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Syrische Chemiewaffen sollen einsatzbereit sein

In den letzten Tagen hat sich die Eskalationsspirale weiter gedreht, die Nato hat die Verlegung von Patriot-Systemen genehmigt, Warnungen wurden schärfer

Ende November hatte die NATO eine Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei angekündigt, nun gibt es weiter nicht belegbare Meldungen, dass die syrischen Streitkräfte ihre C-Waffen angeblich einsatzbereit machen. Ist diese Maßnahme eine Folge des Bürgerkriegs oder hat die NATO erst die Gefahr provoziert, die sie nun bekämpfen will? Jetzt philosophiert das "Verteidigungsbündnis" darüber, ob sie den Bündnisfall schon vor einem Angriff oder erst danach ausrufen will. Gleichzeitig stellt die US-Regierung Überlegungen für einen Präventiv- oder Präemptivschlag an. Und die israelische Regierung hat im November auf eine Militärinvasion in den Gaza-Streifen möglicherweise nur verzichtet, um ihre Truppen für einen Syrienkrieg in Reserve zu halten. Das geplante Bundeswehrkontingent wurde kurzfristig aufgestockt. Ende November forderte man noch den Einsatz von 170 Soldaten, eine Woche später sind es schon 400 Mann. Der Bundestag will hierüber am 14. Dezember entscheiden. Die Eskalationsspirale ist in Bewegung gekommen.

Das syrische Chemiewaffenpotential

Das syrische Chemiepotential [1] wird auf mehrere hundert, wenn nicht gar mehrere tausend Tonnen geschätzt. Nachdem 188 Staaten das Chemiewaffenübereinkommen vom 29. April 1997 ratifiziert und ihr Arsenal verschrottet haben, gilt das syrische C-Waffenpotential heutzutage als das drittgrößte der Welt. Bei den Kampfstoffen soll es sich um Blausäure, Senfgas, Tabun und Sarin handeln, vermutlich auch VX.

Zentrum der syrischen Chemiewaffenproduktion ist Forschungsanlage Centre d´Etudes et de Recherche Scientifique (CERS) bei Damaskus. Angeblich sollen heutzutage mehrere Produktionsstätten für Kampfstoff bzw. chemische Waffen in Betrieb sein. Die einzelnen Quellen machen hierzu sehr unterschiedliche Angaben, die weder vergleichbar noch überprüfbar sind. Demnach sollen sich Produktionsanlagen u. a. in Cerin, Damaskus, Hama und Homs befinden, weitere Zuliefererbetriebe sind in Aleppo, Al-Safira, Dumayr, Furklus, Khan Abou, Latakia und Shamat. Natürliche Phosphorvorkommen befinden sich in den Khunaifis-Minen, die von der General Company for Phosphate and Mines (GECOPHAM) betrieben werden.

Nach unterschiedlichen Angaben unterhalten die syrischen Streitkräfte sechs bis zwanzig Lagerstätten [3]. Depots befinden sich u. a. bei Al-Safir, Damaskus, Hama, Homs, Latakia, Musalmiya und Palmyra. Al-Safir [4] dient auch als Testgelände für Chemiewaffen; hier "arbeiten" u. a. Experten aus Nordkorea und dem Iran.

Vor dem Hintergrund der bürgerkriegsartigen Unruhen haben die syrischen Streitkräfte die Bewachung der Depots verstärkt. So sichern heute 100 Mann der 4. Panzerdivision das Testgelände in Al-Safir. Für den Schutz der ABC-Einrichtungen im Raum Hama ist das 2. Armeekorps in Zabadan zuständig. Im September 2012 verlegten [5] die syrischen Streitkräfte einen Teil ihrer Chemiewaffen, um sie vor den Rebellen in "Sicherheit" zu bringen.

Die Trägersysteme

Als potentielle Trägersysteme kommen Artillerie- und Panzergranaten, Flugzeugbomben und Raketengefechtsköpfe in Frage.

Chemische Artilleriegranaten wurden bereits im Jahre 1973 von der ägyptischen Regierung geliefert. Außerdem entwickelten die syrischen Streitkräfte in den letzten Jahren chemische Panzergranaten.

