zurück zum Artikel

The West is the Best

Bild: Tvabutzku1234/CC0 1.0

Die Weltordnung, für die die deutschen Eliten sich entschieden haben

Betrachtet man die Gleichförmigkeit, mit der heute die Auslandsberichterstattung in den deutschen Medien betrieben wird, so gewinnt man den Eindruck, dass die deutschen Eliten fest entschlossen sind, eine bestimmte außenpolitische Grundsatzentscheidung durchzusetzen. Es geht um eine zweite Westorientierung nicht nur Deutschlands, sondern der EU als Ganzes.

TTIP soll dazu dienen, die USA und die EU nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch und kulturell eng zu verkoppeln. Russland wird hierzu als Feind im Osten aufgebaut und damit quasi die Rolle eines abstoßenden Magneten zugeschrieben. Die "neue alte Gefahr aus dem Osten" soll die deutschen Eliten vom Segen der geplanten transatlantischen Fusion überzeugen.

Doch haben die deutschen Eliten sich wirklich ein zweites Mal für die USA entschieden? Und wenn ja, um was für eine Wahl handelt es sich dabei eigentlich? Daran schließt sich die Frage an, warum die deutschen Eliten mehrheitlich diese Entscheidung getroffen haben? Da Westdeutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eng mit den Vereinigten Staaten verbunden ist, kann es bei dieser Entscheidung für die USA eigentlich kaum um einen Ausbau von Kooperation, Handel und kulturellem Austausch gegangen sein. All dies ist seit Langem gewährleistet.

Amerikanische Weltordnung

Tatsächlich geht es bei den TTIP-Verhandlungen um weit mehr. Die Verhandlungen über das TTIP-Abkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) sowie auch über das pazifische Schwesterabkommen TPP (Trans-Pacific Partnership) wurden von den USA initiiert, weil der Globalisierungsprozess im Rahmen der WTO ins Stocken geraten war.

In den vergangenen zehn Jahren begannen aufsteigende Großmächte wie Indien, China, Russland und Brasilien im Verbund mit vielen kleineren Staaten, immer deutlicher ihre Interessen als Schwellenländer zur Geltung zu bringen. Damit wurde es für den Westen zunehmend schwieriger, die handelspolitische Open Door Policy durchzusetzen, als deren Vehikel die WTO dienen sollte. Durch den Widerstand der Schwellenländer wurde der eigentliche Zweck, den die Globalisierung für die USA hat, nämlich die nationale Souveränität anderer Länder zu schwächen und sie in die eigene Einflusszone einzugliedern, immer schwerer durchsetzbar.

Schließlich schlossen sich Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sogar noch zu einem lockeren Staatenbund zusammen, nämlich den BRICS-Staaten, um ihre Interessen gegenüber den westlichen Ländern gemeinsam besser vertreten zu können. Sie taten dies in der Hoffnung, dass die USA angesichts dieser Schwierigkeiten irgendwann zu einer Überarbeitung des "Washington Consensus" bereit wären, der bislang den Rahmen festgelegt hatte, unter dem die Globalisierung stattfand.

Den Schwellenländern ging es dabei darum, eine Reform des IWF und der Weltbank durchzusetzen. Die neoimperialen Aspekte, die von Anfang an mit dem Neoliberalismus als dominanter Wirtschaftstheorie verbunden gewesen sind, sollten abgeschwächt und der Übergang zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung eingeleitet werden.

Doch durch die Initiierung des TTIP- sowie des TPP-Abkommens hat Washington deutlich gemacht, dass es nicht zu einem Kompromiss bereit ist. Stattdessen versucht man den Prozess nun so zu organisieren, dass die aufsteigenden Großmächte und die von ihnen gegründeten internationalen Organisationen wie etwa die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) oder die SCO (Shanghai Cooperation Organization) einfach von dem Prozess ausgeschlossen werden.

Würden sowohl das TTIP- als auch das TPP-Abkommen ratifiziert, so entstünde in der Tat eine globale Freihandelszone, die nicht nur Russland und China ausschlösse, sondern auch Indien und Brasilien sowie überhaupt alle Staaten, die sich in der vergangenen Dekade um eine Reform der bisherigen globalen Handelsbeziehungen bemüht haben. Bei diesem Vorgehen setzen die USA durchaus auf die offensichtliche Größe der von ihnen geschaffenen Freihandelszone. Man hofft, dass die geschaffene Handelsunion so maßgeblich sein wird, dass den aufsteigenden Großmächten unter den Schwellenländern langfristig nichts anderes übrig bleiben wird, als ebenfalls ein Beitrittsgesuch zu stellen. Ein solcher Beitritt würde dann allerdings unter den Bedingungen erfolgen, die bereits jetzt unter Federführung der USA in den beiden Abkommen festgelegt werden.

Mit anderen Worten: Die USA wollen mit TTIP und TPP an ihrem Anspruch, die Weltordnung des 21. Jahrhunderts im Alleingang festzulegen, unbedingt festhalten. Beide Abkommen dienen vor allem der Aufrechterhaltung einer von den USA ausgestalteten unipolaren Weltordnung. Was im Zuge der unter dem Dach der WTO stattfindenden Doha-Runden bisher nicht durchsetzbar war, soll nun ausschließlich mit jenen Staaten durchgesetzt werden, die dem US-amerikanischen Einflussbereich angehören. Die BRICS-Staaten, die aus Washingtons Sicht über zu viel nationale Souveränität verfügen, sollen den Prozess nicht länger stören können.

