Terror oder Amok? Wenn die Täterherkunft die Schlagzeile bestimmt

Grablichter, im Scheinwerferlicht Islamsymbol im Lichtkegel

Der Anschlag erschüttert die Stadt. Aus dem Terrorverdacht wird medial schnell ein Amoklauf. Es dominiert die Frage: War der Täter ein Islamist oder nicht? Ein Interview.

Im Interview mit Telepolis thematisiert die Medienexpertin Sabine Schiffer die selektive Wahrnehmung und Benennung von Terroranschlägen in der öffentlichen Debatte und den Medien. Sie kritisiert, dass die Kennzeichnung von Gewalttaten häufig von der religiösen oder ethnischen Herkunft der Täter abhängt. Schiffer stellt die These auf, dass islamistische Täter schnell als Terroristen gebrandmarkt werden, während bei nicht-muslimischen Tätern oft andere Motive im Vordergrund stehen. Zudem werden Muslime oft nicht als Opfer gedacht.

Dies führe zu einer verzerrten öffentlichen Wahrnehmung und ignoriere das Gefahrenpotenzial des Islamhasses. Anhand verschiedener Fälle, darunter der aktuelle Vorfall auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt, zeigt sie auf, wie diese "alten Reflexe" in der Berichterstattung verankert sind und fordert eine konsequentere und gleichmäßigere Anwendung journalistischer Standards.

▶ In Migazin haben Sie unlängst im Hinblick auf den Vorfall auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember 2024 kommentiert: "Es ist erstaunlich und erschütternd, wie ein Terroranschlag, der Menschenleben fordert oder versehrt, seine Benennung ändert, wenn der Täter kein Islamist ist." Können Sie bitte erläutern, wie Sie zu diesem Schluss kommen?

Sabine Schiffer: Mir fällt in der Medien- und Social-Media-Beobachtung auf, dass bei Anschlägen die Frage nach dem Motiv zunehmend durch die Frage ersetzt wird, ob der Täter ein Muslim war – so als wäre damit das Motiv geklärt. Wenn es ein Muslim war, wird automatisch von Islamismus ausgegangen, ohne den Täter befragt zu haben – so etwa beim zweiten Terroranschlag in Solingen, wo ein "Islamist" eine Messerattacke verübt hatte (was droht, den Anschlag auf die Familie Genc vor über 30 Jahren zu überblenden).

Psychische Dispositionen oder andere Motive werden allenfalls bei nichtmuslimischen Tätern hinterfragt. Umgekehrt gilt inzwischen, wenn kein Islamismus vorliegt, handelt es sich nicht um Terror.

So wurde der Anschlag in Prag vor Weihnachten 2023 beispielsweise als Amoktat gewertet, obwohl der Täter seinen Terror geplant hatte und an mehreren Orten zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt hat.

Ähnlich verhält es sich mit dem Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum OEZ in München, der am 22. Juli 2016, dem fünften Jahrestag des Breivik-Massakers in Utoya, ausgeführt wurde. Ein Täter, der iranischer Abstammung ist, aber gezielt "ausländisch aussehende" Jugendliche tötet, passte nicht ins Schema.

So wurde aus Terror Amok und schließlich ein rechtsextrem bzw. rassistisch motivierter Anschlag, als die rechtsextreme Gesinnung des sich als einzig echten Arier wähnenden Mörders nachgewiesen werden konnte – was allerdings erst nach einigen Jahren eingeräumt wurde und dann wiederum nicht dazu führte, dass der Anschlag als Terroranschlag bezeichnet wird.

Das war beim letzten Gedenken in Hanau Thema, wurde in Reden auf die Verbindung mit anderen Opferinitiativen verwiesen und den langen Kampf in München. Aber der Erfolg der Anerkennung, nach vielen Jahren, schlägt sich nicht unbedingt in einer anderen Sprachregelung nieder.