Als Trägerflugzeuge verfügt die syrische Luftwaffe über folgende Jagdbomber [6], zu deren aktueller Einsatzbereitschaft keine Aussagen gemacht werden können:

Die syrische Luftwaffe verfügt über mehrere tausend Chemie-Bomben, die vor allem mit Sarin gefüllt sind.

Das Heereskommando für die Raketenstreitkräfte befindet sich in Aleppo. Allerdings ist die Stadt im Norden Syriens stark umkämpft. Das Kommando umfasst vier Brigaden mit verschiedenen Modellen: sowjetische Frog-7, Scud B/C und Scarab sowie chinesische M-9 und M-11. Die Raketen sind auf mobilen Werferfahrzeugen oder ortsfest in Silos stationiert.

Für den Einsatz von Chemiewaffen kommt in erster Linie die Scud B/C in Frage. Die ersten Scud B wurde zwischen 1972 und 1982 von der damaligen Sowjetunion geliefert. Rund 120 Scud C wurden ab Februar 1992 importiert. Sie stammen aus der Sowjetunion und Nordkorea. Heute baut die syrische Regierung die Scud in Eigenregie nach. Der Bestand soll möglicherweise mehrere hundert Raketen umfassen. Ein Teil dieser Raketen besitzt Gefechtsköpfe aus hochexplosivem Sprengstoff, ein Teil ist mit chemischem Kampfstoff gefüllt.

Unterirdische Raketenfabriken sollen sich in Aleppo, Hama, Homs und bei Damaskus befinden. Nach Pressemeldungen befinden sich Scud-Raketenbasen in Al-Safira südlich von Aleppo, auf der Al-Samiyah-Basis bei Hama, auf der Straße von Hama nach As-Salamiyah, bei Damaskus und an der Straße von Damaskus nach Homs. Ein Raketentestgelände ist in Minakh.

Das Waffensystem SS-1c Scud-B (russische Bezeichnung: 9K72 Elbrus) besteht aus dem Raketentyp 9M72 und einem Werferfahrzeug 9P113 Uragan/Kashalot. Die Flüssigkeitsrakete hat eine Länge von 11,2 m bei einem Durchmesser von 0,84 m. Ihre Reichweite beträgt 260 bis 300 km. Das Gefechtskopfgewicht liegt bei 770 bis 985 kg. Die Treffgenauigkeit beträgt 300 m CEP. Das Werferfahrzeug wurde auf Basis des Schwerlast-Lkw MAZ-543 entwickelt. Die syrischen Streitkräfte sollen über 60 bis 200 Raketen verfügen, die von mindestens 12 nachladbaren Werferfahrzeugen aus verschossen werden können.

Die SS-1c Scud-C ist eine Variante, die bei einem geringeren Gefechtskopfgewicht von 450 bis 600 kg eine wesentlich größere Reichweite von 500 bis 600 km erzielt. Allerdings beträgt ihre Zielabweichung - nach unterschiedlichen Angaben - 650 bis 2.600 m. Die syrischen Streitkräfte sollen über mindestens 50 bis 120 Exemplare verfügen, die von 36 mobilen Werferfahrzeugen aus abgefeuert werden können.

Ungefähr seit 1985 produziert Syrien Scud-Raketengefechtsköpfe mit Sarin. Eine Scud-B wurde im Jahr 1998 erstmals mit einem VX-Gefechtskopf getestet. Außerdem sollen die Syrer über die Fähigkeit verfügen, die Raketen mit einem chemischen Streu-Gefechtskopf aus mehreren Bomblets zu bauen, der den Kampfstoff im Zielgebiet über eine größere Fläche verteilt.

