Tech-Sektor-Blase: Das alte Dilemma am nicht mehr "Neuen Markt"

Seite 2: Die Zukunft von Twitter

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Seit vergangenem Herbst werden angehängte Fotos und Videos und zitierte Tweets nicht mehr auf die Gesamtlänge des eigenen Beitrags angerechnet. Sie verkürzen also nicht mehr die ohnehin sehr knappe Zeichenzahl der Mitteilungen weiter, die ja nicht einmal so lange wie eine SMS sein durften. Damit kam man im Silicon Valley der US-Konzern einer Kritik von Nutzern wenigstens ein Stückchen entgegen.

Klar ist, dass Twitter massiv unter Handlungsdruck steht. Denn Konkurrenten können mit ganz anderen Zuwächsen aufwarten. Instagram hat im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 100 Millionen neuen Nutzern verzeichnet. Der Dienst vom großen Konkurrenten Facebook hat nun sogar schon 700 Millionen aktive Nutzer und will bis zum Jahreswechsel die Milliardenschwelle überschreiten.

Aber - und hier liegt ein vielen Tech-Firmen der Hase im Pfeffer -, auch ein massiver Zuwachs der Nutzer bedeutet keinesfalls, dass auch Gewinn gemacht wird. Twitter ist dafür ein prominentes Beispiel, da der 140-Zeichen-Dienst in den elf Jahren seines Bestehens nur Verluste schreibt, die sich schon auf mehr als 2,3 Milliarden Dollar summieren. Auch deshalb waren die Quartalszahlen erneut erschreckend.

Trotz gestiegener Nutzerzahlen konnte nicht einmal der Umsatz gesteigert werden. Er sank erstmals seit dem Börsengang 2013 sogar wieder und sackte um fast 8% auf nun 548 Millionen US-Dollar in die Knie. Da der Kampf um Werbekuchen immer heftiger wird, brachen die Werbeeinnahmen, die bei Twitter den Großteil der Einnahmen ausmachen, weltweit um 11% auf 474 Millionen Dollar ein.

In der amerikanischen Heimat des Unternehmens betrug das Minus sogar 17%. Etwas positiver (wenn man das so nennen darf) ist, dass sich der Nettoverlust auf knapp 61,6 Millionen Dollar von 79,7 Millionen im Vergleich zum Vorjahr leicht verringert hat. Der spärliche Rückgang der roten Zahlen hat aber vor allem damit zu tun, dass massiv Personal entlassen wurde.

Entlassungen

Im vergangenen Oktober war angekündigt worden, dass weltweit erneut 350 Mitarbeiter entlassen würden. Das waren fast 9% der noch verbliebenen 3900 Stellen. Auch das Berliner Büro wurde still und heimlich geschlossen, mindestens 20 Mitarbeiter wurden gekündigt und die Aktivitäten in Deutschland allein in Hamburg konzentriert.

Nun will der Twitter-Mitbegründer und Twitter-Erfinder Jack Dorsey, der seit 2015 als Interims-Chef den Konzern leitet, das Unternehmen endlich rentabel machen - wieder einmal. Dass das aber mit Stellenabbau nicht gelingt, wurde schon zuvor klar. Nachdem er den Chefsessel bestiegen hatte, waren 2015 schon einmal fast 8% aller Stellen gestrichen worden. Die neuen Kündigungen, zu denen sich auch die Schließung der erst 2012 zugekauften Kurzvideo-App "Vine" gesellt, gehören nun zu einem größeren Umbauplan.

Flucht nach vorne: Videodienste

Twitter versucht nun die Flucht nach vorne anzutreten und setzt sogar verstärkt auf Video-Dienste. Man will den Live-Video-Bereich massiv ausbauen. Finanzchef Anthony Noto kündigte an, dass Twitter "definitiv" in Zukunft 24 Stunden täglich an 365 Tagen im Jahr Videos anbieten werde und sprach von "einer einzigartigen und machtvollen Kombination".

Das Ziel sei, eine stete Anlaufstelle für die zu werden, die wissen wollen, was gerade passiere, erklärte Noto gegenüber Buzzfeed-News. Es sollen die "wichtigsten Nachrichten" für die "intelligente Nutzergemeinde weltweit" zur Verfügung gestellt werden, teilte der Medienkonzern Bloomberg mit, der neben Buzzfeed auch Vox Media und andere als Partner gewinnen konnte.

Man hofft, so Twitter neue Nutzer zuzutreiben und wieder an einen größeren Teil des Werbekuchens zu kommen. Die Hoffnung richtet sich auf lukrative Werbespots, die beim Live-Streaming nicht übersprungen werden können. Da schon zuvor eine "Lite-Version" für Gegenden entwickelt wurde, in denen es nur langsame und unzuverlässige Datenverbindungen gibt, zeigt dies Beobachtern - neben dem Ausbau des Video-Bereichs - an, dass Dorsey versucht, Strategien des ökonomisch erfolgreichen Giganten Facebook zu kopieren.

Ob das klappt, darf bezweifelt werden. Gut geschlagen hat man sich im Streaming bisher nicht und gerade hat Twitter die bedeutsamen Streaming-Rechte für die National National Football League (NLF) verloren.

