The Course of the Empire Takes its Way

Neil Stephensons Roman "Cryptonomicon" - Laptop-Cowboys verkünden die frohe Botschaft von Individualismus und Kapitalismus

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Anfang 1999 erschien in den USA "Cryptonomicon", der neue Roman von Neal Stephenson. Der Ruhm seines SF-Bestsellers "Snow Crash", der gewaltige Umfang des Buches und Vergleiche mit Thomas Pynchons postmodernem Klassiker "Die Enden der Parabel" schraubten die Erwartungen in die Höhe. Schließlich ging es Stephenson um nichts weniger als eine Bestandsaufnahme des digitalen Zeitalters anhand einer fiktionalen Aufarbeitung der Ursprünge von Krypto- und Informationswissenschaft.

Der Sündenfall des digitalen Zeitalters ereignete sich am Freitag, den 28.11.1941, in Schanghai. Eine Patrouille amerikanischer Marines rast durch die engen Straßen auf den Jangtsekiang zu, um sich dort auf einem Kanonenboot einzuschiffen. Doch ihre Fahrt wird gestoppt von einer Prozession von Kulis, die große Mengen von Kisten durch die Gassen tragen. Darin befinden sich Schnipsel alter Zeitungen, auf denen Zahlen und Symbole gedruckt sind, durch die hindurch man noch immer die Nachrichten des Vorjahres oder längst vergessene Polo-Ergebnisse lesen kann. Diese Schnipsel stellen die chinesische Währung da.

Normalerweise sollte es für jeden Zeitungsausschnitt in irgendeinem Banktresor einen entsprechenden Gegenwert in Silber geben, den man sich jederzeit von einer Bank auszahlen lassen kann. Doch es ist Krieg, das Silber ist knapp, und die Banken sind dazu übergegangen, die von ihnen ausgestellten "Banknoten" untereinander auszutauschen. Sie sammeln das Geld der anderen Banken in unterschiedlichen Boxen, und jeden Freitag werden diese Boxen ausgetauscht, das eigene Papiergeld gegen das der anderen. Daher die Kuli-Prozessionen. Das hört sich an wie ein äußerst instabiles System und stellt darum eine gute Entsprechung für das heutige globale Finanzsystem dar, das auch längst nicht mehr auf materiellen Gegenwerten fußt, sondern auf der Bereitschaft von Banken und Anlegern, einander zu vertrauen. Das funktioniert solange, bis der nächste Börsen-Crash kommt - oder eine amerikanische Patrouille die Papierschnitzel in alle Winde verstreut.

Der Prolog von Neal Stephensons "Cryptonomicon" ist ein meisterhafter Einstieg in einen Roman, in dem es um die Anfänge von Globalisierung, Digitalisierung und Kryptografie geht. Auf vier Seiten gelingt es Stephenson nicht nur, ein präzises Bild einer von ihren materiellen Grundlagen gelösten Ökonomie zu entwerfen, sondern er wirft den Leser mitten hinein ins Geschehen des Romans. Das erscheint anfangs sehr komplex, doch schon bald haben sich drei immer weiter konvergierende Handlungsstränge herausgeschält. Zum einen geht es um den Kampf der Alliierten gegen die Deutschen und Japaner, und zwar um einen Kampf der Informationen.

Zentrale Figur dieser Partien ist Lawrence Pritchard Waterhouse, ein mathematisches Genie, dessen Aufgabe es ist, die Codes des Gegners zu knacken. Doch das Problem ist nicht nur die Entschlüsselung von Botschaften, sondern auch, die Deutschen darüber im Unklaren zu lassen, dass sie entschlüsselt worden sind. Damit die Nazis sich nicht wundern, dass ihre U-Boote immer häufiger abgeschossen werden, müssen sie mit falschen Informationen gefüttert werden, die die Aktionen als Zufälle erscheinen lassen. Dazu wird das "Detachment 2702" gegründet, dem auch Bobby Shaftoe , Stephensons zweiter zentraler Held, zugeteilt wird. Dieses Himmelfahrtskommando legt in Feindesland immer wieder falsche Fährten, indem sie z. B. eine britische Spionagestation auf dem italienischen Festland simuliert. Der dritte Handlungsstrang spielt Mitte der neunziger Jahre und dreht sich um die kleine Start-up-Firma Epiphyte, die in Südostasien einen Data-Haven einrichten möchte. Im Zentrum der zeitgenössischen Szenen steht Randy Waterhouse, der Enkel des brillanten Mathematikers.

