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Tatort Eisenach-Stregda

Der NSU-Ausschuss von Thüringen untersucht den rätselhaften Tod von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 - Immer neue Fragwürdigkeiten

Am 4. November 2011 begann das große Rätsel namens "NSU". An jenem Tag wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnmobil in Eisenach-Stregda aufgefunden, ihre Wohnung in Zwickau ging in Flammen auf, ihre Lebensgefährtin Beate Zschäpe begab sich auf die Flucht, ehe sie sich am 8. November stellte.

"Ein Doppelselbstmord" - so die Bundesanwaltschaft (BAW) als oberste Ermittlungsinstanz im Verfahren NSU. Mundlos habe Böhnhardt getötet, dann das Fahrzeug in Brand gesetzt und anschließend sich selbst erschossen. Zwei eiskalte Killer, die zehn Menschen umgebracht haben sollen und sich nun ohne Gegenwehr so mir nichts dir nichts selbst töten - sehr überzeugend war diese Version noch nie.

Doch seit der Gerichtsmediziner Dr. Reinhard Heiderstädt vor dem OLG München berichtete, dass nicht nur Böhnhardt, sondern auch Mundlos weder Ruß noch Rauchgase in Lunge und Mund hatte, nehmen die Zweifel an der offiziellen Darstellung zu. Denn dieser Befund legt nahe, dass auch Mundlos schon tot war, ehe das Feuer in dem Wohnmobil entzündet wurde. Dann wäre eine dritte Person im Spiel und der NSU nicht die isolierte Kleinstzelle gewesen, wie es die BAW behauptet.

Der ungeklärte Tod von Eisenach-Stregda ist ein Schlüssel zum Hintergrund des NSU-Komplexes, so wie der Ceska-Mord in Kassel an dem jungen Deutsch-Türken Halit Yozgat, bei dem ein Verfassungsschutzbeamter anwesend war, oder auch der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, der mit den neun Ceska-Morden an Migranten in Zusammenhang steht.

Der zweite NSU-Ausschuss von Thüringen untersucht seit Juni den Tatort Eisenach-Stregda und fördert immer neue Merkwürdigkeiten zutage - so auch bei seiner jüngsten Sitzung am 27. August. Nicht zuletzt deshalb, weil das Gremium Zeugen anhört, die bisher nie von der Polizei oder der Bundesanwaltschaft vernommen wurden, auch im Zschäpe-Prozess in München nicht, obwohl sie wichtige Wahrnehmungen gemacht haben: Nach Feuerwehrleuten nun eine Fotoreporterin, Mitarbeiter einer Abschleppfirma, eine Gerichtsmedizinerin - und der Leiter des Amtes für Brand- und Katastrophenschutz der Stadt Eisenach, Burkhart S. Der Untersuchungsausschuss wird regelrecht zum Ermittlungsausschuss.

Von der Polizei beschlagnahmte Feuerwehrfotos

Der Amtsleiter wurde an jenem 4. November 2011 nicht über den Brand des Wohnmobils und den Fund von zwei Toten informiert. Er erfuhr erst zwei Stunden danach zufällig aus dem Radio von der Tat. Daraufhin beorderte er den Aufsichtsverantwortlichen der Feuerwehr nach Stregda. Er selber fuhr nicht hin. Fragen wirft vor allem sein Verhalten in der Folge auf.

Der Amtsleiter verpflichtete sowohl die Berufsfeuerwehr als auch die freiwillige Feuerwehr zu absolutem Stillschweigen über den Einsatz in Stregda. Die Feuerwehrmänner sollten nur gegenüber den Ermittlungsbehörden Aussagen machen, so Burkhart S. jetzt vor dem Ausschuss. Allerdings wurden sie dann nie polizeilich vernommen.

Im Juni 2015 schilderten sie vor dem Ausschuss in Erfurt zum ersten Mal ihre Beobachtungen und Erfahrungen. Danach lag der tote Böhnhardt in dem Wohnmobil anders als auf den Fotos in den Ermittlungsakten zu sehen. Sie konnten sich an keine Handfeuerwaffen erinnern. Acht Schusswaffen wollen die Ermittler später gefunden haben, darunter die Dienstpistolen der in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres Kollegen Martin Arnold.

Eigene Fotos, die ein Feuerwehrmann am 4. November vom Inneren des Autos machte, wurden von der Polizei konfisziert. Die Bilder sind heute verschwunden. Die Speicherkarte der Kamera wurde gelöscht. Amtsleiter S. hat das nie kritisiert, obwohl die Bilder Eigentum der Feuerwehr und damit der Stadt Eisenach waren. Das Vorgehen der Polizei nennt er einen "völlig normalen Vorgang". Er kennt aber, räumt er auf Nachfrage ein, in seiner über 25jährigen Amtszeit keinen anderen Fall einer Beschlagnahmung von Fotos durch die Polizei.