Im renommierten New Yorker äußert Om Malik große Skepsis an den Strategien. "Was ist falsch an Twitters Live-Video Strategie?", fragt er. Der Technik- und Internetexperte befürchtet, dass damit eher Nutzer vertrieben werden, denn es handele sich bei Twitter um einen textbasierten Dienst. Für den Twitter-Nutzer der ersten Stunde ist unverständlich, warum gerade Vine eingestellt wurde. Auch deshalb wirft er Twitter und Dorsey "Unfähigkeit" vor.

"Vine, like Instagram, had become a cultural phenomenon" - dass man ein kulturelles Phänomen geschaffen habe, sei aber nicht genutzt worden, um Vine zu einer Plattform auch zum Tausch von Fotos und anderer künstlerischer Ausdrucksformen umzubauen. Malik erinnert auch an die verpassten Chancen des Messanger-Dienstes. Der sei weitgehend ignoriert worden, während andere Plattformen wie WhatsApp (ebenfalls von Facebook übernommen) zum Massenphänomen wurden.

Künftig ein Premium-Twitter ...

Zu spät schaffte Twitter, nämlich erst 2015, die 140-Zeichen-Grenze ab. Die machte den Messenger für viele praktisch nutzlos. Dass der verlorene Boden gegenüber WhatsApp (für aberwitzige 19,5 Milliarden Dollar von Facebook übernommen) oder Telegram oder das sichere Threema wieder wettgemacht werden kann, ist praktisch unmöglich.

Auf der Suche nach Einnahmequellen wird beim 140-Zeichen-Dienst längst auch über eine "Premium"-Version nachgedacht, für die Nutzer zur Kasse gebeten werden sollen. Das hatte The Verge schon Ende März berichtet. Gegenüber den neuen Partner Buzzfeed bestätigte Twitter letztlich die Berichte. Man denke über eine Version mit Zusatzfunktionen nach. Zuvor hatten Nutzer berichtet, dass die Firma eine Befragung durchführe.

Bekannt wurde, dass sogenannte Heavy User für die Zusatzdienste bezahlen sollen. Man versuche herauszufinden, an welchen Tools die Profis interessiert sind. Die Abo-Kunden sollen unter anderem "Benachrichtigungen bei aktuellen News sowie neue Werkzeuge zum Erstellen ihrer Tweets und zur Analyse ihres Erfolgs bekommen", hatte Twitter mitgeteilt. Auf viel Gegenliebe stößt der Vorstoß bei den Nutzern von Buzzfeed jedenfalls nicht. 90% seien keinesfalls bereit, für Twitter-Dienste zu bezahlen, ergab eine Buzzfeed-Umfrage.

... oder eine von Nutzern kontrollierte Genossenschaft

Allerdings fürchten Twitter-Nutzer immer stärker um das Überleben einer Firma, bei der sich die Verluste häufen und weiter kein überzeugendes Geschäftsmodell in Sicht ist. Zunächst hatten sie unter dem Hashtag #wearetwitter eine Diskussion auf der Plattform darüber gestartet, das soziale Netzwerk in eine von den Nutzern kontrollierte Genossenschaft zu verwandeln. Es wurde eine entsprechende Petition aufgesetzt, um "die Zukunft des Unternehmens gemeinsam mit denjenigen zu gestalten, die am meisten an seinen Services hängen".

Sie wollen ein besseres Geschäftsmodell, "als den Verkauf unserer Aufmerksamkeit an Werbekunden". Für die Kritiker besteht immer stärker das Risiko, dass Twitter verkauft wird, was mehrfach im Gespräch war, doch sich immer wieder zerschlagen hat. Es bestehe die Gefahr, "dass ein neuer Besitzer unsere geschätzte Plattform durch reine politische oder wirtschaftliche Absichten ruiniert".

Gefahren bestehen auch für die große Zahl der persönlichen Daten, die in all den Jahren von Twitter gesammelt wurden. Wie Twitter zugibt, sieht das Unternehmen darin einen Aktivposten und behält sich das Recht vor, die sensiblen Daten zu verkaufen, wenn es seinen Eigentümer wechselt. Genau das aber hat Dorsey und die Führung vor, die die Genossenschaftspläne ablehnen.

Allerdings konnte die Twitter-Führung nicht verhindern, dass auf der Aktionärsversammlung am 22. Mai doch über das Thema beraten wird. Denn längst haben sich auch Twitter-Aktionäre dem Aufruf angeschlossen. Deshalb muss auf der Versammlung entschieden werden, ob mit Umwandlungen erfahrene Berater einen Bericht erstellen werden, wie man sich Twitter als Genossenschaft vorstellen könne. Als Vorbilder werden zum Beispiel die genossenschaftlich organisierte Nachrichtenagentur AP und die Bildagentur Stocksys United angeführt.

Eigentlich müsste längst klar sein, dass mit Firmen wie Twitter und Snapchat kaum Geld zu verdienen ist. Spätestens wenn die neue Tech-Blase erneut platzt, werden diverse Firmen massiv in Schwierigkeiten kommen und vermutlich genauso verschwinden, wie einstige Sternchen der Dotcom-Blase, in denen ebenfalls sehr viel Geld verbrannt wurde.

Erinnert sich noch irgendjemand an Netscape? Für die so "zukunftsträchtige" Firma hatte der einstige Online-Riese AOL schon 1998 sage und schreibe 4,2 Milliarden Dollar hingeblättert. Von einer "neuen Superpower der High-Tech-Industrie" spricht heute im Zusammenhang mit AOL praktisch auch keiner mehr, obwohl die Firma nicht komplett mit der Blase geplatzt ist - wie so viele andere.