Aber dies ist nicht die einzige Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit. Ins Zentrum der Handlung rückt immer mehr ein riesiger Berg von Gold, den die Japaner gegen Ende des Kriegs auf den Philippinen versteckten. Dieser könnte für Epiphyte die Rücklage sein, auf der sie die von ihnen geplante elektronische Währung gründen könnten, das Gold würde also die Lücke schließen, die im Prolog gerissen wurde.

Der zeitliche Rahmen und das Thema von "Cryptonomicon" erinnern nicht ganz zufällig an einen anderen Roman, der im Zweiten Weltkrieg spielt: Thomas Pynchons Die Enden der Parabel. Einen schmeichelhafteren Vergleich kann sich eigentlich kein amerikanischer Autor auf seinem Schutzumschlag wünschen, und die Kritiker haben Stephenson den Gefallen in Scharen getan. Stephenson selbst lässt auf seinem Cryptonomicon cypher-FAQ durchblicken, dass er seinen Roman durchaus in derselben Liga sieht. Beide Romane betrachten den Zweiten Weltkrieg als einen historischen Schnitt, in dem sich radikal etwas im Gefüge der Welt änderte.

Pynchons Werk hat als Schauplatz die "Zone", ein Mitteleuropa, in dem es keine klaren Grenzziehungen mehr gibt, und in dem die Figuren aller Nationen durch ein machtpolitisches Vakuum treiben. Nationalstaatliche Interessenkonflikte haben einer Machtstruktur Platz gemacht, die für alle Figuren gleichermaßen undurchschaubar ist. Auch Stephensons Südostasien gleicht anfangs einer solchen Zone. Japaner, Chinesen, Filipinos und Amerikaner purzeln fröhlich durcheinander, ohne dass die Pläne von "denen da oben" deutlich würden. Beide Romane beschreiben damit so etwas wie die Geburt der Globalisierung aus dem Geiste des Zweiten Weltkriegs. Bei Pynchon ist es am ehesten ein transnationales Unternehmen wie die I.G. Farben, in dem sich Macht bündelt, und in den zeitgenössischen Szenen von "Cryptonomicon" wird deutlich, dass zumindest in Südostasien die Politik zugunsten der Ökonomie als Ordnungsprinzip abgedankt hat.

In beiden Werken geht die Veränderung einher mit technischen Innovationen. Der Zweite Weltkrieg ist für Pynchon und Stephenson ein Versuchslabor neuer Waffensysteme, die sich darin gleichen, dass sie mit Verarbeitung abstrakter Informationen zu tun haben. Die Lenksysteme der V2-Raketen, die auf Pynchons London herabfallen, haben einen Feedback-Mechanismus, der jede menschliche Steuerung überflüssig macht. Die Bemühungen der Alliierten, aus dem Einschlagmuster Rückschlüsse auf die Pläne der Deutschen zu ziehen, führen zu statistischen Größen, nicht aber zu klar erkennbaren Motiven. In "Cryptonomicon" beschäftigt sich Lawrence Waterhouse intensiv mit der Frage, ab wann aus einer Reihe ungewöhnlicher Handlungen der Amerikaner, die daraus resultieren, dass sie die Codes der Japaner geknackt haben, eine eindeutige Botschaft an den Gegner wird: "Wir haben eure Codes geknackt". Mit anderen Worten: Wann geht eine lediglich statistische Größe in eine klare Aussage über? Beide Romane beschäftigen sich somit weniger mit eindeutig interpretierbaren Kampfhandlungen als mit einer fundamentalen Ambivalenz, die mit der Informationswissenschaft in den Krieg Einzug gehalten hat. Es sind nicht mehr die Raketeneinschläge und U-Boot-Versenkungen selbst, die den Krieg entscheiden, sondern ihre eindeutige Interpretation, die Trennung von Signal und Rauschen, die den Sieg bringt.