Ausländische Militärhilfe beim Chemieprogramm

Die syrischen Streitkräfte wurden von der sowjetischen bzw. russischen Regierung mit Boden-Boden-Raketen und Jagdbombern ausgestattet. Welchen Anteil die Moskauer Regierung an der syrischen C-Waffenproduktion hat(te), ist nicht bekannt. Aufgrund der umfassenden Militärhilfe der Sowjetunion bzw. Russlands für das Regime in Damaskus halten sich gegenwärtig rund 200 russische Militärberater bzw. Ingenieure in Syrien auf. Wieviele davon mit der "Betreuung" der Jagdbomber und der Raketen befasst sind, ist nicht bekannt. Da die "Chemischen Truppen" innerhalb des russischen Heeres z. Zt. reduziert werden, besteht die Möglichkeit, dass russische Experten in den letzten Jahren nach Syrien ausgewandert sind.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden wiederholt chemische Kampfstoffe bzw. deren Ausgangsstoffe von Russland nach Syrien geschmuggelt. Der Umfang dieser illegalen Lieferungen kann nicht geschätzt werden. Immerhin konnte der russische Inlandsgeheimdienst FSB einmal eine Lieferung von 5 Tonnen Nervengas verhindern.

Außer Russland beteiligten sich aus Unternehmen aus mehreren "westlichen" Ländern - wissentlich oder unwissentlich - an der chemischen Aufrüstung in Syrien: USA, Niederlande, Frankreich, Spanien, Deutschland, Schweiz, Österreich, Italien und Slowakei. So lieferten [7], teils mit Hermes-Bürgerschaften, mehrere deutsche Unternehmen Chemikalien oder Bauteile, die möglicherweise für das Chemiewaffenprogramm verwendet wurden. Als syrischer Handelspartner trat i. d. R. die zivile, pharmazeutische Importfirma Saydalaya auf.

Einsatzvorbereitungen

Bereits im Januar und Februar 1982 schlug der damalige syrische Diktator Hafez al-Assad einen Aufstand der islamistischen Moslembruderschaft in der Stadt Hama nieder, dabei soll auch Blausäure bzw. Zyanid eingesetzt worden sein. Das Blutbad forderte - nach unterschiedlichen Angaben - 7.000 bis 35.000 Tote. Es ist damit zu rechnen, dass das syrische Regime erneut C-Waffen einsetzt.

Im Juli 2012 erklärte der Sprecher des syrischen Außenministeriums, Dschihad Makdissi, seine Regierung werden C-Waffen nur im Falle einer ausländischen Einmischung, niemals aber gegen das eigene Volk, einsetzen. Und im September 2012 berichtete [8] der "Spiegel", dass die syrischen Streitkräfte mitten im Bürgerkrieg Tests mit Chemiewaffen durchführten.

Nach einem Bericht [9] von Wired unter Berufung auf einen anonym bleibenden Regierungsmitarbeiter sollen die syrischen Streitkräfte in der letzten Novemberwoche damit begonnen haben, die Gefechtsbereitschaft ihrer chemischen Waffensysteme herzustellen, so dass das Militär zuschlagen kann, sobald der amtierende Staatspräsident Baschar al-Assad dazu den Befehl erteilt. So berichtete [10] die israelische Zeitung "Yedioth Achronoth" mit Verweis auf Wired, die Streitkräfte hätten die beiden bisher getrennt gelagerten Komponenten (Alkohol und Methylphosphonyl) zur Herstellung des Nervengases Sarin miteinander vermischt. Das fertige Sarin (chem. Bezeichnung: Methlylfluorophosphonsäureisopropylester) sei dann in Flugzeugbomben abgefüllt worden. Aber in dieser Form ist das Sarin nur rund 2 Monate lagerbar [11], so dass die Bomben bis Ende Januar 2013 entweder eingesetzt oder entsorgt werden müssen!

Diese alarmierenden Meldungen kommen zu einem Zeitpunkt, da die Rebellenarmee weiter auf dem Vormarsch ist. Zunächst hatten die syrischen Streitkräfte versucht, die Rebellen im Infanteriekampf niederzuringen, später dann durch ihre Panzerverbände. Zum Schluss ließ Baschir al-Assad die Wohnviertel der Aufständigen durch die Luftwaffe bombardieren. Damit sind seine konventionellen Möglichkeiten ausgeschöpft. Allerdings können sich die Kämpfe noch Monate hinziehen. So erklärte [12] ein türkischer Regierungsbeamter gegenüber dem Guardian:

We have intelligence from different sources that the Syrians will use ballistic missiles and chemical warheads. (…) First they sent the infantry in against the rebels and they lost a lot of men, and many changed sides. Then they sent in the tanks, and they were taken out by anti-tank missiles. So now it's air power. If that fails it will be missiles, perhaps with chemical warheads. That is why we asked Nato for protection.

