The Party is Over

Vom selbstregierenden Internet zum regierten Cyberspace

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Populäre Mythen über den Cyberspace folgen diesem Schema: Das Netz der Netze regiert sich selbst - ipso facto können Regierungen das Internet nicht kontrollieren. Und überhaupt hat der Staat grosso modo im Cyberspace nichts verloren. Die zwanghafte Schlussfolgerung: Niemand kann das Internet steuern. Also beschwören Cyberlibertarians, Netzphilosophen, Internetpolitiker und Apologeten des Informationszeitalters gleichermaßen den Untergang des Nationalstaates, oder zumindest die Steuerungsunfähigkeit einzelner Staaten, wenn es um das Internet geht.

Was davon ist wahr? Ist die Steuerungsunfähigkeit des Staates nur Internet-ideologisch proklamiert, oder entzieht sich das Netz wirklich allen Steuerungsmedien die dem Staate zur Verfügung stehen? Ist die Technik des Netzes, die immerhin einem Atomschlag standhalten soll, resistent gegen jegliche Einflussversuche? Und vor allem: Was heißt eigentlich "Selbstregieren"? Bestimmen also die Nutzer des Netzes, wie man in diesem kommuniziert, sich bewegt (surft) oder einkauft - is your clickstream your vote?

Auffallend ist erstens, dass sich die Fragen und Ansichten der Wissenschaftler über das Netz verändert haben; zweitens, dass sich die Aussagen der Cybergurus, und drittens, die Politikstrategien der Regierungen sowie die Gestalt des Netzes in den nicht ganz zehn Jahren seit Entwicklung des World Wide Web fundamental verschoben haben. Um zu verstehen, was nun Hype und am Rummel, Gezeter und Getöse um das vorgeblich anarchische Netz real ist, unternehmen wir eine kurze tour dŽhorizon durch den wortreichen, und im Gerede um das Netz, einflussreichen Internetzitatenschatz.1

In den Anfangsjahren des World Wide Web ist das vielleicht treffendste Zitat entstanden, das zugleich auch zum Motto der Internet Community mutierte. 1992 hat David Clark bei einem Treffen der Internet Society, die gewissermaßen die Herrschaftselite des Netzes darstellt, proklamiert: "We reject kings, presidents and voting. We believe in rough consensus and running code." Hier hätten wir also den Grundstein des ersten und des zweiten Mythos - das Netz regiert sich selbst und will auch keine Regierungsintervention -, den John Perry Barlow, einer der Gründer der Electronic Frontier Foundation 1993 nicht nur bestärkte, sondern auch gleich veränderte. Er behauptet: "We have no elected government, nor are we likely to have one."

Dieses Zitat geistert seitdem durch die Internetwelt. Wo kommt diese Aussage her? Ist das nun die Behauptung eines Cyberlibertarians, der typisches amerikanisches anti-big-government-Gehabe an den digitalen Tag legt? Warum ist es so unwahrscheinlich, dass der Cyberspace eine Regierung bekommt? Hatten die Kulturnachfolger Barlows recht, die wie John Gilmore von der EFF, einem Stille-Post-Effekt gleich, in den Jahren danach propagierten: "The Net interprets censorship as damage and routes around it." Haben Sie also die Technik des Netzes richtig verstanden, die keine Kontrolle - Mythos drei - zulässt?

Immerhin gehörten 1995 diese Ansichten schon zum allgemeinen Internetverständnis. Im US-amerikanischen News Radio verstand man die Regulierungsfeindlichkeit des Netzes so: "You can't take something off the Internet - it's like taking pee out of a pool." Wie die Jahre nun vergingen, und das Netz zum "wichtigsten Informationsmedium" wurde, trat auf einmal die traditionelle, eigentlich technikdeterministisch zum alten Schuh verkommene Garde der "good old boys" aus der Politik auf die virtuelle Weltbühne: Ira Magaziner, gescheiterter Gesundheitspolitiker und Internetberater der Clinton Administration, verkündete 1997 in seinem Framework on Electronic Commerce: "The private sector should lead. Governments should avoid undue restrictions on electronic commerce."