Doch einem Vergleich mit Pynchon hält "Cryptonomicon" tatsächlich nur nach einer oberflächlichen Betrachtung stand. Hat der Leser erst einmal die verschiedenen Handlungsstränge entwirrt und die Figuren verortet, ist es bald vorbei mit Komplexität und Ambivalenz. Stephensons Hauptfiguren Lawrence Waterhouse, Randy Waterhouse und Bobby Shaftoe entpuppen sich alsbald weniger als Spielbälle undurchschaubarer Mächte, wie noch Tyrone Slothrop in "Die Enden der Parabel", sondern als typisch amerikanische Frontier-Individualisten. Ihre Perspektive ist der durchgehende Identifikationspunkt für den Leser, Feinde und Außenwelt hingegen kriegen kaum ein Gesicht. Dies wird schon am Prolog deutlich.

Die Fahrt der Patrouille durch die Gassen von Schanghai wird geschildert aus der Sicht von Corporal Bobby Shaftoe. Sein Blick auf die am Straßenrand stehenden Chinesen, der Blick des westlichen, weißen, amerikanischen Individuums auf die südostasiatische Horde, ist typisch für den gesamten Roman. Aus der anfänglichen Figurenfülle des Romans wird schon bald eine auffällige Leere, denn es gelingt Stephenson nicht, die Innenperspektive seiner Helden aufzubrechen und glaubwürdige Gegenfiguren zu entwerfen, wie es sich für einen komplexen, globalen Roman doch gehört hätte. Die amerikanischen Feinde erhalten kein Gesicht, sie treten als anonymes Kollektiv auf, als "Nips", so die abwertende Bezeichnung der Amerikaner für die Japaner im Zweiten Weltkrieg.

Nur einen Grenzgänger präsentiert Stephenson, den japanischen Soldaten Goto Dengo. Dessen Geschichte gehört denn auch zum Besten, was der Roman zu bieten hat. Der Untergang seines Schiffes in der Bismarck-See, die Angriffe der Haie auf die Überlebenden, seine Landung an die Küste von Neu-Guinea, wo er dann Kannibalen begegnet, erzählen das Drama einer fortschreitenden Vereinzelung. Einer nach dem anderen sterben die Kameraden von Dengo, und sein Überleben wird für ihm immer mehr zum moralischen Problem, bedeutet es doch, dass er sein eigenes Leben höher schätzt als die Ehre von Kaiser und Vaterland. Stephenson schildert sehr genau die Konflikte zwischen der kollektiv ausgerichteten Mentalität Dengos, die dem eigenen Leben wenig Wert beimisst, und seinen Überlebensinstinkten. Seine Geschichte lässt sich lesen als ein erfolgreicher Individualisierungsprozess, und so ist es kein Wunder, dass Dengo am Ende 1. sich mit den Amerikanern anfreundet, 2. ein guter kapitalistischer Unternehmer wird.