Möglicherweise sind die syrischen Einsatzvorbereitungen aber auch eine Reaktion auf die kürzlich bekannt gewordenen Pläne der NATO, AWACS-Flugzeuge und Patriot-Raketen in der Türkei zu stationieren.

Angeblich [13] will die US-Regierung Rebellen für den Umgang mit chemischen Waffen ausbilden.So sollen bereits Experten angeheuert und erste Übungern in Jordanien durchgeführt worden sein.

Einsatztaktik von Nervengasen

Da die chemischen Waffen zu den Massenvernichtungsmitteln zählen, kann mit ihnen eine Vielzahl von Personen flächenwirksam getötet oder verwundet werden. Indem man das Gelände des Gegners kontaminiert, wird dessen operative Beweglichkeit erheblich eingeschränkt. Außerdem müssen die feindlichen Soldaten ABC-Schutzkleidung anlegen, was ihre Einsatzmöglichkeiten und Ausdauer zusätzlich einschränkt. Allerdings kann dies auch die eigenen Truppen betreffen, wenn sich der Wind dreht oder der Kampfverlauf ändert.

Bei der Planung eines solchen Einsatzes müssen die Militärs die spezifische Toxizität des Kampfstoffes und die Umweltbedingungen am Einsatzort beachten. Die "Mittlere Letale Dosis" (LD50) gibt an, wieviel Kampfstoff eine Person aufnehmen muss, um daran mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu sterben. Die "Mittlere Letale Konzentration" (LCt50) gibt an, wie hoch die Kampfstoffkonzentration in einem Kubikmeter Luft sein muss, um einen Menschen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu töten. Die Überlebenden tragen oft dauerhafte Schäden davon, worunter sei ein Leben lang zu leiden haben: Erblindung, Hautverätzungen, Lungenschäden und Krebs.

Im Ersten Weltkrieg wurden die Kampfstoffe noch in Form von Gas ausgebreitet, daher stammt der gebräuchliche Name "Giftgas". Aber Gas verflüchtigt sich sehr rasch und daher gingen die Militärs später dazu über, die Sesshaftigkeit des Kampfstoffes zu erhöhen, indem man ihn als Aerosol einsetzte. Ein Aerosol besteht aus einer Unzahl mikroskopisch kleiner Tröpfen, die sich wie ein Nebel ausbreiten. Bei Chemieangriffen zeigte sich in der Vergangenheit, dass sich der meiste Kampfstoff auf Bäumen, Dächern und Wiesen niederschlägt. Trotz der hohen Toxizität der Substanzen war ein Angriff daher nur dann "erfolgreich", wenn etliche Tonnen Kampfstoff gleichzeitig zum Einsatz gebracht werden konnten.

Nicht zuletzt müssen die Wetterbedingungen bedacht werden, weil sich die Kampfstoffe bei steigender Temperatur und erhöhter UV-Strahlung schneller zersetzen. Bei einer Temperatur von -10 °C, Windstille und einer Schneedecke hält sich Senfgas bis zu 8 Wochen, Sarin maximal 2 Tage und VX bis zu 4 Monaten. Bei einer Temperatur von +15 °C, Sonnenschein und leichtem Wind hat sich Senfgas nach 7 Tagen vollständig zersetzt, Sarin nach 1 Stunde und VX nach maximal 3 Wochen. In Damaskus herrschen zu dieser Jahreszeit Temperaturen von 15 °C tagsüber, nachts kühlt es auf 2 bis 3 °C ab; es weht ein mäßiger Westwind (ca. 33 km/h), an manchen Tagen regnet es.