Die Polizei untersagte der Feuerwehr damals auch, die übliche und vorgeschriebene Brandnachkontrolle vorzunehmen und im Wohnmobil nachzuschauen, ob tatsächlich alle Glutnester gelöscht sind. Die Männer wurden am Betreten des Campers gehindert. "War das nicht eine Kompetenzüberschreitung der Polizei?", will die Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling wissen, und Amtsleiter S. bejaht: "Das kann man so sagen. Die Feststellung, dass ein Feuer gelöscht ist, kann nur die Feuerwehr treffen."

Drei untätige Gerichtsmediziner am Tatort

Eine weitere Merkwürdigkeit an jenem 4. November war dann die Anwesenheit von drei Gerichtsmedizinern aus Jena am Tatort - nur etwa eine Stunde nach dem Brand des Wohnmobils. Professorin Else-Gitta Mall ist die Direktorin des Institutes für Rechtsmedizin an der Universität Jena. Dort wurden am Folgetag, am 5. November 2011, die toten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos obduziert - von 10:30 bis 15:30 Uhr durch den Gerichtsmediziner Reinhard Heiderstädt. Mall, Heiderstädt und eine weitere Mitarbeiterin der Gerichtsmedizin befanden sich am 4. November in Eisenach.

"Zufall", sagt die Zeugin Mall gegenüber dem Ausschuss. Ihr dreiköpfiges Sektionsteam habe an jenem Tag in der St. Georgs Klinik in Eisenach eine sogenannte "Außensektion" durchgeführt. Gegen Mittag seien sie von einem Kriminalbeamten über den Fahrzeugbrand mit den zwei Toten informiert und aufgefordert worden, dort hin zu kommen. Kurz nach 13 Uhr waren sie am Tatort.

Sie habe das Wohnmobil nicht betreten, sondern lediglich einen kurzen Blick hineingeworfen, so Mall. Was sie genau gesehen habe, könne sie nicht mehr sagen. Sie haben nichts weiter unternommen, auch keinen Fundortbericht geschrieben, weil klar gewesen sei, "dass wir als Rechtsmedizin da nichts hätten weiter tun können", erklärt sie. Sie seien nicht sehr lange vor Ort geblieben und nach etwa einer halben Stunde wieder abgefahren.

Die Schilderung stößt bei Ausschussmitgliedern wie Berichterstattern auf Unverständnis. Gerichtsmediziner stehen vor zwei Leichen an einem Tatort, verlassen ihn unverrichteter Dinge und am nächsten Tag werden ihnen genau diese Leichen zur Obduktion in ihr Institut gebracht - der Sinn dieser Abläufe mag sich nicht so recht erschließen.

Auf Nachfragen des Ausschusses erklärt die Gerichtsmedizinerin, dass sie an Tatorten durchaus auch Spurensicherungen vornehmen: Messungen der Körpertemperatur beispielsweise, um den Todeszeitpunkt bestimmen zu können. Oder Untersuchung von Blutspurenmuster, um den Tathergang zu rekonstruieren. Doch nichts von dem taten die erfahrenen Pathologen in Stregda. Nicht mal der Tod der beiden Männer war zu diesem Zeitpunkt offiziell festgestellt, weil kein Notarzt vor Ort war. Eine Todesfeststellung hätten die Gerichtsmediziner vornehmen können. Doch auch das unterblieb. Ihre schnelle Abreise erscheint fast wie eine Flucht.

Dass die Gerichtsmedizinerin vor Ort war, weiß man durch die Fotos einer Reporterin, die mit der Feuerwehr zusammen gegen 12:20 Uhr am Tatort eintraf und dann fotografierte. Sie dokumentierte die Ankunft von Else-Gitta Mall und ihren Mitarbeitern um 13:12 Uhr. Die Reporterin kennt Mall aus ihrer Arbeit, war ihr mehrfach bei Einsätzen begegnet. Die etwa 100 Fotos, die Carolin Lemuth schoss, zeigen noch mehr: zum Beispiel einen Polizeihubschrauber, der über dem Tatort kreiste und aus dem heraus ein Beamter filmte oder fotografierte.

