Tatsachen als Problem der Verständigung
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Soweit Tatsachen korrekt erkannt und benannt sind, gibt es noch erhebliche Problemchancen beim Verstehen. Falschverstandenes führt nicht nur zwangsläufig zu unpassenden Bewertungen, sondern oft auch zur Falschbehauptung von Tatsachen, die aus Vorhandenem konstruiert werden. Statistiken bieten dafür ein weites Feld. Ein Beispiel der sich selbst "Fact Destination" nennenden Firma Statista.
Unter der Überschrift "Bild ist deutscher Rügen-Meister" bietet sie eine Grafik an, die in Balken anzeigt, wie viele öffentliche Rüffel des Presserats einzelne Zeitungen (und eine Zeitschrift) seit 1986 bekommen haben. Für die Bild-Zeitung sind 219 Stück angezeigt, die zweitplatzierte BZ bekam nur 21. Obwohl beide Boulevardzeitungen im Axel-Springer-Verlag erscheinen, unterscheiden sie sich also offensichtlich qualitativ erheblich. Doch was wird hier miteinander verglichen?
Der Presserat entscheidet über Beschwerden von Lesern. Er könnte zwar nach seiner Satzung auch selbst aktiv werden, tut dies aber nicht, weil er sich "nicht als Monitoring-Stelle oder umfassende Medien-Aufsicht" versteht.
Daher: Wo kein Kläger, da kein Richter. Weil nur ein sehr kleiner Teil der Leserschaft jemals eine Presseratsbeschwerde einreichen würde, wenn es Anlass dazu gäbe, hängt das Beschwerdeaufkommen stark von der Verbreitung des Mediums ab: Mehr Leser bedeuten mehr potentielle Beschwerdeführer.
Bekanntlich ist die Bild-Zeitung immer noch Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung. Ihre Reichweite ist ungefähr 30-Mal so groß wie die der BZ, die Auflage ist 14-mal höher. Dies könnte das zehnmal höhere Rügenaufkommen mindestens zum Teil erklären.
Allerdings müssen Beschwerdeführer natürlich gar keine echten Kunden des jeweils kritisierten Mediums sein. Auf Social Media verbreitete Überschriften können das Interesse gerade von Kritikern wecken, nicht selten erfolgt eine Weiterverbreitung mit entsprechender Kommentierung. Die Selbstselektion der Beschwerdeführer verhindert eine Gleichverteilung: Sie entscheiden selbst, gegen welche Berichterstattung sie ggf. Beschwerde einreichen.
Dies könnte z.B. dazu führen, dass Abonnenten einer überregionalen Tageszeitung sich zwar niemals über diese, wohl aber über die Bild-Zeitung beschweren, die sie nur im Augenwinkel wahrgenommen haben.
In vielen weiteren Punkten unterscheiden sich Zeitungen, etwa Bild und taz (Platz 11 des Rügen-Rankings): Mit dem Umfang der Berichterstattung wächst das Fehlerpotential. Bestimmte Problembereiche, wie die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, kommen im Politikjournalismus so gut wie gar nicht, im Boulevardjournalismus hingegen besonders gehäuft vor.
Als zu Pfingsten 2018 Medien in Deutschland flächendeckend eine völlige aufgebauschte und verzerrte Geschichte von einer neuen Stufe der Gewalt gegen Polizisten gebracht hatten, gab es beim Presserat nur eine einzige Beschwerde.
Wie sich später zeigen sollte, hätte man vermutlich gegen die meisten Tageszeitungen erfolgreich Beschwerde erheben können, was die Statistik deutlich verändert hätte. Doch es hatte offenbar niemand die Muse dazu (zum Hintergrund siehe: "Ein Jahr nach Hitzacker").
Kurz: Will man die journalistische Leistung von Zeitungen vergleichen, ist die absolute Zahl öffentlicher Presseratsrügen ein denkbar schlechter Indikator. Auf eine Anfrage dazu hat Statista nicht reagiert.
Man kann alles miteinander vergleichen, insbesondere Äpfel und Birnen – aber man sollte beides nicht gleichsetzen, sondern zur Kenntnis nehmen, dass es sich um zwei verschiedene Pflanzengattungen einer Familie handelt.
Zu erwarten, dass eine Birne nach Apfel schmeckt und ihr dann eine schlechte Geschmacksnote zu erteilen, ist reichlich sinnfrei. Doch solche falschen Erwartungen sind bei (statistischen) Vergleichen allgegenwärtig.
