Tag X in Bulgarien vertagt

Sturm auf das Parlament. Bild: Frank Stier

Ministerpräsident Boiko Borissov übersteht den Großen Volksaufstand und spielt auf Zeit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Mittwoch des 2. September 2020 sind die bulgarischen Volksvertreter von ihrem historischen Sitz am Zar Osvoboditel in das ehemalige Haus des Zentralkomitees der "Bulgarischen Kommunistischen Partei" (BKP) gezogen. Hochaufragend dominiert der in den stalinistischen 1950er Jahre errichtete Monumentalbau im Stile des Neo-Klassizismus die Stirnseite des Unabhängigkeitsplatzes, den die Sofioter auch Largo nennen. Zusammen mit dem Parteihaus markieren die unmittelbar benachbarten Gebäude von Ministerrat und Staatspräsidium die Eckpunkte des demokratischen Dreiecks der Macht.

Noch vor Beginn des ersten Sitzungstags von Bulgariens Parlamentariern im einstigen ZK hatten sich am frühen Mittwochmorgen rund zehntausend Bürger am Largo versammelt. Seit nunmehr zwei Monaten fordern die sie den Rücktritt von Ministerpräsident Boiko Borissov und von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev. Als einige Demonstranten versuchten, den auf den Stufen zur Eingangspforte des Parteihauses postierten Polizeikordon zu durchbrechen, setzten die Ordnungshüter Pfefferspray ein. Ihrerseits mussten sich die Polizeibeamten eines Hagels aus verdorbenen Eiern, Tomaten, Wasserflaschen und sogar Strohballen erwehren. Krankenwagen transportierten kollabierte Personen ab ins Krankenhaus.

Es sollte der Tag X werden, der die politische Karriere von Regierungeschef Borissov nach drei unvollendeten Mandaten in elf Jahren endgültig beenden würde. Dies hofften zumindest die Gegner des Führers der rechtsgerichteten Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB). Doch diesmal ist es Borissov noch einmal gelungen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Angesichts der unversöhnlichen Feindschaft zwischen Regierung und der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition, stellt sich aber die Frage: wie lange noch?

"An dem Tag, an dem das Parlament die Große Nationalversammlung einberuft, damit diese über eine neue Verfassung entscheidet, trete ich von meinem Amt zurück", hat Boiko Borissov am 14. August 2020 erklärt. Bulgarien brauche einen "Re-Start des politischen Systems", begründete er dies. Am ersten Sitzungstag des Parlaments nach der Sommerpause hatte die GERB-Fraktion nun die Möglichkeit, mit der Hälfte der Unterschriften der zweihundertvierzig Abgeordneten den Antrag auf eine Debatte zur Einberufung der Großen Nationalversammlung in das Hohe Haus einzubringen.

Sollte GERB die für die Antragsstellung erforderlichen einhundertzwanzig Stimmen nicht zusammenbekommen und gleichzeitig vor dem Parlamentsgebäude viele Bulgaren lautstark und nachdrücklich den Rücktritt des Kabinetts Borissov fordern, könnte der erste Sitzungstag des Parlaments zum letzten Amtstag des verhassten Premiers werden, hofften die Vertreter der Protestbewegung. Sie erklärten den ersten Sitzungstag des Parlaments zum "Tag des Großen Volksaufstands".

Bis zum Nachmittag sollte es dauern, bis die Meldung kam, GERB habe einhundertsiebenundzwanzig Unterschriften zusammengebracht und den Einberufungsantrag für die Große Nationalversammlung in das Parlament eingebracht. Offenbar konnte GERB fraktionslose Abgeordnete und kleinere Oppositionsparteien nur mit Mühe zur Zustimmung zum "Re-Start des politischen Systems" bewegen.

Das bulgarische Parlament. Bild: F. Stier

In der Nacht kam es daraufhin zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Polizeikräften. An ihnen beteiligten sich auch gewaltbereite Fußballfans, die Knallkörper detonieren ließen. Wer sie geschickt hatte, blieb ungeklärt. Achtzig verletzte Polizeibeamte und einhundertzwanzig festgenommenen Personen, so lautete die Bilanz der Polizeiführung am nächsten Tag. Ihrerseits veröffentlichten die Bürgerrechtler der Initiative "Pravosedie sa vseki" (Rechtssprechung für alle) Videoaufnahmen von exzessiver Polizeigewalt wie man sie sonst eher aus der belarussischen Hauptstadt Minsk kennt. Auch ein dänisches Fernsehteam wurde durch Handlungen von Polizeibeamten in Mitleidenschaft gezogen.

Die Parlamentarier haben nun einen Zeitrahmen zwischen zwei und fünf Monaten, um über die Einberufung der Großen Nationalversammlung zu entscheiden. Damit hat Boiko Borissov etwas Zeit gewonnen. Die Partei der bulgarischen Türken "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS) hat aber bereits erklärt, der Einberufung der Großen Nationalversammlung zur Verabschiedung einer neuen Verfassung auf keinen Fall zuzustimmen. Damit ist schon jetzt klar, dass die Regierungspartei GERB und ihre nationalistischen Koalitionspartner von den Vereinigten Patrioten (VP) die dafür nötige Zweidrittelmehrheit von einhundertsechzig Stimmen verfehlen werden.