"Ich weiß nicht, wo diese Aufnahmen sind", sagt Ausschussmitglied Katharina König (Linke), "sie sind nicht in den Akten." Der Ausschuss interessiert sich jetzt für sie. Oder: auf einem Foto ist hinter einer Fensterscheibe im ersten Stock eines Hauses in der Tatort-Straße und genau gegenüber dem Wohnmobil eine Person zu erkennen. Ein Anwohner, der von einer exponierten Stelle aus die Ereignisse beobachtete. Auch diesen Zeugen will der Ausschuss nun ausfindig machen und befragen.

Irritierende Aussagen der Abschlepper

Ebenfalls zum ersten Mal befragt wurden jetzt auch der Inhaber und zwei Mitarbeiter jener Abschleppfirma, die den Wohnwagen mitsamt den zwei Leichen am Nachmittag abtransportierte. Auch sie machten irritierende Aussagen. Die Fahrer hielten sich längere Zeit in der Siedlung in Stregda auf, weil sie warten mussten. Wie die Feuerwehrleute wurde auch sie von der Polizei vom unmittelbaren Geschehensort weggeschickt. Aus einer Entfernung von "50 bis 100 Metern" habe er gesehen, berichtet einer der Fahrer, wie mehrere Beamte "ständig etwas aus dem Wohnmobil räumten" und "Dinge auf den Boden gelegt" haben, "kleinere Sachen, die man mit einer Hand trägt." Was genau, konnte er nicht erkennen.

Der Firmenbesitzer selber, Matthias T., verbrachte das Wohnmobil samt Inhalt in eine Halle auf seinem Firmengelände in Eisenach. Dass er zwei Leichen transportierte, erscheine ihm heute schon eigenartig, er habe noch nie Leichen transportiert, damals aber sei das eben sein Auftrag durch die Polizei gewesen. Er will am Tatort nicht nur Polizisten aus Eisenach und Gotha bemerkt haben, sondern auch vom Landeskriminalamt (LKA). Dass so früh LKA-Beamte vor Ort waren, ist neu.

Der Abschleppunternehmer ist von der Polizei offiziell bestellt und kennt viele Beamte von Einsätzen her. Dass in dem Wohnmobil aber auch Waffen gelegen haben sollen, habe er erst später erfahren. Und wörtlich: "Wenn ich gewusst hätte, dass da Handgranaten drin waren, hätte ich das Fahrzeug nicht mitgenommen", erklärte er vor dem Ausschuss. Das Wohnmobil wurde dann in seiner Halle mehrere Tage lang von der Kripo rund um die Uhr untersucht. Was genau getan wurde und was mit den Leichen geschah, weiß man bislang nicht. Die Toten wurden in der Nacht der Stadt Eisenach übergeben und am nächsten Vormittag dann in Jena seziert.

In jenen Tagen betraten der Chef und seine Mitarbeiter die Halle nicht. Nach Ende der Untersuchung stand der Camper noch etwa vier Wochen in dem Gebäude - unbewacht, und auch die Firmenmitarbeiter gingen wieder ein und aus. Am Ende seiner Befragung berichtet Firmenchef T. ungefragt dann noch von einer Begebenheit, die inzwischen auch die sächsische Landesregierung beschäftigt. In den Tagen, als das Wohnmobil noch kriminalpolizeilich untersucht wurde, sei der sächsische Innenminister nach Eisenach gekommen, unerkannt, aber mit Dienstwagen.

Er habe ihn treffen und zur Halle auf seinem Firmengelände eskortieren sollen, so Matthias T. Abgeordnete und Publikum werden stutzig. "War es wirklich der Innenminister oder vielleicht jemand aus dem Innenministerium?", fragt Steffen Dittes (Linke) nach. Ihm sei von der Polizei gesagt worden, so der Abschleppunternehmer, dass der Minister komme. Und: "Er kam mit Fahrer und saß hinten rechts." - "Kam noch mehr Politprominenz?", will die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD) wissen. Konkret kann der Zeuge niemanden benennen, sagt aber: "Da sind mehrere gekommen und gegangen. Da war schon Bewegung. Es wurde auch nicht immer angerufen."

Eine Sprecherin des sächsischen Innenministeriums dementierte noch während des Sitzungstages am 27. August, dass Innenminister Markus Ulbig zum Wohnmobil gefahren sei. Ob es sich um eine andere ranghohe Person aus dem Innenministerium gehandelt habe, schloss die Sprecherin aber nicht aus. Der Ausschuss jedenfalls will klären, so die Vorsitzende Marx am Ende gegenüber Journalisten, wer der Mann aus Sachsen war und was er im thüringischen Eisenach wollte. Hier schimmert die politische Ebene durch, die der NSU-Komplex hat.

Die nächste Sitzung des Thüringer U-Ausschusses findet am 17. September statt. Dann sollen die Rettungssanitäter sowie Kriminaltechniker gehört werden.


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