Nun haben wir es in Magdeburg mit einem behördlich bekannten arabisch-stämmigen Ex-Muslim und Islamhasser zu tun, der lange auffällig antimuslimisch agitiert hat. Finden Sie es nicht auch auffällig ruhig um ihn nach seiner Verhaftung?

Auf jeden Fall nimmt nach Bekanntwerden seines mutmaßlichen Motivs die Bezeichnung Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt graduell ab und wird vermutlich als Amoklauf in Politik und Medien in Erinnerung bleiben – obwohl hier wahrlich eine lange Planung nachgewiesen werden kann. Weil der Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt offiziell nicht als Terror eingestuft wird, ermittelt auch die Bundesanwaltschaft nicht.

▶ Sie kritisieren in Ihrem Artikel, dass sich die öffentliche Debatte "in alten Reflexen" ergehe und bemängeln: "Islamhasser werden aber nach wie vor nicht in ihrem Gefahrenpotenzial ernst genommen und das gilt es zu ändern." Daher: Was müsste sich ändern bzw. was könnte dann anders sein?

Porträt Sabine Schiffer
Sabine Schiffer

Sabine Schiffer: Nun, es gibt nicht von ungefähr den Ausspruch: Rassismus tötet. Das gilt natürlich auch für Kulturrassismus. Ich stelle in dem Umgang mit Anschlägen einen antimuslimischen Reflex fest. Das heißt, dass anders geurteilt wird, wenn Muslime Täter sind.

Vor kurzem gab es einen Vorfall mit einem Mann in Duisburg, der ein Messer zog und Menschen bedrohte. Er ist weiß und obwohl die Bild ihn auch als "Messermann" bezeichnet, wie auch der muslimische Attentäter von Solingen II bezeichnet wurde, gilt letzterer offiziell als Terrorist, ersterer nicht. Wie man sieht, greifen AfD & Co. den bereits gesetzten Begriff nicht auf und weitere Medien auch nicht.

Die Empörung scheint für bestimmte Täter reserviert. Und das hat Folgen, wie man beim Umgang mit dem Mord an der ägyptischen Pharmazeutin Marwa el-Sherbiny im Amtsgericht Dresden sehen konnte.

Sie wurde massiv und sogar schriftlich von ihrem späteren Mörder bedroht, das Schreiben lag dem Amtsgericht vor. Dennoch erhielt sie weder Personenschutz noch wurde ihr eine weitere Begegnung mit ihrem Beleidiger erspart und zu einer weiteren Zeugenaussage eingeladen, die gar nicht mehr nötig gewesen wäre, weil diese schon vorlag.

Ein Schöffe wollte jedoch die mutige junge Muslimin mal sehen, die mit Kopftuch besser Deutsch sprach als der gebürtige russlanddeutsche Täter. Befürchtungen um die Frau hatte man anscheinend nicht. Ich stelle seither die Frage, ob man ebenso verfahren wäre, wenn ein solcher Drohbrief von einem Muslim vorgelegen hätte. Solange dieser Fall nicht schonungslos aufgeklärt ist, kann es weitere geben.

So wie auch die Nichtaufklärung der Versäumnisse bei den sog. NSU-Morden, wo man jahrelang türkisch-stämmige Mordopfer wiederum nur als Täter und nicht als Opfer sehen konnte, weshalb in den Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Motive gar nicht geprüft wurden, sondern von sog. Ausländerkriminalität ausgegangen wurde. Wie viele der Getöteten könnten noch am Leben sein, wenn man Türken oder Muslime auch als Opfer hätte denken können?

▶ Die von Ihnen konstatierten Tatsachen, dass diese "alten Reflexe" in der Konsequenz Menschenleben kosten, also die Thematisierung hiervon kein akademischer Zeitvertreib ist, wird überdeutlich bei diesen NSU-Morden, die bezeichnenderweise lange als "Döner-Morde" tituliert wurden. Aber inwiefern kann dargestellt werden, welche Rolle es bei dieser Mordserie gespielt hat, dass Islamhass in seinem Potenzial nicht ernst genommen worden ist.