Der amerikanische Militärexperte Anthony H. Cordesman beschreibt die Folgen eines VX-Raketenangriffs wie folgt:

Wenn man eine Zündhöhe von 1.100 m, einen Bodenwind von 91,5 cm pro Sekunde und einen schlimmsten Fall unterstellt, dann würde der Gefechtskopf ein Gebiet von 0,53 km Breite und 3,5 km Länge vergiften, das rund einen Kilometer entfernt vom Explosionsort beginnt. Wenn man ebenes Gelände und keine Abwehrmaßnahmen unterstellt, würden 50 Prozent der vergifteten Personen zu Opfern werden. Das ist ein Gebiet mit einer extrem hohen Sterblichkeitsquote, und der VX-Kampfstoff würde über mehrere Tage hinweg seine tödliche Wirkung behalten. (...) In der Praxis beträgt die Sterberate nur 5 bis 20 Prozent, aber dennoch müssten dadurch sämtliche Militäraktivitäten im Zielgebiet eingestellt werden.

Internationale Einmischungsambitionen

Sowohl die amerikanische als auch die russische Regierung haben in den letzten Monaten die syrische Regierung wiederholt vor einem Einsatz chemischer Waffen gewarnt. Dabei war die Wortwahl der Russen vielleicht etwas weniger scharf im Ton, aber genauso nachdrücklich in der Sache.

Für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes durch das syrische Regime hat der amerikanische Präsident Barack Obama zum wiederholten Male mit einem unspezifizierten Vergeltungsschlag gedroht. Offensichtlich wurden entsprechende Contingency Operational Plan(s) ausgearbeitet. Am 3. Dezember 2012 erklärte [14] Obama:

Today I want to make it absolutely clear to Assad and those under his command: The world is watching. (…) The use of chemical weapons is and would be totally unacceptable. If you make the tragic mistake of using these weapons, there will be consequences and you will be held accountable.

Bekannt wurde, dass sich in Jordanien eine 150 Mann starke Task Force aufhält [15], die im Falle eines C-Einsatzes die syrischen Chemiewaffen "erobern" sollen. Z. Zt. halten sie entsprechende Einsatzübungen ab. Allerdings mutet die Zahl von 150 Mann Special Forces sehr klein an. Um das gesamte chemische Potential auszuschalten, brauchten die US-Streitkräfte nach Berechnungen des Pentagons 75.000 Soldaten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bereits im Mai 2012 in Jordanien die jährliche Anti-Terror-Übung EAGER LION stattfand [16], an der diesmal 12.000 Soldaten aus 19 Ländern teilnahmen.

Außerdem wird ein möglicher US-Luftangriff vorbereitet. Und der US-Senat forderte am 4. Dezember 2012 den Präsidenten auf, die Einrichtung einer Flugverbotszone zu prüfen. So erklärte [17] Senator Joseph Lieberman:

Dies (...) ist für uns die einfachste Methode, der Administration zu sagen, dass der Senat über das Gemetzel in Syrien beunruhigt ist. (...) Es muss eine vernünftige Bewertung dessen gegeben werden, was die US-Streitkräfte tun können, um Baschar al-Assad um die Möglichkeit zu bringen, die Luftwaffe einzusetzen.

Unklar ist, in welchem Umfang US-Streitkräfte auch präventiv oder präemptiv zuschlagen könnten. Bisher hatte die US-Regierung lediglich politischen Druck auf das Regime in Damaskus ausgeübt. Die Forderung nach einer militärischen Hilfe, etwa durch Waffenlieferungen, hatte die US-Administration immer abgelehnt. Allerdings wies [18] der russische Außenminister Sergej Lawrow in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Rebellen mit etwa 50 amerikanischen Stinger-Raketen ausgerüstet seien. Nun hat es den Anschein, dass sich die US-Regierung zukünftig direkt in den inner-syrischen Konflikt militärisch einmischen will.

In Fall eines syrischen Chemieangriffs drohte [19] auch die NATO-Führung eine "sofortige Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft" an, wie NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am 4. Dezember 2012 erklärte.