War das nun ein Lippenbekenntnis nach dem Motto: Wenn wir schon nichts machen (intervenieren, sanktionieren, kontrollieren) können, müssen wir wenigstens sagen, wie wir uns das Netz vorstellen? Wie auch immer, der Staat scheint dazuzulernen: 1998 gründete die US-Regierung die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN)), die unter anderem das Domain Name System (DNS) reorganisieren und überwachen soll. Auf einmal veränderte sich die Rhetorik über das Netz.

Esther Dyson, Interimsdirektorin der ICANN und bekannte Netzfrau, verkündete immer wieder: "We are no government for the Internet." Andere sehen das nicht so. Der Jurist David Post, der die digitale ICANN-Überwachungsorganisation ICANN-Watch gegründet hat, behauptet: "After all the talk over the past few years about how difficult it will be to regulate conduct on the Internet, the domain name system looks like the Holy Grail."2 Und Larry Lessig von der Harvard University hat es schon immer besser gewusst: "There's a common belief that cyberspace cannot be regulated - that it is in ist very essence, immune from the government's control. That's an idea that I never quite got."3

Ist die Verwirrung schon groß genug? ICANN geht sogar noch ein Stück weiter, denn für die globale "Internetregierung" wird es weltweite Wahlen geben. Auf der Internetseite von ICANN ist zu lesen: "The ICANN At Large elections will represent the first time in which every interested member of the global Internet community will have the opportunity to participate in the online election of Internet policymakers."

Und die Markle Foundation, welche mit einer Million US $ die Durchführung der Online Wahlen unterstützt, verkündet: "Global institutions are beginning to oversee Internet activities. (...( It is essential that ICANN which is establishing rules that impact individuals and organizations alike - be accountable to all Internet users everywhere." Common Cause wirbt für die globale Internetwahl mit dem Spruch: "Global Elections on the Internet, for the Internet." Mit Mythos eins und zwei ist es dann wohl aus und vorbei. "We reject kings, presidents and voting", und: "We have no elected government" werden damit wohl ins digitale Nirvana wandern.

Was stimmt denn nun? Ist das ein bloßer Paradigmen- und Perspektivenwechsel? Hat sich das Netz verändert? Hat sich die Politik verändert, oder hat sie etwa dazu gelernt? Vielleicht ist der Pessimismus hinsichtlich der staatlichen Handlungsfähigkeit möglicherweise deshalb so populär, weil die These sehr simpel und einleuchtend scheint und bisher kaum empirisch überprüft wurde. Um diese Fragen zu klären und mit ein paar populären Irrtümern aufzuräumen, werde ich zunächst ein wenig über die Geschichte des Netzes aus Perspektive der Technikentwicklung erzählen. Sodann werde ich über Möglichkeiten der Steuerung im Netz berichten. Schließlich werde ich die Rolle des Staates dabei analysieren, um dann zu fragen, ob sich anhand der ICANN zeigen lässt, dass das Netz nicht nur Motor und Metapher der Globalisierung ist, sondern vielleicht eine vielversprechende, demokratische Form globalen Regierens ermöglicht? Denn manchmal liegt die Wahrheit nicht in der Mitte, sondern ganz woanders.

Erstens: Eine kurze Geschichte des Netzes

Das Internet ist in wenigen Jahren vom US-amerikanischen Forschungsnetz zum globalen Netz der Netze geworden. Um so überraschender ist, dass sein rasantes Wachstum von keiner Zentrale koordiniert wurde. Weder gab es eine Regierung noch eine andere zentrale Organisation, welche die Technik des grenzenlosen Netzes gesteuert hätte. Wie konnte es also mit so atemberaubender Geschwindigkeit zum wichtigsten Kommunikationsmedium der Informationsgesellschaft werden?

Entscheidende Punkte sind in diesem Zusammenhang wohl die geringen Transaktionskosten von Kommunikation, Koordination und Konsultation im Netz, die nun mal aus der weitgehenden Abwesenheit zentraler Steuerung, universaler Konnektivität und Interaktivität des globalen Cyberspace resultieren. Hier liegt einer der Knackpunkte. Abwesenheit zentraler Steuerung bedeutet, dass es niemanden gibt, der vorschreibt, wie der Cyberspace auszusehen habe. Es gibt demnach keine virtuelle Planungsbehörde, die einen Bebauungsplan aufstellt, der vorgibt, wie der virtuelle Raum besiedelt werden soll. Oder doch? Funktioniert das Netz ohne jegliche übergeordnete Koordination?