Dass Bulgariens politisches Leben aber in einer derart von Unruhen geprägten Weise bis zu den für den März 2021 angesetzten Parlamentswahlen weitergehen kann, ist kaum vorstellbar. Als eine Möglichkeit erachten politische Beobachter deshalb die Bildung eines parteienunabhängigen Expertenkabinetts im Rahmen der Legislaturperiode des amtierenden Parlaments.

Präsident steht auf der Seite der Protestbewegung

Der den Sozialisten nahestehende Präsident Rumen Radev ließ es sich am Tag des Großen Volksaufstands nicht nehmen, von seinem Amtssitz zu Fuß durch die vor dem Parlament versammelte Protestmasse zum Plenarsaal des Parlaments zu schreiten. Seine Rede zum Beginn der neuen politischen Saison wollten die Abgeordneten der rechtsnationalen Regierungskoalition aber nicht hören. Sie verließen geschlossen den Plenarsaal. Radev hat sich bereits zu Beginn der Protestbewegung Anfang Juli auf die Seite der Anti-Regierungsdemonstranten geschlagen. Vor den verbliebenen Volksvertretern erklärte er: "Die Erfüllung der Forderung der Demonstranten nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Borissov ist unausweichlich."

Während Radev im Parlament sprach und Protestierende und Polizisten sich im Dreieck der Macht Scharmützel lieferten, führte Regierungschef Borissov in seinem Amtssitz im Ministerrat eine virtuelle Kabinettssitzung durch und übertrug deren Höhepunkte via Facebook. So wurde bekannt, dass die bulgarischen Pensionäre im Rahmen der Maßnahmen gegen die Pandemie des neuartigen Coronavirus auch in diesem Monat 50 BGN (ca. 25 €) zusätzlich Rente erhalten sollen.

Nach einem von extremer Spannung geprägten Mittwoch räumten die Polizeikräfte in der Nacht zum Donnertag die bestehenden Zeltlager der Aufständischen an vier wichtigen Kreuzungen der Stadt. Der Verkehr fließt damit wieder ungehindert, Bulgarien bleibt aber von einer Rückkehr zur politischen Normalität weit entfernt.

"Wir können uns nach den Ereignissen der vergangenen Nacht in keiner Weise erlauben, einen Rücktritt zu erwägen", erklärte der GERB-Abgeordnete Toma Bikov am Morgen im Frühstücksfernsehen von bTV. Denn dies würde bedeuten, "dass wir uns vom Druck eines kriminellen Kontingents zum Rücktritt zwingen ließen. Dies aber birgt die Gefahr, dass künftig jede andere Regierung auf diese Weise aus ihrem Amt vertrieben werden kann."

Präsident Radev habe einen Krieg der Institutionen angezettelt, gibt Toma Bikov dem Staatsoberhaupt die Verantwortung für die politische Krise im Land. Der GERB-Vorschlag zur Einberufung der Großen Nationalversammlung zielt ihm zufolge darauf ab, den politischen Dialog wiederherzustellen, sei doch "insbesondere die Große Nationalversammlung das Terrain, auf dem ein solcher Dialog stattfinden kann".

Die als "Otrovnoto Trio" (Das giftige Trio) bekannten Hauptorganisatoren der Proteste haben angekündigt, dieses bis zum Sturz Boiko Borissovs und zum Rücktritt von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev fortführen zu wollen. "Gestern Nacht ist Borissov gescheitert. Er scheitert auch heute, so wie er in den vergangenen 57 Tagen gescheitert ist. Wir möchten Euch sagen, dass wir keine Angst haben und weitermachen, bis wir die geforderten Rücktritte erhalten und jedes einzelne der Ziele des Protests erreichen", beschwor der Rechtsanwalt Nikolai Hadschigenov in einer Videobotschaft die Teilnehmer und Sympathisanten der Protestbewegung. Sein Kollege, der Bildhauer Professor Velizlav Minekov, machte "Borissov und Geschev für das Blutvergießen verantwortlich". Ihr Bündnisgenosse, der PR-Experte Arman Babikian, sprach, das "Dreieck der Macht" sei zum "Dreieck der Schande für Bulgarien" geworden.

"Warum schweigen Berlin und Brüssel?", fragte der Leiter der bulgarischen Redaktion der Deutschen Welle Alexander Andreev in seinem Kommentar zu den Ereignissen in Bulgarien. Die EU-Kommission und die deutsche Regierung "empören sich offen über den belarussischen Diktator Lukaschenko, doch schweigen über die Ungesetzlichkeit im EU-Mitglied Bulgarien". Warum? "Weil die bulgarische Regierung über eine Stimme im Europäischen Rat verfügt und die bulgarischen EU-Abgeordneten zur Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament beitragen. Deshalb werden im Umgang mit Sofia Samt- und nicht Stahlhandschuhe angelegt", kritisierte DW-Redakteur Alexander Andreev.