Technologie stiehlt uns heimlich Zeit – was kann man dagegen tun?
Für viele beginnt der Tag mit dem Smartphone schon im Bett. Bild: Jane / Unsplash Licence
Homeoffice, Lebensoptimierungs-Apps, Social Media halten uns am Laufen – und rauben Zeit. Arbeit und Freizeit verschwimmen. Gibt es einen Ausweg? Gastbeitrag.
Die Technik soll unser Leben einfacher machen. Smartphones sind ein handtellergroßes Fenster zur Welt, mit dem wir fast alles auf Knopfdruck erledigen können. Intelligente Häuser kümmern sich um sich selbst, und virtuelle Meetings bedeuten für viele, dass die Zeit des Pendelns der Vergangenheit angehört.
Wir sollten also mehr freie Zeit haben. Zeit, die wir jetzt zum Schlafen, Entspannen oder einfach zum Nichtstun nutzen – oder?
Wenn Sie sich bei dem Gedanken, dass Sie mehr Zeit als je zuvor haben, an Ihrem Kaffee verschlucken, sind Sie nicht allein. Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die digitale Technologie uns zwar hilft, Zeit zu sparen, dass wir diese Zeit aber letztendlich für immer mehr Dinge nutzen.
Wir haben kürzlich 300 Menschen in ganz Europa befragt, um herauszufinden, wie sie digitale Geräte im täglichen Leben nutzen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Menschen leere Phasen in ihrem Leben vermeiden wollen und diese mit Aufgaben füllen, von denen einige ohne Technologie nicht möglich wären.
Ob beim Warten auf den Bus, beim Aufwachen am Morgen oder nachts im Bett, unsere Teilnehmer berichteten, dass die Zeit, die vorher "leer" war, nun gefüllt wurde mit Gehirntrainings-Apps, dem Erstellen von Listen mit Dingen, die sie tun oder ausprobieren wollen, basierend auf Social-Media-Feeds und anderen Mitteln der Organisation des täglichen Lebens.
Dichtere Lebensform
Es scheint, dass ruhige Momente, in denen man Menschen beobachtet, sich Dinge vorstellt und träumt, nun mit technikbasierten Aufgaben gefüllt werden.
Die Zunahme digitaler Aufgaben ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Technologie unsere Vorstellung davon, wofür Freizeit da ist, zu verändern scheint. Für viele Menschen reicht es nicht mehr aus, einfach nur zu Abend zu essen, fernzusehen oder vielleicht einen Sportkurs zu besuchen.
Stattdessen werden diese Tätigkeiten in dem Bestreben, keine Zeit zu verschwenden, ausgeführt, während man gleichzeitig im Internet nach den Zutaten für ein perfekteres Leben sucht und versucht, ein Erfolgserlebnis zu entwickeln.
Auf den ersten Blick scheinen einige dieser Aufgaben Beispiele dafür zu sein, wie die Technik uns Zeit spart. Theoretisch sollte das Online-Banking bedeuten, dass ich mehr Zeit habe, weil ich nicht mehr in meiner Mittagspause zur Bank gehen muss. Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Die Technologie trägt zu einer dichteren Lebensform bei.
Soziale Medien können Menschen manchmal inspirieren, motivieren oder entspannen. Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Menschen oft Schuldgefühle, Scham und Reue empfinden, wenn sie ihre Freizeit mit Online-Aktivitäten füllen. Das liegt daran, dass sie Online-Aktivitäten als weniger authentisch und lohnend empfinden als Aktivitäten in der realen Welt.
Es scheint, dass die Menschen einen Spaziergang oder das Zusammensein mit Freunden immer noch als wertvoller empfinden als Online-Aktivitäten. Wenn wir das Handy etwas öfter weglegen würden, hätten wir vielleicht die Zeit, die Rezepte zu kochen, die wir uns online ansehen.
Warum lässt uns die Technologie arbeiten?