Fakt ist: Das Netz ist als Kommunikationsmedium von der US-Regierung entwickelt worden und hat lange Zeit unter der Aufsicht des US-Verteidigungsministeriums gestanden. Wie ist dann aber der Mythos des selbstregierten Internets entstanden? Erstens, weil man das Internet in der Tat als selbstregulierendes oder selbstorganisierendes Netzwerk verstehen kann; und weil niemand jemals bestimmt hat, welche Gestalt das Internet annehmen oder wie es operieren wird. Es gab keine Organisation, die genügend Macht oder die Autorität gehabt hätte, Regeln aufzustellen, die die Existenz des Netzes ermöglichen. Und trotzdem existiert und funktioniert dieses globale Computernetzwerk und gestattet, Emails rund um den Globus zu schicken.

Zweitens, weil die technische Operationalität des Netzes, um weltweite Kommunikation zu koordinieren, im wesentlichen von technischen Standardisierungsgruppierungen wie der Internet Engineering Task-Force (IETF), der Internet Assigned Numbers Authority (IANA), oder dem W3c sicher gestellt worden ist. Diese sind und waren verantwortlich für das technische Management und den Internet-Standardisierungsprozess, um das Internet am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Das Internet Architecture Board ist z. B. zuständig, um die Gesamtarchitektur des Netzes zu überschauen. Die genannten Organisationen übernehmen unterschiedliche Aufgaben, die alle dem Ziel und Ideal technischer Funktionalität folgen. Doch im Unterschied zu traditionellen Regierungen und Standardisierungsgremien setzen diese offene Standards, denen freiwillig gefolgt wird. Reputation der Organisation aufgrund der technischen Expertise ihrer Mitglieder und Transparenz der Entscheidungsvorgänge sind die hervorragenden Bestimmungsfaktoren ihrer Legitimation. Niemand wird Standards oder Regeln der IETF befolgen, wenn er nicht den Nutzen erkennt und der Organisation vertraut. Im Unterschied zu traditionellem Regierungshandeln, muss die Macht erfolgreicher Internetorganisationen aus ihrer Fähigkeit Konsens herzustellen resultieren, da ihnen jegliches Sanktionsmittel fehlt, ihre Entscheidungen durchzusetzen.

Hier wurde also in der Tat durch "Rough Consensus" regiert. Standards sind also weitgehend im Netz selbst entstanden. Der Anstoß zur Entwicklung des Netzes, wie seiner Technologie, sind aber von der US-Regierung ausgegangen. Die tradierte Verwaltung des Netzes ist also nicht bewusst geplant worden. Sie ist aus dem Netz selbst entstanden. Die IANA und auch die IETF sind informelle Organisationen ohne rechtlichen Status. Die IANA war bis 1993 die zentrale Autorität des Internet, da sie alle vitalen Ressourcen des Netzes verwaltete. Darunter die Namens- und Adressräume, den zentralen Root-Server und die Publikation der Internet-Standards. Im wesentlichen wurde diese Organisation von einem Mann geleitet: Jon Postel, quasi der Gottvater der Internet-Standards. Er personifizierte den Typus des ehrlichen, aber autokratischen Computerfachmanns, der von der University of Southern California aus, weltweit gültige Standards für das Internet implementierte