Was Goto Dengo und Bobby Shaftoe auch in den extremsten Momenten überleben lässt, ist Shaftoes Lieblingstugend: "adaptability", also Anpassungsfähigkeit. Das bedeutet für ihn die Fähigkeit, in ungewohnten Situationen schnell auf neue Begebenheiten reagieren zu können. Alte Gewohnheiten werden über Bord geworfen und neue Strategien entwickelt. Survival of the fittest eben. Ganze Passagen des Buches scheinen nur geschrieben worden zu sein, um den Grundsatz des Darwinismus möglichst eindrucksvoll zu veranschaulichen. Immer wieder finden sich die beiden Front-Männer Dengo und Shaftoe in kleineren Gruppen wieder, die einer nach dem anderen dezimiert werden. GI Shaftoe überlebt als einziger einen Einsatz auf Guadalcanal und führt eine immer kleiner werdende Gruppe von Filipinos durch die Schlacht um Manila. Goto Dengo ist auf Neu-Guinea umgeben von Tod und Verwesung, aus denen er unbeschadet hervorgeht. Größere Gruppen haben nie lange Bestand in Stephensons Romanwelt, nur das vollkommen auf sich allein gestellte, anpassungsfähige Individuum überlebt.

"Cryptonomicon" erweist sich als zutiefst ideologischer Roman, denn letztlich geht es ihm um den Beweis, dass die amerikanischen Werte allen anderen, eher kollektiv ausgerichteten Staatsformen überlegen sind, worauf auch an mehreren Stellen die Überlegenheit der Amerikaner über die Japaner im Zweiten Weltkrieg zurückgeführt wird.

Wie stark der Roman von darwinistischen Mustern geprägt ist, zeigen auch die Figuren und Firmen, die in den zeitgenössischen Szenen eine Rolle spielen. Randall Lawrence Waterhouse, Douglas Arthur Shaftoe und Goto Engineering sind die Sprösslinge der Heroen, denen es gelungen ist, ihren genetisch hochwertigen Samen weiterzugeben. Die Frauenfiguren, die Stephenson dazu notgedrungen ins Spiel bringen muss, offenbaren nicht nur seine literarischen Schwächen, sondern auch den tiefsitzenden Chauvinismus seines Werks. Die feindliche Frontier ist eine Männer-Domäne, in der Frauen nur als Prostituierte oder exotische Indianer-Squaw etwas zu suchen haben, jedenfalls als passive Figuren, die darauf warten, dass der Mann in Aktion tritt.

Während das Krypto-Genie Lawrence Waterhouse meistens zu Huren geht, hat sich der virile Bobby Shaftoe eine zarte philippinische Pracht-Blume gepflückt, mit der er bei einem kurzen Zwischenaufenthalt den entscheidenden Quickie hinkriegt. Man erfährt nur, dass sie natürlich wunderschön und sehr exotisch ist, dann entlässt der Roman sie geschwängert aus seiner Handlung. Noch hemdsärmeliger ist die Love-Story des Kopfmenschen Waterhouse, der sich aus unerfindlichen Gründen in ein Mädchen verliebt, dass sich nicht im geringsten für ihn interessiert. Jedenfalls bis sie ihn Orgel spielen hört, woraufhin sie ihm gleich willig einen bläst und seinen Stammbaum fortführt.

Der Enkel dieses unfreiwillig komischen Paares ist Randy Waterhouse, seines Zeichens Netzwerk-Fachmann der kleinen Firma Epiphyte, die er mit seinem Kumpel Avi gegründet hat. Wollten sie ursprünglich nur ein Tiefseekabel legen, mit dem die Philippinen mit Japan und den USA verbunden werden sollten, fassen sie schon bald größere Pläne ins Auge. Auf dem fiktiven Insel-Staat Kikutani, zwischen Malaysia und den Philippinen, soll ein Data-Haven entstehen, auf dem Firmen und Privatpersonen ihre Daten und Informationen speichern können, ohne staatliche Interventionen oder Regulierungen zu fürchten. Schauplatz des Geschehens ist also nach wie vor das "Southpacific Theatre", nur das diesmal nicht amerikanische Marines gegen japanischen Soldaten kämpfen, sondern eine amerikanische Start-up-Firma gegen eine ganze Reihe Feinde.