Aber nicht nur die USA, auch die Israelis forcieren ihre Syrienpolitik: Im Oktober und November 2012, während die ganze Welt auf den Konflikt um den Gaza-Streifen starrte, plante die israelische Luftwaffe einen Präemptivschlag gegen das syrische Chemiewaffenarsenal. Zumindest meldete [20] dies das amerikanische Magazin The Atlantic. Gleich zweimal soll die Regierung in Tel Aviv entsprechende Überflugrechte bei der jordanischen Regierung in Amman beantragt haben, obwohl doch Israel und Syrien eine gemeinsame Grenze teilen. (Die Nachfrage bei den Jordanier ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass sich mehrere syrische C-Waffen-Depots in der Nähe zur jordanischen Grenze befinden und Giftgasschwaden bei einer Bombardierung der Munitionsbunker freigesetzt werden könnten, die jordanische Gebiet kontaminieren könnten.

Die israelischen Operationspläne wecken Erinnerungen an die Operation ORCHARD: Am 6. September 2007 hatten israelische Jagdbomber F-15 und F-16 eine syrische Nuklearanlage bei Dayr as Zawr bombardiert.

Unklar ist, ob autonom agierende Rebellen beabsichtigen, syrische Chemiewaffen in ihre Gewalt zu bringen. Ein offizieller Sprecher der Rebellenarmee erklärte [21] hierzu: "We hope American troops will secure the plant (gemeint ist Al-Safira, d. A.). (...) We don´t want the regime to be able to use the weapons, but neither do we want them to fall into the hands of radicals after the downfall (of the regime)." In diesem Zusammenhang sei an die Chlorgas-Angriffe der Al-Qaida im Westirak im April/Mai 2007 erinnert.

Für den Fall der Fälle verlegte das türkische Heer sein einziges ABC-Abwehrbataillon am 24. Juli 2012 an die Grenze zu Syrien. Und das tschechische Heer hat einen Teil seiner ABC-Abwehrkräfte in Jordanien stationiert, um jederzeit eingreifen zu können.

Angesichts der unklaren, aber gefährlichen Lageentwicklung haben die UNO und die EU einen Teil ihrer Mitarbeiter aus Syrien evakuiert. So zog die UN ein Viertel ihrer rund 100 Mitarbeiter ab, die bisher mit der Organisierung humanitärer Hilfsmaßnahmen betraut waren. Die EU zog alle Personen ab, die "nicht zwingend notwendige Mitarbeiter" waren.

Der deutsche Patriot-Einsatz

Schon einmal, am 27. Mai 2005, krachte eine syrische Scud-Rakete in zwei türkische Dörfer in der Provinz Hatay. Damals war eine Testrakete vom Kurs abgekommen. Nachdem es seit Oktober wiederholt zu Zwischenfällen an der türkisch-syrischen Grenze gekommen war, genehmigte [22] der Nordatlantikrat der NATO am 4. Dezember 2012 die Verlegung von Raketenabwehreinheiten Patriot PAC-3 in die Türkei. Ende November war noch die Rede von zwei deutschen und einer niederländischen Staffel, eine Woche später hieß es, man werde aus den USA, den Niederlanden und Deutschland jeweils zwei Staffeln einsetzen.

Das mobile Waffensystem MIM-104 Patriot PAC-3 [23] besteht aus einem Feuerleitstand (Engagement Control Station - ECS), einem Mehrfunktionsradar AN/MPQ-65, einer Antennenmastanlage (34 m), einem Stromerzeugungsaggregat und - nicht zuletzt - einer Startstation mit vier Raketen in Startkanistern in der Erstbeladung. Die Startanlage ist auf einem Lastkraftwagen MAN Lkw 15t mil gl A1 br (8x8) montiert. Die Anti-Raketen-Raketen haben eine Länge von 5,2 m bei einem Durchmesser von 0,25 m. Ihr Splitterkopf hat eine Füllung aus 73 kg hochexplosivem Sprengstoff. Die Reichweite der Rakete beträgt 45 km. Die Patriot soll jedes anfliegende Flugzeug abschießen und jede Rakete, egal ob mit konventionellem oder chemischem Gefechtskopf, "in der unteren Abfangschicht" direkt treffen ("hit-to-kill"). Jede Staffel besteht aus 85 Soldaten und verfügt über rund zwanzig Fahrzeuge, darunter acht mobile Startstationen.