Doch geschah auch dies nicht ohne finanzielle Unterstützung des Staates. Die National Science Foundation unterstützte die IANA. Das Internet koordinierte sich also selbst, ohne die aktive Einmischung der Politik oder die Steuerung durch eine zentrale Instanz. Was lernen wir daraus: Das Netz ist teilweise ein auto-evolutionäres System. Die US-Regierung spielte vor allem die Rolle des "Sugar-Daddy", der Geld gibt und so technische Entwicklungen ermöglicht. Mittels staatlicher Förderung ist die Technologie erst entstanden. Auf einer rein technischen Ebene ist das Internet in einer Form regiert worden, die man als Anarchie ohne Chaos bezeichnen könnte. Offenheit und Transparenz sind hervorragende Eigenschaften, die auch Geheimnis seines Erfolges sind. Nur ist wichtig zu verstehen, dass diese Art der Selbstorganisation in einem von Akademikern und Technikern bestimmten Raum entstanden ist. Diese haben sich bewusst für eine Steuerungs-Philosophie des "Rough Consensus" entschieden. Die Organisationsstruktur des Netzes ist also bewusst gewählt worden. Was bedeutet, dass diese nicht technisch bestimmt ist, sondern das man zwischen verschiedenen Organisationsstrukturen wählen kann.

Netzwerke lassen sich unterschiedlich regieren: top-down oder bottom-up. Hinzu kommt: das Netz hat sich verändert. Es ist größer, grotesker und gieriger geworden. Hunderttausende von Internetnamen sind bereits vergeben und kosten auch sprichwörtlich "Hunderttausende von Mark". Deshalb ist auch zu erwarten, dass die technische Organisationsstruktur verändert wird, ob die Internet-Community das will oder nicht. Die Frage ist nur: Wer wird das Netz verändern? Welche Werte werden dabei eine Rolle spielen? Sind es die Yahoos und Microsofts der globalen Cyberwelt, die den Cyberspace zum Profitcenter umbauen, oder haben die "lame ducks" - die Regierungen der lokalen Gutenberggalaxis - noch ein Wörtchen mitzureden? Oder kann am Ende sogar der Netizen mitbestimmen, wie sein Cyberspace aussehen soll? Wir sollten im Kopf behalten: Architecture is Politics - gerade im Cyberspace.

Zweitens: Die Möglichkeiten von Steuerung im Netz

Problem effektiver und effizienter Steuerung im Cyberspace ist, dass sich im Gegensatz zum territorial definierten Nationalstaat, die Zugehörigkeit zum digitalen Raum nicht geographisch bestimmt. Weder gibt es eine eingrenzbare Staatsbürgerschaft, noch verfügt das Internet traditionell über eine der Figur des souveränen Staates vergleichbare Sanktionsmacht, die Regeln und Entscheidungen netzweit Geltung verschaffen könnte.

Somit sind Territorialität, Souveränität, Legitimität und Effektivität, die vier elementaren Bedingungen traditionellen Regierens, im grenzenlosen Cyberspace praktisch verschwunden, wie David Post4 treffend beschreibt: "Cyberspace does not merely weaken geographical boundaries, it obliterates them entirely (at least in cyberspace), because geographical location itself is both indeterminate and irrelevant for transactions on the Internet. (...) and the physical location of the constituency is unknown."

Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum Staat sich das Internet mit einem Minimum an Kontrollmechanismen begnügt, die allesamt technischer Natur sind. Die Kontrollmechanismen des Netzes resultieren aus seiner technischen Architektur. Unter der Architektur des Internet werden seine Ordnungsprinzipien verstanden, genauer: jene Regeln, die die Form und topologische Position all der Operationen bestimmen, die zusammen den Datenfluss bewerkstelligen. Wie die Baukunst unterliegt auch die Netzarchitektur nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Gestaltung. Diese Gestaltungsspielräume wiederum bilden die Voraussetzung dafür, dass sich unterschiedliche "Netzdesigns" mitsamt ihren Gegenströmungen herausbilden, kurz: dass die "richtige" Architektur eines Netzes zum Politikum werden kann. Wer also die technische Struktur des Netzes bestimmt, kann auch entscheidenden Einfluss auf die in ihm geltenden nicht-technischen Normen und Standards nehmen.5