Sabine Schiffer: Dass Islamhass ein starkes Motiv war, liegt nahe, ist hier aber nicht einzig nachzuweisen. Es kann auch Hass auf "Ausländer", vornehmlich Türkischstämmige, gewesen sein. Diese unmenschliche Bezeichnung "Döner-Morde" spricht Bände, auch "Soko-Bosporus" verwies klar auf die türkische Community. Herr Boulgarides, der griechischer Herkunft war, dürfte verwechselt worden sein. Es handelte sich jedoch immer um gut Integrierte und beruflich Erfolgreiche, oft Unternehmer.

Ob es sich um antimuslimischen Rassismus oder alleine sog. "Ausländerfeindlichkeit" handelt, liegt mit den Akten unter Verschluss, wobei der Begriff "ausländerfeindlich" schon die Perspektive eines rechtsextremen Täters übernimmt, der ja gerne die Menschen als "Ausländer" und nicht zugehörig sähe. Diese Bezeichnung bürgert die Betroffenen verbal aus. Jedenfalls hat sich gezeigt, dass das Verkennen des Motivs bzw. der bevorzugt anvisierten Gruppe, diese nicht schützt, sondern solchen Tätern weiter ausliefert.

Nach neun Morden gingen die Familien der Opfer selbst organisiert auf die Straße und forderten "Kein zehntes Opfer!" Sie haben den Zusammenhang erkannt, dem sich die Strafverfolgungsbehörden verweigerten.

Hier gäbe es nun noch etwas Weiteres aufzuklären, das auch für den Täter von Magdeburg relevant sein könnte: das Versagen von oder die Verstrickung mit Behörden, deren – im besten Falle – Nichtreagieren auf Warnsignale.

Wie wir vom Mord an Halit Yozgat in Kassel wissen, war ein sog. Verfassungsschützer, der einen rechtsextremen V-Mann führte, während der Tat im Internetcafé des Opfers anwesend.

Die Zeugen in diesem ganzen Komplex haben eine hohe Sterblichkeitsrate, die Akten bleiben unter Verschluss. Es fühlt sich nicht gut an, dass hier sog. Sicherheitsinteressen vor Aufklärung gehen. Da muss man fragen: Sicherheit für wen? Und für wen nicht?

▶ Wo sehen Sie Schutzpflichten verletzt?

Sabine Schiffer: Auch die Opferfamilien und Überlebenden des rechtsextremen Terroranschlags vom Februar 2020 in Hanau fragen das ganz vehement und zurecht. Sie mussten erleben, dass sie nicht genauso geschützt werden, wie andere.

Das laxe Vorgehen am Abend der Tat kostete weitere Menschenleben. Und ich bin nicht sicher, ob bei einem vergleichbaren Polizeiversagen wie dort, aber mit anderen Opfern, der Polizeichef kurze Zeit später noch befördert worden wäre.

Ich bin jedoch sicher, dass der beginnende Karneval abgesagt worden wäre, wenn ein Islamist neun oder zehn Deutsche ermordet hätte. Auch der nachsichtige Umgang mit dem Vater des Attentäters, der immer noch die Mutter des Mordopfers Ferhat Unvar bedroht, halte ich für umgekehrt unvorstellbar. Hingegen bekamen die Überlebenden des Anschlags eine Gefährderansprache.

Ob man bei einem hellhäutigen Opfer auch ohne Feststellen der Lebensfunktionen und Einleitung von Rettungsmaßnahmen einfach darüber gestiegen wäre, um den Sichtschutz herunterzulassen, ohne seinen Puls zu prüfen? Das sollten wir uns alle fragen. Ferhat Unvar ist erst viele Stunden nach seinem Auffinden verstorben.

Gegenproben dieser Art können helfen, Doppelstandards zu entlarven. In der Zusammenschau finde ich das alles ungeheuerlich.

