damaskus unterstützt.
Radikaler kann man einem Land die Luft nicht abschneiden. Syrien rutschte infolge in völlige Abhängigkeit vom Iran, das sich von den Sanktionen mehr oder minder unbeeindruckt zeigte und täglich 70.000 Barrel in einem Gesamtwert von 24 Milliarden Dollar geliefert hat (Rechnungen, die das Assad-Regime nie bezahlt hat).
Nun aber hat Teheran auch diesen Hahn zugedreht, was der Hauptgrund für die jüngsten Blackouts in Damaskus sein dürfte. In den sozialen Plattformen finden sich indes noch andere, idealistischere Erklärungen: Der Strom, den die Hauptstadt jetzt vermisse, fließe in bislang vernachlässigte Orte.
Denn: Anders als die verhasste Diktatur, die die knappen Ressourcen entlang ihrer Interessen verteilte (und beispielsweise Zamalka, eine einstige Rebellenhochburg nahe Damaskus, 13 Jahre lang komplett vom staatlichen Netz abschnitt), würde die neue Regierung niemanden mehr diskriminieren und alle gleichwertig versorgen.
Inklusive oder elitäre Wirtschaftspolitik?
Salam Said teilt diese Euphorie nicht. Die aus Syrien stammende Wirtschaftswissenschaftlerin und Leiterin des "Wirtschaftsprojekts MENA Region" bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ist überzeugt, dass HTS vor allem über eine gute PR-Strategie verfügt:
Sie haben Verständnis für den Schmerz der Menschen gezeigt und ihnen ein Leben in Würde und voller Stolz auf ihr Land versprochen.
Wie sie wirtschaftlich dahin gelangen wollen, hätten sie aber nicht erklärt.
Einerseits befürworten sie eine liberale Wirtschaft, ohne staatliche Einmischung, Zölle, Subventionen und Korruption. Stattdessen soll nur der Wettbewerb den Markt diktieren. Zugleich bestimmen sie die Brotpreise, was nichts anderes als staatliche Einmischung ist.
Salam Said
Tatsächlich weiß niemand so genau, wohin die Reise gehen soll. Möglicherweise weiß es die Übergangsregierung nicht einmal selbst, ist sie doch in den wenigen Wochen, seit sie das Sagen hat, hauptsächlich damit befasst, ihre Wortwahl auf ihr jeweiliges Publikum abzustimmen.
So tönt sie vor den Global Playern des Davoser Wirtschaftsforums mit Schlagworten wie "Freier Wirtschaft", "Großinvestitionen", "Ganz- oder Teilprivatisierungen". Und spricht zu Hause von Gerechtigkeit – einem, auch im Wirtschaftsalltag zu verankernden Grundprinzip des Islam.
Die einzige Wirtschaftspraxis, die HTS bislang vorzuweisen hat, stammt aus Idlib, einer Region mit schätzungsweise drei Millionen Einwohnern. Drei private Unternehmen kontrollieren dort den Treibstoffmarkt; und alle drei scheinen mit HTS affiliiert.
So erteilte diese zunächst der 2018 gegründeten Watad Company die exklusive Lizenz zum Import von Gas und Öl aus der Türkei – auf Kosten vieler kleiner, unabhängiger Betriebe.
Dass 2019 und 2020 noch zwei weitere Firmen gegründet und von HTS lizenziert wurden, lässt zunächst auf freien Wettbewerb schließen. Jedoch beziehen alle drei Unternehmen ihren Treibstoff aus der gleichen türkischen Quelle. Wurden also zwei weitere Firmen nur gegründet, um die erste – die monopolistische Watad Company – aus der Schusslinie der Kritik zu nehmen?
Ahmad al-Sharaa handelte sich in Idlib jedenfalls viele wütende Rücktrittsforderungen ein. Wird er dies auch auf der weit größeren syrischen Bühne riskieren – unter den Augen sanktionierender Industrienationen und den neu zum Leben erwachten Syrern selbst?
Immerhin kann er seine Macht kaum langfristig konsolidieren, indem er an 24,7 Millionen Menschen vorbei wirtschaftet, von denen 70 Prozent humanitäre Hilfe brauchen.
Und das vorrangigste Mittel, all diesen Menschen aus ihrer Misere herauszuhelfen, ist ihre Versorgung mit Strom.