Somit kommen wir wieder zum weitverbreiteten Mythos, dass der Cyberspace nicht reguliert werden kann, weil seine Grundstruktur immun gegen jedwede Kontrolle sei, und vor allem natürlich gegen Regierungsintervention. Lawrence Lessig argumentiert jedoch überzeugend dagegen: Denn der Cyberspace besteht aus Code, die den Cyberspace zu dem macht, was er ist. Und diesen kann man natürlich verändern. Er erläutert den Umbau der Internet-Architektur im Kontext klassischer Regulationstheorien, die im wesentlichen drei unterschiedliche Regulierungsmedien kennen: Gesetze, den Markt und soziale Normen. Lessig sieht im Internet einen vierten, sehr effizienten Regulator: die Architektur des Cyberspace, die bestimmtes Verhalten ermöglicht oder andere Arten von Interaktionen einschränkt. Doch sieht gerade in diesem Zusammenhang, die Möglichkeit des Staates traditionelle Steuerungsmedien, wie Gesetze dazu zu benutzen, soziale Normen zu ändern, Marktverhalten zu beeinflussen und so die Architektur des Netzes zu verändern. Regierungen oder andere Akteure können also Schritte unternehmen, den Cyberspace in einen regulierbaren Raum umzubauen. Sicherlich erschwert das Internet in seiner gegenwärtigen Form traditionelle Regulierungskonzepte des Nationalstaates, doch zeigt sich, dass das Netz keineswegs resistent ist gegen Regulierung, und die Aussage, dass das "the Net interprets censorship as damage and routes around it" doch eher normativ zu verstehen ist und nicht notwendigerweise der Realität entspricht.

Lessig kann überzeugend belegen das der "build-in-freedom" des Cyberspace verschwindet, dass sich das Netz der Netze von einer relativ freien Welt zu einer Welt verwandelt, die relativ perfekt kontrolliert wird. Pessimistisch fügt er hinzu: "Perfekter als die reale!" Als Gefahr erkennt er, das diese Art von Regulation nicht von demokratisch legitimierten Regierungen ausgeht - sondern de facto vor allem von Wirtschaftsunternehmen vorangetrieben wird.

Die Frage ist mithin nicht, ob das Netz regulierbar ist, sondern wie und welche Rolle dabei der Staat, der Bürger und die Wirtschaft spielt?

Drittens: Was macht der Staat im Cyberspace?

Im Januar 1998 hat die US-Regierung in einer unter Green Paper bekannt gewordenen Policy-Direktive vorgeschlagen, dass es seinen Einfluss auf das Netz aufgibt, den es, wie gezeigt, in finanzieller sehr wohl gegeben hat. Statt dessen soll es sich selbst regulieren und nur den Kräften des Marktes gehorchen. Hier wird deutlich, dass die vollkommene Abwesenheit staatlichen Einflusses im Netz immer schon mehr Mythos als Wahrheit war. Das Geld Einfluss hat, muss man wohl nicht diskutieren.

Aufgrund ihrer entscheidenden Machtposition beschloss die US-Regierung, dass die Internet-Community keine eigene "Self-Governance-Organisation" schaffen sollte. Die US-Regierung rief deshalb die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers ins Leben. Die ICANN wurde 1998 als Non-Profit Organisation gegründet. Als weltweit operierende Organisation soll sie ab September 2000 das DNS-System (Namensvergabe-System) im Internet koordinieren, die Vergabe der IP-Adressen neu regeln, neue Standards für Internet Protokolle entwickeln und das Root-Server System im Netz organisieren.

Diese Regierungsstruktur ist im Privaten entstanden, ohne öffentliche Partizipation oder Zustimmung und ohne rechtliche Grundlagen. Der Entscheidungsprozess ist nicht einmal für die Öffentlichkeit nachvollziehbar, da es nur vereinzelt öffentlich zugängliche Transkripte des beschriebenen Policy-Prozesses gibt. Aufgrund des rasanten Wachstums des Mediums (primär: Anzahl der Benutzer) und der damit einhergehenden Steigerung der kommerziellen Bedeutung und geographischen Verbreitung der Nutzung sah sich die US-Regierung ihre Legitimation in Gefahr, allein die wichtigste Netzressource "Namen" im weltweiten Netz zu regulieren.