In der letzten Novemberwoche hieß es noch, man wolle 170 Bundeswehrsoldaten in die Türkei entsenden. Aber im Beschluss des Bundeskabinetts vom 6. Dezember ist schon von maximal 400 Mann die Rede. Zu den Raketensoldaten hinzu kommen noch einmal 50 Mann für die NATO-Stäbe in der Türkei, ca. 130 Soldaten für den Schichtbetrieb an Bord der E-3A Sentry AWACS-Flugzeuge der NATO Early Warning Force (NAEWF) aus Geilenkirchen und eine Personalreserve von 50 Mann, über deren Zusammensetzung und Verwendung noch nicht entschieden ist. Angesichts der drohenden Begasung von Bundeswehreinheiten werden die Raketensoldaten möglicherweise von eigenen Sicherungs-, ABC-Abwehr- und Sanitätskräften unterstützt.

Der Einsatz der modernisierten AWACS-Flugzeuge wird damit begründet, sie würden die Patriot-Einheiten unterstützen. Darüberhinaus sind die Flugzeuge dazu geeignet, sämtliche Truppenbewegungen der syrischen Bürgerkriegsparteien am Boden genau zu verfolgen und entsprechende Zieldaten zu generieren. Dazu kann das Radargerät AN/APY-1 mehrere hundert Kilometer weit nach Syrien hineinblicken. Bisher wurde noch nicht bekannt, wieviele Flugzeuge auf welchem Fliegerhorst in der Türkei stationiert werden.

Der Bundestag wird am 14. Dezember 2012 über eine Mandatierung der Bundeswehr befinden. Die Verlegung der beiden deutschen Staffeln wird dann im neuen Jahr erfolgen. Beide Einheiten stammen vom Flugabwehrraketengeschwader 1 (FlaRakGeschw1), das in Husum und Leck disloziert ist. Die beiden deutschen und die niederländische Staffel werden auf drei Provinzen im Süden der Türkei verteilt: Gaziantep, Malatya und Diyarbakir. Zeitweise war auch die Provinz Urfa als Dislozierungsraum im Gespräch. Die US-Streitkräfte werden eine Staffel auf einem Flugzeugträger stationieren. Die Einsatzführung liegt beim NATO-Raketenabwehrkommando in Ramstein und nicht beim türkischen Generalstab, wie von der Regierung in Ankara zunächst gefordert.

Von Seiten der NATO wird die Stationierung der Patriot-Einheiten in der Türkei nur als "normale" Infrastrukturmaßnahme zur Stärkung der türkischen Landesverteidigung dargestellt. Aber die türkische Regierung forderte schon seit Sommer 2012 wiederholt die Ausrufung des Bündnisfalles auf Basis von Artikel 5 der NATO-Charta und stieß damit auf den Widerstand anderer Mitgliedsländer. Möglicherweise entsteht hier ein Präzedenzfall, wenn jetzt zum ersten Mal NATO-Truppen zum (Kampf-)Einsatz kommen, noch bevor ein Angriff auf das NATO-Gebiet überhaupt erfolgt ist.

Bisherige NATO-Einsätze im europäischen Raum (Albanien, Jugoslawien) dienten immer der Einmischung in einen Bürgerkrieg außerhalb des Bündnisgebietes, aber dies soll ja diesmal ausdrücklich nicht der Fall sein. Vielmehr rechtfertigte [24] Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière die Truppenentsendung am 26. November damit, dass "wir unser eigenes Bündnisgebiet verteidigen". Allerdings wirft auch diese Aussage ein zweifelhaftes Licht auf das, was die NATO unter "Verteidigung" versteht.

Die russische Regierung protestierte gegen die Stationierung der Patriot-Einheiten in der Türkei. Bei einem Türkeibesuch sagte [25] Präsident Wladimir Putin am 3. Dezember 2012:

Moskau ist der Ansicht, dass die Stationierung von Patriot-Raketen in der Region nicht zur Lösung des Problems beitragen wird. (...) Denn die Schaffung irgendwelcher zusätzlicher Möglichkeiten an der Grenze wird die Situation nicht entschärfen, sondern im Gegenteil nur verschlimmern. (...) Wenn zu Beginn eines Theaterstücks an der Wand eine Flinte hängt, wird sie zum Ausklang unbedingt schießen. Brauchen wir denn noch weitere Schießereien an der Grenze?