Aber die Schutzpflichten gehen noch weiter: Wenn wir den Anschlag in Halle (an der Saale) an Jom Kippur im Oktober 2019 weiterhin nur als antisemitisch ansehen, dann leisten wir wiederum dem Übersehen von Gefahr auch für Muslime Vorschub. Denn der rechtsextreme Terrorist hat nach seinem Scheitern an der Synagogentür der jüdischen Gemeinde gezielt einen Döner-Imbiss angesteuert.

Wie die Protokolle des Gerichtsprozesses belegen, wollte er sogar vornehmlich Muslime töten, kam dann aber zu dem Schluss, dass am Ende doch Juden dahinterstecken müssten, wenn Muslime ins Land gelassen werden. Hier sehen wir die Verschränkung von antisemitischer Weltverschwörungsideologie mit antimuslimischem Rassismus. Dennoch wollte man bei Gericht den Imbissbesitzer zunächst nicht als Nebenkläger zulassen.

Solidarisch war hier die jüdische Studierendengemeinde. Dass übrigens die Opfer des Täters schließlich eine Frau und ein junger Auszubildender waren, der es – aus Sicht des Mörders – wohl wagte im türkischen Imbiss zu essen, dürfen uns von der Motivlage nicht ablenken; das Ermorden der Frau im Vorbeigehen passt jedoch ebenfalls in ein rechtsextremes, misogynes Weltbild.

▶ Haben Sie eine Erklärung für diese "alten Reflexe" der unterschiedlichen Bewertung von Gruppen?

Sabine Schiffer: Wir bewegen uns alle vornehmlich in gewohnten Rahmen. Übrigens haben wir viele dieser Frames schon im antisemitischen Diskurs verinnerlicht. Ich habe lange in Erlangen gelebt, wo 1980 ein spektakulärer Doppelmord stattfand. Der Verleger Shlomo Levin und seine Lebensgefährtin Frieda Poeschke wurden in seinem Haus kaltblütig erschossen.

Frau Poeschke war die Witwe des früheren Oberbürgermeisters, was aber nicht weiter Beachtung fand. Dass nicht weit weg von Erlangen, im fränkischen Ermreuth, die Wehrsportgruppe Hoffmann trainierte, wurde ebenfalls nicht beachtet. Die Medien stürzten sich auf Herrn Levin, dem man illegale Machenschaften bis zu einer Tätigkeit für den israelischen Geheimdienst Mossad zutraute. So wurde aus einem Opfer ein angeblicher Täter – kein Ruhmesblatt für die Erlanger Nachrichten, der alte Antisemitismus schien voll durch.

Einzig der Journalist Ulrich Chaussy, der sich auch um die Aufklärung des Oktoberfestattentats verdient gemacht hat, ist dem Fall auf den rechtsextremen Grund gegangen. Auch hier werden spät freigegebene Akten noch eine wichtige Rolle spielen, denn der mutmaßliche Mörder konnte wegen seines Todes nicht vor Gericht gestellt werden.

Aber die Gefahr besteht, dass man rechtsextreme und/oder menschenverachtende Gewalt als gefährdend nur für "andere" sieht, markierte Gruppen wie Juden, Muslime und andere Minderheiten. Bereits Halle, aber auch Magdeburg und München 1980 und einige mehr haben gezeigt, dass es eben alle treffen kann. Also, weder Antisemitismus noch Islamhass sind gruppenspezifische Gefahren, sondern bedrohen die ganze Gesellschaft – physisch, aber auch in ihrem Zusammenhalt.

Der Antisemitismus zeigt zudem, dass kritische Auseinandersetzung der einzige Weg aus solchen stereotypen Zuweisungen heraus ist. Allerdings überschätzen wir uns im Hinblick auf Aufarbeitung durch Erinnerungskultur arg, denn vor verallgemeinernden Zuweisungen sind markierte Minderheiten wie Juden, Roma und Sinti oder auch Muslime nach wie vor nicht gefeit. Und es gelingt uns nicht wirklich, die Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung in die heutige Zeit und auf alle Gruppen zu transferieren.

