Terrorismusbekämpfung auf Russisch

Tschetschenien blutet weiter, doch seit Russland Schulter an Schulter in der Anti-Terror-Allianz kämpft, wollen sich die westlichen Regierungen erst recht nicht mehr in den Krieg im Kaukasus einmischen

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Der Krieg in Tschetschenien geht weiter, auch wenn das internationale Interesse daran seit dem 11. September abgeflaut ist. Doch er firmiert jetzt nicht mehr als "innere Angelegenheit" Russlands, sondern als Teil der internationalen Terrorismusbekämpfung. Der russische Präsident Wladimir Putin, erfahren bei der Bekämpfung von Terroristen, hat sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center unverzüglich auf die Seite der Amerikanern gestellt, seine Bereitschaft im Krieg gegen den Terror bekundet und mit Informationen über Afghanistan ausgeholfen. Im Gegenzug warb er um Verständnis für den "Kampf gegen internationale Terroristen" in Tschetschenien. Ein Ablasshandel, in den die westlichen Regierungen ohne merkliches Zögern einschlugen. Seither muss Putin weder mit scharfer Kritik von innen noch aus dem westlichen Ausland rechnen.

Einzig Tschetschenien, das für seine Eigenständigkeit kämpft, muss für das Anti-Terror-Bündnis zwischen Russland und dem Westen teuer bezahlen. Denn auch dort hat der 11. September der "Terroristenbekämpfung" neuen Schwung verliehen. Der jüngst veröffentlichte Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Swept Under: Torture, Forced Disappearances, and Extrajudicial Killings During Sweep Operations in Chechnya gibt Einblick in den Alltag in der abtrünnigen Kaukasusrepublik: Plünderungen, Folter, willkürliche Festnahmen, Vergewaltigung und Misshandlungen sind keine Einzelfälle. Jeden Tag verschwinden in Tschetschenien Menschen, jeden Tag tauchen Angehörige oder Nachbarn als Leichen wieder auf. Seit dem Beginn des zweiten tschetschenischen Kriegs im Herbst 1999 wurde die Hauptstadt Grosny fast vollständig zerstört, ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Regelmäßig erleidet die Zivilbevölkerung Satschistki, brutale "Säuberungen" durch das russische Militär. Dabei werden Dörfer zum Teil für Wochen abgeriegelt und systematisch durchsucht, wobei gemordet, geplündert und vergewaltigt wird. Fairerweise muss man sagen, dass auch die Rebellen bei der Wahl ihrer Mittel nicht eben zimperlich sind.

Wenn der Krieg in Tschetschenien für Russland auch bislang nicht erfolgreich war, so war er doch effizient: Allein während des ersten Kriegs wurde die Bevölkerung von 1,2 Millionen auf ungefähr die Hälfte dezimiert. Wie viele Opfer der zweite Krieg bislang gefordert hat, weiß keiner so genau. Je nach Quelle fallen die Angaben unterschiedlich aus. Die offiziellen Zahlen sprechen von 4.000 Soldaten, die in den vergangenen zwei Jahren in Tschetschenien gefallen sind, das Komitee der Soldatenmütter Russlands geht vom Doppelten aus. Die Zahl der getöteten Zivilisten wird mal auf 5.000 mal auf 8.000 geschätzt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Memorial sind zirka 2.000 Menschen verschwunden und Amnesty International zählt 300.000 Flüchtlinge.

Von den westlichen Regierungen kommt dazu nur die bekannte Rhetorik. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat Russland am 23. Januar wieder einmal recht allgemein wegen fortgesetzter Menschenrechtsverletzungen kritisiert und wie schon so oft eine politische Lösung gefordert. Doch weder zu konkreten Forderungen noch zu Sanktionen, etwa den Entzug des Stimmrechts für die russischen Vertreter, konnte man sich durchringen.

Auch das US-Außenministerium hat in seinen jährlichen Human Rights ReportsTschetschenien erneut als Problem ausgemacht. Auch hier wird auf die brutalen Verstöße gegen die Menschrechte hingewiesen. Dafür haben die Amerikaner allerdings kurz zuvor brav einen Rückzieher bei einem Thema gemacht, das die russische Regierung offensichtlich viel mehr berührte: Auf Anordnung der Regierung musste der vom US-Congress finanzierte amerikanische Sender Radio Liberty (RL) seinen Plan, einen Nordkaukasus-Dienst einzurichten, kurzfristig auf Eis legen. Ursprünglich sollten ab dem 28. Februar täglich Sendungen auf Tschetschenisch, Tscherkessisch (wird im Westen der Region gesprochen) und Awarisch (wichtigste Amtssprache Dagestans) ausgestrahlt werden. Als das bekannt wurde, machte die russische Regierung sofort Druck, und Informationsminister Sergej Jastrschembski drohte unverhohlen mit dem Entzug der Sendelizenz. Seit dem ersten Tschetschenienkrieg, als die Rebellenführer Dauergäste bei RL waren und den Kreml, der auf vollständige Nachrichtenblockade gesetzt hatte, zwangen, die Medien auch in die russischen Militäreinheiten zu lassen, ist der Sender ein rotes Tuch. Als Begründung für die Entscheidung der Bush-Regierung verwies der Sprecher des US-Außenministeriums, Richard Baucher, vor der Presse eher zugeknöpft darauf, dass sich der Start der Sendungen in den Regionalsprachen kontraproduktiv auf den Dialog zur Findung einer Friedenslösung für Tschetschenien auswirken könnte, die Angelegenheit aber a subject of discussion bleiben werde.