Da ist zum einen "The Dentist", ein kalifornischer Multimillionär, der an den Geschäften von Epiphyte mitverdienen möchte. Dann gibt es da die vielen undurchsichtigen südostasiatischen Geschäftsleute mit meist schwer durchschaubaren Interessen. Und schließlich noch "root@eruditorum.org", eine ominöse Figur, von der Waterhouse regelmäßig E-Mails bekommt. Die Zeiten haben sich gewandelt, aber letztlich geht es für Epiphyte um dasselbe wie für Shaftoe oder Dengo: das nackte Überleben. Die Jungs von Epiphyte sind die Cowboys der kapitalistischen Frontier, die sich mit ihrer Anpassungsfähigkeit Nischen im noch unzivilisierten Raum des IT-Marktes erobern. Der Data-Haven Kikutani gleicht einer Westernstadt, in der staatliche Regulierung noch keinen Einzug gehalten hat und wo gewitzte Desperados noch Handlungsraum haben. Alles Amerikaner natürlich.

Tom Howard, einer der hochspezialisierten Mitarbeiter von Epiphyte, macht keinen Hehl daraus, dass er sich als eine Art Cowboy betrachtet. Über Kikutani sagt er: "It's like the Wild West - a little unruly at first, then in a few years it settles down and you've got Fresno." (Cryptonomicon, S. 327) Der Vergleich einer der berühmtesten Wildwest-Städte mit einer Insel im südchinesischen Meer zeigt an, dass für Howard die "Manifest Destiny" der Amerikaner, das Heilsversprechen, das sich mit einer stetigen Westwärtsbewegung verbindet, keineswegs an der kalifornischen Küste ihr Ende gefunden hat. Wurde die fragile Balance zwischen Chaos und Ordnung im 18. Jahrhundert noch mit Colts aufrechterhalten, sind nun Laptops und Informationen an ihre Stelle getreten. Epiphyte lässt sich als Bund hochspezialisierter Data-Cowboys verstehen, die mit Witz und Schnelligkeit den Gefahren von zu starker Regulation (Regierungen, Mega-Unternehmen) und chaotischer Gewalt (kriminelle Interessen) Paroli bieten.

Tom Howards verbale Auseinandersetzungen mit asiatischen Spezialisten werden bewusst als Duelle beschrieben, die er für sich entscheiden kann, weil er schneller zieht - nicht den Colt, sondern Informationen. Bei einem solchen Selbstverständnis nimmt es nicht wunder, dass der Mail-Server von Epiphyte auf den Namen "Tombstone" getauft wurde. Der Kampf um diesen Rechner, den die amerikanischen Behörden zu beschlagnahmen suchen, nimmt ähnliche Formen an wie die berühmte Auseinandersetzung zwischen Wyatt Earp/Doc Holliday und der Clayton-Bande. Die Hacker und Krypto-Freaks, die sich den Behörden entgegenstellen, erweisen sich nämlich allesamt als Waffennarren, die schon immer auf den Moment gewartet haben, um Tastatur und Winchester miteinander zu tauschen. In jeder Hackerbrust schlägt eben ein echtes Cowboyherz.

"Cryptonomicon" präsentiert somit jene "Vision einer kybernetischen Frontier, in der High-Tech-Handwerker ihre individuelle Selbstverwirklichung finden", wie Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrem Aufsatz zur kalifornischen Ideologie schreiben. Als Stephensons Verdienst kann gesehen werden, dass er das Epos für alle geschrieben hat, deren Zukunftsoptimismus auf jener "widersprüchlichen Mischung aus technologischem Determinismus und liberalem Individualismus" fußt, die Barbrook/Cameron im Zentrum der kalifornischen Ideologie ausmachen. Der Glaube ans Individuum speist sich aus jenem "populären amerikanischen Geschichtsbild (nach dem) die Nation in der Wildnis durch die Aktivitäten von Individuen, die in Freiheit ihrem Gewinn nachstrebten" entstand, der Determinismus hat eine evolutionär-darwinistische Prägung. Die den Roman bestimmende Ideologie des Survival of the Fittest gilt für die Figuren ebenso wie für den ökonomischen Bereich. So wie Bobby Shaftoe und Goto Dengo als anpassungsfähigste Vertreter ihrer Spezies den Stammbaum fortsetzen dürfen, überlebt auch die kleine Firma Epiphyte, da sie sich immer wieder den oft brutalen Gegebenheiten des Marktes anpassen kann. Das deutet schon der Name an, ist Epiphyte doch der Bezeichnung für eine Pflanze, die auf einer anderen wächst, in Stephensons Sinne also kein Parasit, sondern eine hochspezialisierte (=angepasste) Gattung.