Man geht auch davon aus, dass die sich verändernden Arbeitsmuster die Arbeit intensivieren. Heimarbeit und hybride Arbeitsformen, die durch die Videokonferenztechnologie ermöglicht werden, haben die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischt.
Jetzt, wo das Büro im Gästezimmer untergebracht ist, denkt man nur allzu leicht: "Ich gehe nur kurz ins Arbeitszimmer und mache das fertig, nachdem ich die Kinder ins Bett gebracht habe."
Digitale Technologien beschleunigen das Lebenstempo. Schauen wir uns E-Mails und Online-Meetings an. Bevor es sie gab, mussten wir auf Antworten auf Sprachnachrichten und Briefe warten oder an Orte reisen, um miteinander zu sprechen. Stattdessen haben wir jetzt aufeinanderfolgende Online-Meetings, bei denen manchmal nicht einmal genug Zeit bleibt, um kurz auf die Toilette zu gehen.
Und E-Mails führen zu einem exponentiellen Wachstum der Kommunikation, was wiederum mehr Arbeit bedeutet, um alles zu lesen und zu beantworten. Schlecht konzipierte Technologie kann uns auch dazu zwingen, mehr Arbeit zu erledigen, weil sie ineffizient ist.
Wir alle kennen das: Wir geben Informationen in System A ein, nur um dann festzustellen, dass wir alles zweimal eingeben müssen, weil System A und B nicht miteinander kommunizieren.
Es kann also der Fall sein, dass wir mehr machen, aber am Ende weniger erreichen und uns schlechter fühlen. Wenn die Zeit immer knapper wird, nehmen Stress, Erschöpfung und Burn-out zu, was zu mehr Fehlzeiten bei der Arbeit führt.
Wie können wir entschleunigen und uns unsere Zeit zurückholen?
Um die durch die Technologie "gesparte" Zeit zurückzuerobern, müssen wir möglicherweise unsere Zeiteinteilung ändern. Um uns von der Gewohnheit zu befreien, die Zeit mit immer mehr Aufgaben zu füllen, müssen wir zunächst akzeptieren, dass es manchmal in Ordnung ist, wenig oder nichts zu tun.
In der Arbeitswelt müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Bereich schaffen, in dem das Nichtstun die Norm ist und nicht die Ausnahme. Das bedeutet, realistische Erwartungen an das zu haben, was an einem normalen Arbeitstag erreicht werden kann und sollte.
Die Entwicklung von Rechtsvorschriften, die das Recht auf Abschalten festschreiben, könnte jedoch der einzige Weg sein, um sicherzustellen, dass die Technologie nicht mehr unsere Zeit in Beschlag nimmt. In mehreren europäischen Ländern wie Frankreich und Italien gibt es bereits Gesetze, die ein Recht auf Abschalten einräumen.
Darin ist festgelegt, dass Arbeitnehmer nicht verpflichtet sind, außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar zu sein, und sie das Recht haben, sich zu weigern, digitale Arbeit mit nach Hause zu nehmen.
Es ist auch möglich, dass die Technologie selbst der Schlüssel zur Rückgewinnung unserer Zeit sein kann. Stellen Sie sich vor, Ihre intelligente Uhr würde Ihnen nicht sagen, dass Sie aufstehen und sich bewegen sollen (eine weitere Aufgabe), sondern dass Sie aufhören sollen zu arbeiten, weil Sie Ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit erfüllt haben.
Wenn die Technologie uns sagt, dass wir weniger tun sollen, gewinnen wir vielleicht endlich Zeit zurück.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit The Conversation. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Ruth Ogden ist Professorin für Psychologie der Zeit, Liverpool John Moores University.
Joanna Witowska ist Assistenzprofessorin für Psychologie, Maria-Gzegorzewska-Universität
Vanda Černohorská ist Postdoc-Forscherin, Tschechische Akademie der Wissenschaften.