"Wir leben nur noch, weil wir nicht tot sind"
Wie es ist, in einem Land ohne Strom zu leben, schildert eindrücklich eine Studie der Hilfsorganisation Oxfam von 2024. Demnach erhalten rund 5,3 Millionen Menschen in den Gebieten, in denen Oxfam tätig ist, und die allesamt vom Assad-Regime kontrolliert wurden (Lattakia, Aleppo, Deir-Ez-Zor und das Umland von Damaskus) seit Jahren täglich maximal zwei Stunden Strom, 27 Prozent erhalten gar keinen und ganze zehn Prozent können sich keine alternativen Quellen wie teure Solaranlagen oder Dieselgeneratoren leisten.
So verschlinge ein Ampere aus einem kommunalen Generator monatlich 18 Dollar und damit 45 Prozent des Haushaltseinkommens. Dies ermögliche es, zwei Glühbirnen zu betreiben und einige Handys aufzuladen.
Hinzu käme die Unberechenbarkeit. Die Menschen wüssten nicht, zu welchen Tageszeiten sie mit staatlichem Strom rechnen können. Funktionierende Kühlschränke oder Waschmaschinen würden so für Millionen zum unerreichbaren Luxus.
Und während im Winter vielfach alte Kleider, Schuhe oder Plastikflaschen (mit dem entsprechenden giftigen Gasausstoß) verbrannt würden, fehle es in den stickigen Sommern an frischer Luftzufuhr vor allem für Alte oder Kranke, weil die Ventilatoren nicht eingeschaltet werden können.
Und wo kein Strom, da auch kein Wasser – werden doch auch Syriens Wasserpumpstationen elektrisch bzw. mithilfe von Dieselgeneratoren betrieben.
Was vor dem Krieg und den Sanktionen bis zu 20 Stunden täglich gelang, ist mittlerweile Glückssache geworden: Manche Gemeinden erhalten alle zwei bis drei Wochen Wasser, andere wiederum nur in den brütend heißen Sommermonaten – und selbst dann nur in achtwöchigen Intervallen.
Und einmal abgesehen von den Folgen der Wasserknappheit für die Landwirtschaft: Wie mahlt und bäckt man ohne Strom? Der Inhaber eines kleinen lebensmittelverarbeitenden Unternehmens rechnet in der Studie vor: Monatlich benötige er 17.000 Liter Diesel, um die Ausfälle des staatlichen Stromnetzes zu kompensieren. Dafür habe er 2023 infolge der galoppierenden Inflation fast 24.000 US-Dollar bezahlt.
Da er seine Kosten nicht auf eine Kundschaft, die meist mit zwei Dollar pro Tag auskommen müsse, schränke er seine Produktion auf zwei- bis dreimal pro Woche ein. Die Folge: noch mehr Hunger. Bei weiter steigenden Preisen.
Mit Volldampf in neue Abhängigkeiten?
Noch wollen die USA nicht vom Caesar Act ablassen. Doch zumindest in puncto humanitärer Hilfe, die die Versorgung mit Grundleistungen im Energie- und Wassersektor beinhaltet, haben sie die Schlinge gelockert – bis zum 7. Juli.
Die Türkei und Qatar wollen diese Frist nutzen und zwei stromerzeugende Schiffe mit einer Gesamtleistung von 800 Megawatt schicken.
Überhaupt sieht sich die ehrgeizige Türkei mit ihrer 900 km langen Grenze zu Syrien als künftige Drehscheibe des Energiesektors in der Region. Über die nötige Infrastruktur verfügt sie: sieben Gaspipelines, fünf LNG-Terminals, drei schwimmende und zwei unterirdische Speicheranlagen.
Auch Saudi-Arabien liefert bereits über Luftbrücken lebensnotwendige Güter. Salam Said hält die Hilfe für wichtig und richtig – sieht aber zugleich die nächste Gefahr aufziehen: Ohne eine geschickte Steuerung – die sie der neuen Damaszener Führung nicht zutraut –, wird das schwache Syrien nur in neue politische Agenden eingeklemmt.
Die kommenden Wochen, in denen Ahmad al-Sharaa die Ministerposten mit "Technokraten" besetzen will, bringen hoffentlich mehr Klarheit. Schwarzsehen mag ohnedies noch keiner:
"Allein, dass wir jetzt alle laut diskutieren können, wie es mit unserem Land weitergeht, ist besser als alles, was wir bis zum 8. Dezember 2024 hatten", schreibt ein Syrer aus Aleppo an Telepolis.