Doch die parasitäre Definition hält auch eine andere Sichtweise bereit. In ihrer Analyse des Kapitalismus kalifornischer Prägung beschreiben Barbrook/Cameron die Blindheit dieser Ideologie gegenüber der Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen, dank der sie funktioniert. Auch in "Cryptonomicon" wird mit keiner Silbe die ökologische oder soziale Situation auf Kinakuta oder den Philippinen erwähnt, dem ökonomischen Einsatzgebiet von Epiphyte. Doch die Blindheit Stephensons gegenüber den ideologischen Fundamenten seines Romans geht noch tiefer. In "Cryptonomicon" geht es immer um eines: den Kampf des freiheitsliebenden Individuums gegen den Staat und das die adaptability beeinträchtigende Kollektiv. Dieser Kampf ist in Stephensons Romanwelt gleichzeitig immer einer Amerikas gegen den Rest der Welt, vor allem aber gegen die kaum auseinerzuhaltenden Asiaten. Diese Polarität erinnert auch an Stephensons Roman Snow Crash, in dem asiatische Einwanderer, die von einem amerikanischen Mogul ferngesteuert werden, auf die kalifornische Küste zutreiben. Die Annäherung des riesigen Floßes, auf der sich die "Refus" (!) befinden, so Stephensons Name für die asiatischen Flüchtlinge, beschreibt die Literaturwissenschaftlerin N. Katherine Hayles:

We are made to understand that when the Refus come ashore, the scenario will be akin to Attila's ravaging hordes descending on Rome, overrunning the gated communities into which the white citizens have retreated (...). More than a tinge of racism colors this scenario for it equates Third World people with automata.

Auch die Japaner in "Cryptonomicon" erscheinen wie programmierte Automaten, die amerikanischen Figuren hingegen sind selbstreflexiver und haben eingebaute Feedback-Loops, die ihnen erlauben, auch in komplexen Situationen flexibel zu agieren. Goto Dengos Abenteuer auf Neu-Guinea, seine ständigen Vereinzelungserfahrungen, erscheinen vor diesem Hintergrund als eine Art Deprogrammierung. Das ist nicht ein Hauch, sondern eine große Packung Rassismus.

Solche Polarisierungen zwischen Kollektiv und Individuum, West und Ost, Mann und Frau werden in "Die Enden der Parabel" immer wieder dekonstruiert. Pynchon führt literarisch das Verschwinden von Grenzen und Differenzen vor, in der Zone sind alle in ihrer Orientierungslosigkeit gleich. Was sich jedoch aus der anfänglichen Orientierungslosigkeit von "Cryptonomicon" heraus entwickelt, ist die Fortführung einer geraden Bewegung: "Westward the course of the empire takes its way". Doch statt jenseits der Rocky Mountains befindet sich die Frontier, an der Laptop-Cowboys die frohe Botschaft von Individualismus und Kapitalismus verkünden, jetzt überall. Dank des globalen Kapitalismus haben sich die Möglichkeiten für risikobereite Enterpreneure vervielfacht, sei es im Cyberspace oder in "Dritte Welt Ländern" mit laxen Regulationen. Fresno ist überall. Eine angemessene literarische Bestandsaufnahme dieser komplexen Situation muss erst noch geschrieben werden.

Neal Stephenson: "Cryptonomicon", Avon Books, 918 Seiten, 27,50 Dollar