Weiterhin scheint sich die neo-liberale Ansicht durchgesetzt zu haben, dass eine Regierung das Internet nicht direkt steuern darf, da der traditionelle Politikformulierungsprozess zu langsam auf die rasanten Veränderungen der Internetwelt reagiert und mit zu hohen (Entscheidungs-) Kosten verbunden wäre. Weder in ökonomischer, politischer noch in sozialer Hinsicht erscheint es der US-Regierung sinnvoll, das Netz direkt zu regulieren. So ist es unter anderem im Framework For Electronic Commerce der Clinton Administration zu lesen, in dem das Internet als globale Freihandelszone propagiert wird. Doch wird ein neuer Weg beschritten. Weder reguliert das Netz sich selbst, ohne die Teilnahme nationaler oder kommerzieller Interessen, noch verbietet seine technische Struktur effektive Regulierung. Vielmehr scheint das Netz zu einer neuen Plattform für Global Governance zu werden, in der multiple politische Akteure auftreten, und der unternehmerisch handelnde Staat (USA) Vorteile gegenüber dem paternalistischen (Europa) hat.

Deshalb gibt es auch im Netz kein wie von vielen Politologen behauptet "Governance without Government", sondern eher "Governments in the shadow of Self-Governance". Der Staat ist Initiator von Selbstregulierungsinstitutionen, die nach neoliberalen Gusto besser regieren als der Staat. Typisch für diesen Prozess ist, dass der Staat seine Autonomie nicht einfach verliert, sondern als selbstlernender Organismus veränderten Gegebenheiten mit neuen Antworten gegenübersteht. Nicht den Verlust der Souveränität eines Nationalstaates, die immer wieder als prekäre und nahezu unabdingbare Folge der Globalisierung und des Internets konstatiert wurde, kann man am Beispiel der Entwicklung der ICANN zeigen. Vielmehr tritt der Staat als Initiator bestimmter Politiken auf, und hat im Folgenden die Rolle eines Mediators zwischen den partikularen Interessen der Internet-Community, Computerindustrie und traditionellen internationalen Organisationen wie der WIPO oder der ITU übernommen.

Doch wäre es falsch hieraus abzuleiten, dass der amerikanische Staat seine Kontrolle über das Internet aufgegeben habe. Er existiert und agiert im Schatten der Internetpolitik. Vorrangiges Ziel ist ökonomische Effizienz, der steuernden Organisation, des Steuerungsvorganges sowie des ungehinderten "global growth of the Internet" (White Paper). Durch seine Rolle als Initiator genießt der amerikanische Staat in diesem Bereich eine natürliche Hegemonie, die ihm wegen seiner Machtposition in der Internetökonomie größtmögliche Handlungsfreiheit gewährt.

Die US-Regierung hat auf höchster Ebene die Entstehung der ICANN vorangetrieben. Im amerikanischen Wirtschafts- und Justizministerium sowie im amerikanischen Kongress verfolgt man aufmerksam, wie ICANN zu einer erfolgreich US-amerikanische Interessen vertretenden, global agierenden Organisation wird. Zwar betont die Politikerelite Washingtons immer wieder: "Wir nehmen keinen Einfluß auf ICANN." Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. ICANN ist als Non-Profit Organisation mit Sitz in Kalifornien eingetragen, sie unterliegt somit kalifornischem Recht, und seine Chefin Esther Dyson, Netzguru, erfolgreiche Unternehmerin und Autorin, ist Mitglied des Export Council Subcommittee on Encryption des amerikanischen Präsidenten, und daher alles andere als regierungsfern.

Auch verlässt sich der Staat in den USA nicht allein auf seine Initiativrolle, er räumt das Politikfeld nicht wie propagiert, sondern bleibt machtvoller Begleiter der Internetpolitik. Als Antwort auf den angeblichen Steuerungsverlust des Nationalstaates im globalen und dezentralen Internet scheint sich dort ein neuer, der Natur des Netzes entsprechender Politikstil etabliert zu haben: Der Staat tritt von seinem unmittelbaren Zugriff auf das Internet zurück, initiiert eine Organisation, die eine Selbstregierung für das Internet sein soll, und nutzt seine Kompetenzen und Verbindungen, um diese zu stützen. Er hat damit aber keineswegs seine Kontrolle über den Cyberspace und seine "nichtregierende" Selbstregierung eingebüßt. Vielmehr verbleibt der Staat wachsam im Schatten der neuen Politik. Dass Onkel Sam immer noch über die seiner Meinung nach richtige Politik für das Internet wacht, wurde Ende Juli 1999 offenbar. Die Chefin von ICANN, Esther Dyson, wurde zu einer Anhörung vor den amerikanischen Kongress geladen, die unter dem Titel stattfand: "Ist ICANN außer Kontrolle?" Dass die USA keineswegs ihre Dominanz im IT-Sektor einbüßen wollen, wird klar, wenn man das White Paper für Internet Domain Name Management liest, das unter der Federführung Ira Magaziners entstanden ist (DOC 1998). In diesem Text sind genau die Regeln festgelegt, nach denen ICANN die Kontrolle und Organisation der Internet-Infrastruktur übernehmen soll. Und wenn ICANN diese Regeln nicht befolgt, wird es eben zu einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress geladen.