Wenn ich mir etwa den Umgang mit dem Nahostkonflikt ansehe, frage ich mich oft, wie es sein kann, dass einige Juden nur als Opfer, hingegen Muslime – die Christen vor Ort werden zumeist ausgeblendet – nur als Täter denken können und andere nur umgekehrt. So als gäbe es homogene Gruppen, wo alle die eine oder die andere Eigenschaft haben. In genau solchen Stereotypen denken Extremisten und sie sind nicht nur immer falsch, sie kosten Menschenleben.

▶ Sie monieren auch, wie die Politik jeweils auf die genannten Morde reagiert hat und welche Forderungen vonseiten der Politiker zu hören waren. Können Sie dies bitte erklären?

Sabine Schiffer: Zunächst ist es interessant festzustellen, wie unterschiedlich die Reaktionen in Politik und Medien sind, je nachdem, welches Profil Täter haben. Einiges habe ich schon genannt.

Insgesamt gilt: je weiter der Täter emotional von uns weg ist, desto drastischer die Forderungen – statt die fehlende Umsetzung einzelner Gesetze zu monieren, das Versagen bei den Verantwortlichen, werden neue Verschärfungen gefordert; nicht selten kombiniert mit Abschiebephantasien, die das Grundgesetz gar nicht hergibt und offenbaren, dass nicht alle Menschen als gleichwertig betrachtet werden; denn ein Gefährder würde auch woanders vermutlich gefährlich für die Menschen sein. Zudem nimmt man dabei offensichtliche Widersprüche in Kauf: Angriffe auf Juden werden durchwegs verurteilt; das ist schon mal gut.

Angriffe auf Muslime, werden nicht in gleicher Weise skandalisiert. Im Kontext des Nahostkriegs hat es etwa einen enormen Zuwachs an antisemitischen und antimuslimischen Vorfällen gegeben, skandalisiert wird vor allem der Antisemitismus. Und dieser wird nun auch noch vornehmlich Arabern unterstellt, die ausschließlich als Muslime wahrgenommen werden. Diese Zuweisungspraxis erschwert jetzt erneut die Wahrnehmung und Empathie von gleichwertig angegriffenen Opfern.

Eine fortgeschrittene Form von Schuldabwehr für Deutsche, die auf ihre "Wiedergutwerdung" hoffen, wie es Max Czollek zu Recht kritisiert. Dafür diffamiert man sogar auch Juden als antisemitisch, die sich für Gleichberechtigung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen. Im Ausland schüttelt man den Kopf über diesen irregeleiteten deutschen Diskurs.

Was die wiederkehrenden Muster anbelangt: Es ist und bleibt eine Daueraufgabe, die nie erledigt sein wird. Wir müssten uns intensiv mit schmerzhaften Sachverhalten befassen und uns immer wieder selbstkritisch fragen, ob das stimmt, was wir zu sehen meinen. Ob wir uns vielleicht selbst idealisieren und dabei wichtige Aufgaben übersehen.

Wir benötigen mehr Bewusstsein für die Hartnäckigkeit von Ressentiments, die ihr Gewand ändern, aber nicht ihren Charakter, und wir benötigen eine Fehlerkultur, die Fortschritte würdigt und weniger verurteilend begleitet. Also alles, was gar nicht primär auf der Bildungsagenda steht.

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▶ Was wäre Ihre Forderung an den Journalismus?

Sabine Schiffer: Das Anwenden der gleichen journalistischen Standards auf alles und jeden bei jedem Sachverhalt. Wenn immer die Relevanzfrage im Vordergrund steht, kann man nicht so viel verkehrt machen: Ist das Thema relevant? Welche Aspekte sind für das Thema relevant? Und welche nicht?