Das Erkrankungsrisiko
So wurde eine Zeit lang mit viel Mühe das Covid-19-Erkrankungsrisiko von geimpften und ungeimpften Personen berechnet und von "beiden Seiten" zur Argumentation angeführt, je nachdem, welche Zahlen aus welchem Krankenhaus oder aus welchem RKI-Bericht man gerade hatte.
Dabei wurde stets ein peinlicher Anfängerfehler gemacht: Es wurde nämlich unterstellt, dass sich die Grundgesamtheiten der beiden Stichproben mit Ausnahme des Impfstatus gleichen und sich deshalb Unterschiede in der Morbidität unmittelbar auf diesen zurückführen lassen. Doch die beiden Gruppen wurden ja nicht aus der Gesamtbevölkerung ausgelost, sie haben sich – teils freiwillig, teils unfreiwillig – selbst diskriminiert.
Möglicherweise sind sich derjenige, der sich für eine möglichst schnelle Impfung auch illegaler Methoden bedient, und jemand, der lieber ins Ausland abwandert, als sich impfen zu lassen, ähnlicher als sie glauben, weil sie beide sehr um ihre Gesundheit besorgt sind; allerdings wählen sie offenbar deutlich unterschiedliche Wege zur Gesunderhaltung.
Noch augenfälliger dürfte der Unterschied sein zwischen einem fünffach Geimpften und jemandem, der klar bekennt, dass ihm seine Gesundheit völlig egal sei. Wiederum kurz: Es ist gerade nicht zu erwarten, dass sich die Bevölkerung zufällig in Geimpfte und Ungeimpfte aufgeteilt hat, sondern es dürfte Gründe für die jeweilige Entscheidung geben, die wenigstens teilweise in der gesundheitlichen Konstitution liegen.
Ähnliches haben wir bei Ländervergleichen, auch wenn dabei häufiger auf Unterschiede der jeweiligen Grundgesamtheiten hingewiesen wurde: die Bevölkerungs- oder Siedlungsdichte, das Alter einer Bevölkerung, ihr sozio-ökonomischer Status, die (medizinische) Infrastruktur, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten etc.
Zum Problem, das Richtige aus ein paar simplen Zahlenangaben zu folgern und damit die dahinter liegende Tatsache zu erkennen, sei ein Beispiel aus dem Buch "Der Hund, der Eier legt" von Hans-Hermann Dubben und Hans-Peter Beck-Bornholdt nacherzählt.
Es geht um die Früherkennung einer Infektionskrankheit, die man sich im Urlaub zugezogen haben könnte. Der benutzte Test erkennt 99 von 100 Infizierten korrekt und 98 von 100 Nichtinfizierten. Die Krankheit trifft in dem entsprechenden Gebiet nur etwa jeden tausendsten Touristen und bleibt zunächst symptomlos. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist jemand mit positivem Test tatsächlich infiziert?
Die richtige Antwort gaben auf Tagungen und Seminaren laut den Autoren auch Ärzte, Apotheker und Medizinstudenten nur sehr selten: knapp fünf Prozent. Ihre Rechnung:
Angenommen werden 100.100 Reiserückkehrer, die sich dem Vorsorgetest unterziehen. Da sich im Schnitt nur einer von tausend angesteckt hat, haben wir ungefähr 100.000 Gesunde und 100 Infizierte. Von den Gesunden stuft der Test fälschlich zwei Prozent als infiziert ein, also 2.000 Personen. 99 der 100 Infizierten werden korrekt erkannt.
Also bekommen insgesamt 2099 Menschen ein positives Testergebnis, obwohl wir tatsächlich nur 100 Infizierte haben. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, bei positivem Test tatsächlich infiziert zu sein 99/2099 = 0,047, also knapp fünf Prozent.
Interessant wird es nun, wenn sich an den positiven Test Maßnahmen anschließen, insbesondere wenn diese – wie diverse medizinische Untersuchungen – ihrerseits mit einem Gesundheitsrisiko verbunden sind. Am Beispiel von Krebsvorsorgeuntersuchungen rechnen dies die Autoren vor.
Zahlreiche Verständigungsprobleme entstehen bei der Bewertung von Fakten, nicht nur, aber ganz besonders auch bei Statistiken.
Unter anderem darum soll es in Teil 3 gehen.