Verständlicher wird diese Politik, die Huntington treffend "unilateralen Globalismus" nennt, wenn man weiß, dass führende Vertreter der politischen Vordenker der USA, wie der ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Joseph Nye und Chef der Kennedy School an der Harvard University, die Überlegenheit im Informationssektor als wichtigste Machtressource für das kommende Jahrtausend ansehen. In einem Artikel in Foreign Affairs fordert er deshalb die US-Regierung auf, diese Überlegenheit zu verteidigen. Somit wird die Frage nach der Dominanz über das Internet zur weltpolitischen: Wer das Netz dominiert, wird die Supermacht des nächsten Jahrtausends sein.

David Rothkopf, ehemaliges Mitglied der Clinton Regierung, wird in einem Aufsatz in Foreign Policy noch eindeutiger: "Ein zentrales außenpolitisches Ziel der USA im Informationszeitalter muss es sein, den Kampf um die weltweiten Informationsströme zu gewinnen, indem sie die Frequenzen ebenso beherrschen wie seinerzeit Großbritannien die Meere." Interessanterweise bewahrheitet sich hier wieder ein altes Sprichwort: Deutschland hinkt den USA immer einige Jahre hinterher, aber wenn die Deutschen was machen, dann richtig. Letztes Jahr schien ICANN weder die Herzen der Politikwissenschaftler zu beflügeln, noch regte sich Interesse bei Politikern und Publizisten. Jetzt wird in keinem anderen Land der Welt mehr über ICANN berichtet, und selbst ein Staatsminister für Kultur und Medien, hat was dazu zu sagen.

The Party is Over: Das regierte Netz als Versuchslabor für demokratische Formen von Global Governance?

Um ICANN für diese Aufgabe zu legitimieren, wird es für ihr Direktorium dieses Jahr weltweite Online-Wahlen geben. ICANN soll das globale Internet nach quasi-demokratischen Normen regulieren. Stichwort hier ist "regulieren". Ja, ICANN soll regulieren, kontrollieren, koordinieren, ratifizieren, formalisieren, und in bester amerikanischer Tradition managen. Und, nein, ICANN soll in keinem Fall regieren. Das Netz kann man nicht regieren, und wenn doch, dann in keinem Fall ICANN, und überhaupt, wer regiert denn im Internetzeitalter schon noch? Hier wird gemanagt.

Wie auch immer, wie stark der Einfluss der ICANN auf das Netz und letztlich auf die mit ihm und ihm lebenden Menschen sein wird, ist schwer abzusehen. Sicher jedoch ist: The Party is over. Mit der Herrschaft der Techniker ist es vorbei, die via "rough consensus" entscheiden. Zwar ist es mit er Herrschaft der Techniker zwar vorbei, und das Internet in der Realität angekommen, doch versuchen sich auch die Regierungen an das Netz anzupassen und neue Politikformen zu entwickeln.

Gerade deswegen ist ICANN ein faszinierendes Experiment. Eine Global-Governance-Organisation, die weltweites Regieren mit neuen Mitteln versucht, dazu noch demokratischen. Sie ist der erste Versuch ein das globalePolitikfeld Internet mittels der Einbeziehung aller, nicht nur Beteiligten sondern auch Betroffenen, zu steuern, um so der Topologie des globalen und offenen Regelungsraumes gerecht zu werden.

