"The Brutalist": Epochales Meisterwerk über die Moderne

Seite 2: Sexualität als untergründiges Thema

Erst im letzten Viertel des Films laufen alle Erzählfäden zusammen, und manches wird nun besser verständlich. Eine Reise zu den Marmorklippen des norditalienischen Carrara und ein sinnliches Abendfest bei den Marmorarbeitern, die früher antifaschistische Partisanen waren, leitet den unerhörtesten Moment des Films ein.

Copyright Universal Pictures

Zuerst fühlt man sich ganz aus dem bisherigen Film herausgesogen, zärtlich in die immer erotische Traumlandschaft eines Bertolucci-Films hineinversetzt. Ein Tanz und der Flirt von Laszlo mit einer Tänzerin wird von Van Buren aus der Ferne beobachtet.

Er sieht und spürt in diesem Augenblick, dass er kein Teil von alldem ist, Außenseiter bleibt und sich offensichtlich nicht mit diesen einfachen Leuten verbinden kann. Etwas später bricht dieses Ressentiment dann offen aus und Van Buren vergewaltigt Laszlo – und bringt damit die Sexualität als untergründiges Thema dieses Films zum Vorschein.

Es ist eine durch und durch verstörende Szene. Nicht wegen der Tat als solcher, sondern weil sie alle bisherigen Ereignisse in neuem, verändertem Licht zeigen. Und Van Buren als soldatisch gepanzerter Herrenmensch voller innerer Unbeholfenheit. Der Regisseur legt uns Faschismus in seinem Doppelgesicht bloß: als Infantilismus des "nicht zu Ende geborenen Mannes" und als sexuell grundierte Perversion.

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Natürlich dürfen wir hier auch nicht vergessen: Der Steinbruch von Carrara war nicht nur der Lieblingssteinbruch der Römer und der Renaissance-Künstler wie Michelangelo, es war auch ein Lieblingssteinbruch der italienischen Faschisten, die sich als neues Rom inszenierten.

Zugleich aber war dies ein zentraler Ort für die antifaschistischen Partisanen, worauf Corbet, wie oben erwähnt, Bezug nimmt.

Und auch der besonders bei Postfaschisten beliebte Text des Faschismus-nahen deutschen Schriftstellers Ernst Jünger, die Fantasy-Fabel "Auf den Marmorklippen", gewissermaßen das Schlüsselbuch der inneren Emigration der Nazis (!) hat Bezüge zu diesem Ort.

Auch wenn dies eine gewagte Behauptung ist: Der Autor dieser Filmkritik glaubt, dass Regisseur Brady Corbet alle diese Dinge mitdenkt und er deswegen einen sehr differenzierten, referenzenreichen Film über Faschismus gemacht hat.

Faschismus und Sex

Dazu noch eine Bemerkung, die über diesen "Theweleit-Komplex" der "Männerphantasien" hinausführt: Der unvergleichlichen Filmkennerin Lillith (Merci!) verdankt der Autor dieses Beitrags den treffenden Hinweis auf Liliana Cavanis "Nachtportier": Tatsächlich ist auch dies hier noch einmal eine letzte Faschismusreferenz in dem an solchen Referenzen sehr reichen Film.

Wenn Laszlo seine Frau Erzebet, die höllische Schmerzen leidet, zunächst auf die Toilette trägt, und ihr dann Heroin spritzt, um die Schmerzen zu lindern, dann hat sie das gleiche Kleid an, das Charlotte Rampling im "Nachtportier" trägt. Und die Szenen der beiden sind auch sonst ähnlich gefilmt, wie die zwischen Rampling und Dirk Bogarde.

"The presence of the past"

Danach geht alles sehr schnell. Laszlo und Erzebet gestehen sich – und den Zuschauern – die bittere Wahrheit ein: "Amerika ist verkommen." Die Landschaft, das Essen, die Menschen. Sie wollen uns hier nicht." "Uns" – das meint die Juden. So brechen sie mit Van Buren, indem sie ihn sozial bloßstellen und folgen Zsofia nach Israel.

Ein Epilog führt schließlich auf die Architektur-Biennale von Venedig 1980 und kontextualisiert den Stil von Laszlo unter der Überschrift "The presence of the past".

Der Brutalismus erscheint als Reaktion auf den Zivilisationsbruch, als an Buchenwald angelehnte Architektur, als (schönes) Verbrechen aus Beton, als monumentales Mahnmal, das die Welt als Lager zeigt.

Bewusst "klassisch" gehalten

Diese Gegenwart der Vergangenheit ist der rote Faden, der "The Brutalist" in seinem Ideen- und Facettenreichtum zusammenhält: Corbets Film rückt einen jüdischen Protagonisten und sein Traumatrisiert-sein ins Zentrum.

Er zeigt eine Figur, die nicht mehr heimisch werden kann, weil die Vergangenheit nicht vergehen will, sondern anwesend bleibt oder als verdrängte zurückkehrt. Anwesend ist diese Vergangenheit auch in der Moderne, deren Repräsentant Laszlo ist.

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Der Stil des Films ist trotz "modernistischer" Momente bewusst "klassisch" gehalten. Gedreht wurde auf "Vista Vision", dem Paramount-Format der 1950er-Jahre, und auf analogem Filmmaterial, vorgeführt wurde er zur Premiere auf 70 Millimeter.

Auch die Vorbilder sind amerikanische Klassiker: Neben offenkundigen Referenzen, Orson Welles "Citizen Kane", King Vidors "The Fountainhead", Paul Thomas Andersons "There will be blood" kann man auch an Elia Kazans Einwanderergeschichten, Barry Levinsons "Bugsy", und Sergio Leones "Once Upon a Time in America" denken.

Kultiviertes, geduldiges und scharfsinniges Epos

Und doch ist "The Brutalist" am Ende ein Film, der in der albtraumhaften Dunkelheit Europas und des europäischen Zivilisationsbruchs wurzelt. Moderne und Klassik sind auch hier kein Gegensatz, sondern ineinander verschränkt.

Corbets Ehrgeiz, ein kultiviertes, geduldiges und scharfsinniges Epos in einer von Ignoranz und Aufmerksamkeitsdefiziten geprägten Zeit ins Kino zu bringen, ist unverkennbar. Dem Regisseur ist ein mitreißender Film geglückt, der eine Fülle von Themen anspricht.

Ein Film, der nur sehr oberflächlich betrachtet um die Gegenwart einen Bogen schlägt. Seine konzentrierte Geschichte erzählt von den USA und Europa, Tatkraft und Intellekt, Hoffnung und Scheitern. Und vom Antisemitismus in Amerika.

Die besten Filme sind immer die, die wir spüren, nicht die, die wir hören und sehen. "The Brutalist" ist erschütternd und schön.