Wenn eine Frau oder ein Mädchen übergriffig behandelt wird, muss das immer ein Skandal sein – egal, ob das Mädchen Kopftuch trägt oder nicht und egal, wer der Täter oder die Täter sind. Um bei dem Beispielthema zu bleiben, können wir feststellen, dass die Skandalisierungsgrade nicht gleich verteilt sind, sondern die der Mehrheit emotional näheren Opfer es öfter in die überregionale Berichterstattung schaffen, während andere lokal und damit eingeschränkt wahrnehmbar bleiben, wenn darüber überhaupt berichtet wird.

Auf einer nächsten Stufe sind Wording und Framing stets kritisch zu hinterfragen. Ich rede hier nicht von strategischem Framing, das im Journalismus gar nichts zu suchen hat, sondern in die PR gehört.

Aber man kann eben nicht framen. Und, wenn wir noch einmal auf den Anfang unseres Interviews zurückkommen, sehen wir, dass es einen Unterschied in der Perspektive macht, ob ich eine Untat als Amoklauf oder Terrorismus bezeichne oder – wie gerade in Syrien – aus Terroristen Rebellen werden. Im Sprachgebrauch finden starke Vereinheitlichungsprozesse durch Agenturen – und nicht selten Thinktanks oder staatliche Stellen – statt, die stets zu hinterfragen sind im Sinne einer vierten Gewalt.

Bei allem Verbesserungspotenzial im Journalismus, sollte uns auch klar sein, dass er nicht alles reparieren kann, was von anderer Seite ungünstig vorgegeben wird. Medien arbeiten mit vorgeprägter Sprache und Bildern, die mit mehr Distanz betrachtet werden müssen, denen man aber auch nicht gänzlich entkommen kann, um verstanden zu werden.

Darum benötigen wir ein Schulfach Medienbildung, die Vermittlung von Media Literacy für alle und auch eine psychologische Grundbildung, wie der Mensch wird, wie er wird und wie Gruppendynamiken funktionieren.

▶ Frau Schiffer, während wir dieses Interview schriftlich geführt haben, kommt jetzt leider die Nachricht eines weiteren Anschlags in Aschaffenburg auf. Sehen Sie hier bekannte Muster?

Sabine Schiffer: Ja, schrecklich. Und ja und nein. Nach der ersten Einordnung als "Ausländerkriminalität" durch rechte Kreise und "Terror" durch den Bundeskanzler, sowie extrem rechter Mobilisierung in Aschaffenburg gegen den "Asylwahnsinn" und das Versagen der Politik bei ihren Schutzpflichten, kam sehr schnell die psychische Erkrankung des afghanischen Täters ins Gespräch.

Ich kann nicht beurteilen, inwiefern das auch damit zu tun haben könnte, dass so der Verbleib des ausreisepflichtigen Asylsuchenden erklärt werden kann. Seine Opfer, das getötete marokkanisch stämmige zweijährige Kind, wie auch das gleichaltrige syrische Kind, das schwer verletzt wurde, passen nicht ins Schema des üblichen Diskurses, dass hier ein "Kulturfremder" die deutsche Lebensweise ablehne.

Über das zweite Todesopfer, einen Mann in den Vierzigern, der sich dem Mörder entgegengestellt hat, gibt es noch keine weiteren Erkenntnisse. Vergleichbar zum Anschlag in Magdeburg wird auf Ausweisung und Abschiebung verwiesen, darum kreisen auch die Pressekonferenzen zum Thema.

Dazu habe ich weiter oben schon etwas gesagt. Fragen nach den Bedingungen, warum Menschen erkranken, wird es vermutlich sobald nicht geben.

▶ Frau Schiffer, herzlichen Dank für das Interview!

Sabine Schiffer ist langjährige Kolumnistin des Migazin; Linguistin und Medienwissenschaftlerin, Gründerin und Leiterin des Instituts für Medienverantwortung (heute in Berlin), Autorin Lehrbuch Medienanalyse, Coautorin Antisemitismus und Islamophobie, Fachaufsätze und Speaker, Professorin an der Media University of Applied Sciences in Frankfurt/Main.