Unklar bleibt, wie die türkischen Streitkräfte im Falle eines syrischen Chemieangriffs reagieren werden. Auch sie verfügen noch über chemische Waffen und sollen diese wiederholt gegen die kurdische Minderheit eingesetzt haben. Der letzte Angriff soll [26] am 22. Oktober 2011 bei Cukurca erfolgt sein. Mindestens 24 Tote waren zu beklagen.

Derweil erhöht auch die russische Regierung ihre Truppenpräsenz und schickt einen Schiffskonvoi [27] nach Tartus in Syrien. Der Verband besteht aus dem Raketenkreuzer Moskwa (Slawa-Klasse), dem Küstenschutzschiff Smetliwy (Kashin-Klasse), den Landungsschiffen Nowotscherkassk (Ropucha-I-Klasse) und Saratow (Alligator-Klasse), dem Schlepper MB-304 und dem Tanker Iwan Bubnow.

Dennoch versuchte [28] der russische Präsident bei seinem Türkeibesuch die Situation zu beschwichtigen: "Gesunder Menschenverstand reicht aus, man braucht kein Fachmann zu sein oder keine nachrichtendienstlichen Informationen zu nutzen, um zu verstehen, dass ein Überfall Syriens auf Nachbarländer irreal ist." Die Frage ist nur, ob nach 40.000 Toten der amtierende syrische Diktator noch genügend "gesunden Menschenverstand" sein Eigen nennt.

Gerhard Piper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit [29].


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Links in diesem Artikel:
[1] http://csis.org/files/media/csis/pubs/080602_syrianwmd.pdf
[2] http://www.globalsecurity.org/wmd/world/syria/cw.htm
[3] http://www.tagesschau.de/ausland/syrien2438.html
[4] http://www.globalsecurity.org/wmd/world/syria/facility.htm
[5] http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-19763642
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Syrian_Air_Force_squadrons
[7] http://www.mafhoum.com/press2/75P3.htm
[8] http://www.spiegel.de/international/world/syria-tested-chemical-weapons-in-desert-in-august-eyewitnesses-say-a-856206.html
[9] http://www.wired.com/dangerroom/2012/12/syria-chemical-weapons-3/
[10] http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4315176,00.html
[11] http://de.rian.ru/security_and_military/20121206/265081927.html
[12] http://www.guardian.co.uk/world/2012/dec/02/turkey-syria-chemical-weapons-fears
[13] http://alpha.syriadeeply.org/2012/12/to-secure-chemical-weapons-us-trains-rebels-brigades/
[14] http://www.nytimes.com/2012/12/04/world/middleeast/nato-prepares-missile-defenses-for-turkey.html
[15] http://www.washingtonpost.com/world/clinton-us-will-act-if-syria-uses-chemical-weapons/2012/12/03/bf1a400e-3d34-11e2-8a5c-473797be602c_story.html
[16] http://www.csmonitor.com/World/Middle-East/2012/0529/US-18-other-nations-wrap-up-Eager-Lion-military-exercise-in-Jordan
[17] http://de.rian.ru/security_and_military/20121205/265073085.html
[18] http://de.ria.ru/politics/20121106/264879668.html
[19] http://www.nato.int/cps/en/natolive/opinions_92785.htm
[20] http://www.theatlantic.com/international/archive/2012/12/israel-asked-jordan-for-approval-to-bomb-syrian-wmd-sites/265818/)
[21] http://www.spiegel.de/international/world/syria-tested-chemical-weapons-in-desert-in-august-eyewitnesses-say-a-856206.html
[22] http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_92861.htm
[23] http://de.wikipedia.org/wiki/MIM-104_Patriot
[24] http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1061536
[25] http://de.ria.ru/politics/20121203/265061332.html
[26] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Chemiewaffen/15jahre.html
[27] http://de.rian.ru/politics/20121123/264996099.html
[28] http://de.rian.ru/politics/20121203/265061495.html
[29] http://www.bits.de