Auf dem internationalen Parkett läuft es also ganz gut für Russland. Einem Sieg in der Kaukasus-Republik kommt es damit aber auch nicht näher. Doch man bemüht sich, Normalität zu suggerieren: Präsident Putin selbst hat vor kurzem vor dem Sicherheitsrat von einer "seriösen Stabilisierung der Lage in Tschetschenien" gesprochen. Ende Februar durfte der Minister für Tschetschenische Angelegenheiten, Wladimir Jelagin, mit erfreulichen Daten aufwarten: das Stromnetz in Tschetschenien sei weitgehend wiederhergestellt ebenso wie das Schienennetz, die Gesundheitsversorgung funktioniere auch außerhalb der Hauptstadt, obendrein wurden 60.000 neue Jobs geschaffen. Das klingt ganz so, als würde in Tschetschenien ein Wiederaufbau stattfinden. Und das Beste daran ist, dass man solche Fakten in einem abgesperrten Kriegsgebiet unmöglich überprüfen kann. Und es gibt sogar noch den Moskauer Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Kalamanow, der Verstöße und Klagen registriert und dokumentiert und es gibt sogar Verfahren, wo versucht wird, Massaker juristisch aufzuarbeiten - sie verlaufen nur meist ergebnislos.

Die russische Führung fährt doppelgleisig: Auf der einen Seite errichtet sie (scheinbar) zivile Strukturen, auf der anderen Seite setzt sie auf die militärische Eskalation ohne Rücksicht auf Verluste, um doch noch den Sieg davonzutragen. Während die westlichen Regierungen zusehen und sich um eine "differenzierte Betrachtung" des Krieges bemühen, wollen die Menschen in Tschetschenien nicht mehr warten, sie haben die Nase einfach voll: Die 700 Einwohner des Dorfes Zozin-Jurt (östlich von Grosny) haben jetzt in ihrer Verzweiflung einen Hilferuf an die UN-Menschenrechtskommission, den Europarat und die Organisation Human Rights Watch unterschrieben. Sie beklagen in ihrem Dorf den Verlust von 82 Bewohnern seit Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs, die meisten starben oder verschwanden im Zuge von "Säuberungsaktionen", andere wurden an Kontrollpunkten oder durch Folter ermordet.

Auch der Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten Slobodan Milosevic scheint seine Wirkung im Kaukasus zu entfalten: Wie der den tschetschenischen Rebellen nahestehende Internet-Dienst Kavkaz.org meldete, hat der offizielle Vertreter des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, Achmed Sakajew, sich am 7. März mit Carla del Ponte, der Chefanklägerin des Internationalen Straftribunals, getroffen - zu konsultativen Gesprächen. Dass das tschetschenische Volk die Täter und womöglich sogar Putin selbst jemals vor dem Haager Tribunal sehen werden, ist nicht sehr wahrscheinlich, doch ein Zeichen in Richtung Moskau ist es immerhin.

Eine Lösung für Tschetschenien scheint nicht in Sicht. Das Problem ist, dass Moskau offenbar keine Friedensstrategie hat. Sanobar Schermatowa, Tschetschenien-Berichterstatterin für die Zeitung Moscow News gibt zwar im Gespräch mit RFRL an, aus verlässlichen Quellen zu wissen, dass der Kreml einen Entwurf in der Schublade habe, der dem Kompetenzteilungsabkommen (power-sharing agreement), das den Bürgerkrieg in Tadschikistan erfolgreich beendet hatte, ähnlich ist. Denkbar wäre auch, dass Tschetschenien im Rahmen eines Sonderstatus mit weitgehender Autonomie nach dem Vorbild des Abkommens zwischen Russland und Tatarstan Teil der Föderation bleibt. Doch ernsthafte Gespräche über ein Friedensabkommen sind nicht in Sicht, ein letzter Versuch im vergangenen November ist gescheitert.