System-Logik: Der Fall Professor Birbaumers

Seite 2: Schlüsse auf die System-Logik

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Das erste allgemeine Problem, das hier ans Tageslicht kommt, betrifft das Gutachtersystem: Fachkollegen sollen unabhängig und anonym die Methodik und Ergebnisse so einer Studie überprüfen. Das nennen wir Peer Review.

In so einer Forschungsarbeit wie der hier vorliegenden steckt wahrscheinlich monatelange Arbeit, nicht nur für die Datenerhebung, sondern auch die Auswertung und Interpretation. Von Gutachtern wird nun erwartet, diese Arbeit neben den schon zwingend vorhandenen Forschungs-, Lehr- und Verwaltungstätigkeiten durchzuführen - und das alles gratis, aus purem Idealismus.

Dass man als Gutachter überhaupt Originaldaten mitgeschickt bekommt und nicht nur die Ergebnisse, ist eher schon die Ausnahme. Aber wer hat selbst dann Zeit und Muße, alle Auswertungsschritte nachzuvollziehen? Dass selbst die Untersuchungskommission nicht alle Daten oder wenigstens die Skripte, mit denen sie ausgewertet wurden, vorgelegt bekam, stärken meine Vermutung, dass die Peer Reviewer hier nur eine Plausibilitätskontrolle vornehmen konnten. Für mehr reicht die Zeit meist auch gar nicht.

Für eine allumfassende Kontrolle müsste man schlicht Vollzeitpersonal einstellen, das nichts anderes macht, als die Berechnungen und Schlussfolgerungen anderer nachzuvollziehen. Woher sollte aber das Geld hierfür kommen, wo ohnehin viele Forschungszweige und -Institute schon unter Kürzungen leiden? Ab einem gewissen Grad muss man im heutigen System den Forscherkollegen schlicht vertrauen.

Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass die Gutachter in so einem hochspezialisierten Gebiet wahrscheinlich alte Bekannte sind, die dem Autorenteam nicht völlig neutral gegenüberstehen (Warum die Wissenschaft nicht frei ist). Das kann sich übrigens sowohl positiv als auch negativ auswirken. Die Letztentscheidung über die Publikation obliegt den Redakteuren, die in erster Linie ihren Unternehmen gegenüber verantwortlich sind und nicht der Wissenschaft.

Karriere nach dem Konkurrenzprinzip

Nun sind die Publikationsplätze in den angesehensten Zeitschriften künstlich beschränkt. Dort, wo die meisten Wissenschaftler publizieren wollen oder müssen, werden die meisten Manuskripte ohne jegliche Begutachtung gleich von der Redaktion abgelehnt. Nature, Science oder auch PNAS gehören dabei zu den begehrtesten Zeitschriften.

Dabei darf man nicht vergessen, dass die Publikationsorgane selbst im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Zitationen stehen, die sich in Einfluss und finanziellem Gewinn ausdrücken. Nature bekommt inzwischen übrigens jährlich mehr als 10.000 Manuskripte zugeschickt, von denen weniger als 8% veröffentlicht werden. In den 90ern waren es noch um die 8.000, von denen schließlich über 10% akzeptiert wurden.

Ein Kollege aus der Psychologie berichtete mir einmal von seiner jahrelangen Durststrecke, in der er auf Bewerbungen um Professuren nur Absagen erhalten habe. Auf Nachfrage habe ihm ein Bekannter gesagt: "Du hast zwar einen guten Lebenslauf. Dir fehlt aber noch die eine Nature-Publikation." Dieser Bekannte hat ausgeharrt und inzwischen seinen Lehrstuhl (und für ihn noch wichtiger: endlich ein Kind), auch ohne Nature. Doch nicht jeder hat so viel Geduld.

Wir haben jetzt also schon die Zutaten Wettbewerb, mitunter wird gar vom Hyperwettbewerb gesprochen, dazu kommen begrenzte Ressourcen, Konkurrenz - um Stellen und Forschungsmittel - und begrenzte Kontrolle. Letztere bezieht sich sowohl auf das, was die Gutachter tun können, als auch auf die Anonymität ihres Handelns und auf die Entscheidung der Redakteure.

Nun hatten wir im Sport (Doping), in der Wirtschaft (Korruption) und in der Politik (Vetternwirtschaft) in den letzten Jahren schon so viele Skandale. Sollten wir einfach so glauben, dass Wissenschaftler über alle menschlichen Motive und Bedürfnisse erhaben sind? Im Hyperwettbewerb? Damit ist nicht gesagt, dass es zwangsweise schiefgehen muss. Allerdings sind in der System-Logik bestimmte Stellschrauben darauf ausgelegt.

Das Schweigen der Fachwelt

Bemerkenswert ist auch, dass sich bei der umfangreichen Untersuchung durch die Süddeutsche Zeitung kein einziger Fachkollege namentlich zum Fall Birbaumers äußern wollte. Dazu hieß es in der immerhin zwölfseitigen Reportage im SZ-Magazin:

Namentlich will niemand genannt werden. Das sei gefährlich, sagen sogar jene, die längst nicht mehr angewiesen wären auf das Wohlwollen des berühmten Pioniers ihres Fachs. "Wir kennen uns alle sehr gut", erklärt ein Professor, "jeder ist Gutachter von jedem." Birbaumer habe einen "Riesenruf" und viel Einfluss.

SZ Magazin 15/2019, S. 14

Die einzigen Ausnahmen waren der junge Informatiker Martin Spüler, der mit seinen Auswertungen und seiner Beharrlichkeit den Stein überhaupt erst ins Rollen brachte. Sein Vertrag wurde von der Universität Tübingen übrigens nicht verlängert. Und eine extern eingeschaltete Statistikerin, die die Datenauswertung der strittigen Studie laut SZ als "praktisch wertlos" bezeichnet.

Das hört sich jedenfalls nicht nach einer freien Kommunikationskultur an. Und gerade das Gutachterwesen ist hier ein Knackpunkt: Der Kollege, den man heute kritisiert, kriegt morgen vielleicht schon die Publikation oder den Forschungsantrag zur Beurteilung, an dem die zukünftige Karriere hängt. In einem kleinen Fachgebiet ist das sogar recht wahrscheinlich.