Im Geiste typisch amerikanischen Pragmatismus hat das US-Wirtschaftsministerium ICANN deshalb verpflichtet, weltweite Wahlen im Internet zu veranstalten. Die offenen Fragen sind also: Wie kann eine Internet-Demokratie aussehen? Wie viel Demokratie verträgt ein globales Politikfeld?

Klar ist bisher, es wird eine direkte Wahl stattfinden. Doch hat ICANN bisher keine Anstalten gemacht, die potentiellen Netizens zu vernetzen. Es gibt keine Online-Foren die den At-Large-Mitgliedern der ICANN, die Möglichkeit geben zu deliberieren, und so von der heterogenen, anonymen Nutzer-Masse zum Cyberdemos zu avancieren. Sinnvoll erscheint was James S. Fishkin in einer Studie Representation in Cyberspace im Auftrag von ICANN vorgeschlagen hatte. "Deliberative Polling" als Entscheidungsmodell der ICANN-Mitgliedschaft zu verwenden. Seiner Meinung nach bietet dieses Modell die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen a) dem Direktorium der ICANN, b) seinen Mitgliedern, und c) dem relevanten Volk herzustellen. Als relevantes Volk definiert er "the world community of internet users". Gleichzeitig schaffe es eine Balance, zwischen den Zielen - openess, representation and participation - und den Gefahren, die im grenzenlosen Cyberspace schwerwiegender sind wie bei geographisch fixierten Wahlen - fraud, capture, Balkanization, entrenchment, gridlock and irrelevance - herzustellen.

"Deliberative Polling" bedeutet nach Fishkin, ein zufällig ausgewähltes statistisch repräsentatives Sample aus Internetnutzern über anstehende Entscheidungen der ICANN zu informieren und ihnen die technischen Vorraussetzungen zum "Deliberieren" zu geben. Vorstellbar sind virtuelle Wahlsalons, in denen sich die Internetbürger an "bulletin-boards" ausgewähltes Informationsmaterial ansehen, die diese dann mit ihren Mitbürgern diskutieren oder auch Experten ihrer Wahl anhören könnten Fishkin betont, dass mit diesem Modell besser informierte Entscheidungen im Gegensatz zu einfachen Wahlen produziert wird. Das grundsätzliche Problem einer virtuellen Wahl aber, die schließlich Kandidaten nominieren und wählen sollte, kann auch er nicht lösen.

Darüber hinaus stehen noch andere Hürden auf dem Weg zur erfolgreichen Online-Wahl: Es ist noch nicht geklärt, welche Rechte die Mitglieder von ICANN haben werden, ob sie nun ein rein passives Wahlrecht haben oder ein aktives. Demokratie lebt nicht nur vom Mitmachen, sondern erst einmal von der Möglichkeit, mitmachen zu dürfen. Je nach dem, wie viel Macht ICANN den Onlinebürgern zugesteht, wird dies auch die Form der Partizipation beeinflussen. In den Sozialwissenschaften wird dieses Verhalten "rationale Ignoranz" genannt. Warum sollte ich mich über irgendein komplexes, technisches Thema informieren, darüber reflektieren, wählen oder politisch aktiv werden, wenn ich nicht das Gefühl habe, politisch-relevanten Einfluss auszuüben? ICANN muss also dem potentiellen Onlinebürger die Möglichkeit geben, ICANN beeinflussen zu können. Doch fürchtet ICANN den populistischen Mechanismus, der jede demokratische Wahl gefährdet. Vermutlich wird die Wahl ICANN politisieren, und nicht-technische Fragen auf die Agenda bringen, da diese leichter kommunizierbar sind.

Wie auch immer die ICANN-Wahlen ausgehen werden, die ersten Wahlen für das Internet markieren einen historischen Umbruch: Die Party der Techniker ist tatsächlich vorbei, es wird sich zeigen, ob die Party der Netizen nun beginnt - oder die der Amazons und Microsofts. Und so sind wir vom Mythos "we have no elected government" zu "global elections on the Internet" angelangt. Die Zukunft wird zeigen, ob ICANN selbst zur Internetregierung oder zum Modell zukünftiger Regulierungsorganisationen wird. Vielleicht wird die Internet Corporation for Anonymity and Privacy (ICAP) oder die Internet Corporation for Content Control (IC3) folgen?