Risiko: eine Spaltung der Welt

Nun birgt das Vorgehen Washingtons allerdings das Risiko in sich, dass sich nun auch die aufsteigenden Großmächte unter den Schwellenländern ebenfalls auf der Basis von Bündnissen und Wirtschaftskooperationen zusammenschließen. Insbesondere China und Russland haben bereits mit dem Aufbau alternativer Handelsrouten auf dem eurasischen Kontinent begonnen. Aus diesem unter dem Namen neue Seidenstraße bekannt gewordenen Projekt könnte langfristig ein zweites ökonomisches Weltsystem oder sogar ein gemeinsames Verteidigungsbündnis hervorgehen. Denn schon geographisch böte sich dieses an, da neben Iran auch drei der BRICS-Staaten auf dem eurasischen Kontinent in relativer Nachbarschaft zueinander leben. Die Sicherheitsinteressen Russlands, Chinas und Irans überschneiden sich in vielerlei Hinsicht. Hinzu kommt die gemeinsame Erfahrung mit dem kolonialen oder auch neokolonialen Anspruch des Westens.

Dass die USA sich dennoch für diese Politik entschieden haben und dabei sogar eine erneute Spaltung der Welt als potenzielles Risiko in Kauf nehmen, ist mit wirtschaftlichen Argumenten allein schwer erklärbar. Dass sie dennoch so handeln, hat letztlich kulturelle und ideologische Gründe. Aufgrund des großen Einflusses des Calvinismus in den USA tendiert die Kultur des Landes sehr stark dazu, zwischen Erwählten und Nicht-Erwählten zu unterscheiden. Dies hat zu einer politischen Kultur geführt, die sehr stark dahin tendiert, die vermeintlich Guten den vermeintlich Bösen gegenüberzustellen.

Stets gab es in der Geschichte der USA ein "Anderes", einen Gegner, von dem man sich absetzte und durch den man seine Identität konstituierte. Auch die heutigen Eliten der USA folgen diesem Selbstverständnis und begreifen sich als "Sieger" im Kalten Krieg und daraus resultierend als "Inhaber" der Weltordnung. Doch ein "Sieger" ist nur der, der seine Wertvorstellungen und sein Zivilisationsmodell dem "Besiegten" als verbindlich auferlegen kann.

In den 26 Jahren, die seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen sind, haben die USA fast nichts unversucht gelassen, um sich ihres sogenannten "Sieges" zu versichern. Sie taten dieses, indem sie eine Weltordnung gestalteten, in der eine Vielzahl von Staaten "bestraft" wurden, die einst mit der Sowjetunion verbündet waren, wie z.B. Libyen, Syrien, Irak, Serbien etc. Indem die USA die NATO nach Osten ausdehnten und eine "Neuordnung" des Nahen Ostens durchsetzten, versuchten sie eine Welt zu schaffen, in der der Kapitalismus nie wieder in Frage gestellt werden könnte.

Mehr noch: Statt einfach nur eine Wirtschaftsphilosophie zu sein, sollten die kapitalistischen Prinzipien, die Regeln des Marktes, zum dominanten Konzept der Vergesellschaftung überhaupt werden. Der Markt als ein sich selbst regulierendes System sollte demnach nicht nur die Wirtschaftsprozesse regulieren, sondern auch die daran angrenzenden Bereiche der Zivilisation, nämlich die Kultur, Bildung, Religion und das gesamte soziale Leben nach seinem Modell ummodeln.

Diese dem Neoliberalismus innewohnende Idee, den Markt nicht nur zum Grundprinzip der Wirtschaft, sondern zum Grundprinzip der Vergesellschaftung an sich zu erklären, könnte der eigentliche Grund dafür sein, warum es zu keiner Einigung zwischen den aufstrebenden Schwellenländern und den USA gekommen ist. Viele Schwellenländer haben den Kapitalismus als ein Prinzip zur Organisation der Wirtschaft akzeptiert. Doch sie sind nicht bereit, seine Prinzipien auch auf die anderen Bereiche der Kultur zu übertragen und ihr kulturelles Eigenbewusstsein, ihre Nationalstaatlichkeit bis hin zu ihrer Tradition und Religion nach Maßgabe dieser Prinzipien umzugestalten.

Zudem sind viele Schwellenländer gerade erst dem kolonialen bzw. neokolonialen Status entkommen und genießen seit Kurzem die Erfahrung staatlicher Souveränität. Diese erneut an transnationale Organisationen abzugeben, erscheint ihnen unannehmbar. Doch da die USA sich nicht nur als "Sieger" im Kalten Krieg, sondern auch als der "Inhaber" der heutigen Weltordnung sehen, glauben sie, dass es ihr Recht sei, alleine über das Zivilisationsmodell des 21. Jahrhunderts zu entscheiden.

Welche Wahl hat Deutschland getroffen?

Indem die deutschen Eliten sich für die USA entschieden haben, partizipieren sie an einem Konflikt, der von den USA selbst geschaffen wurde. Dieser Konflikt resultiert aus dem falschen Selbstverständnis, dass die USA sich als "Sieger" des Kalten Krieges betrachten. Die deutschen Eliten unterstützen die Vereinigten Staaten dabei, eine im Kalten Krieg entstandene Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie allen anderen Ländern quasi durch Zwang aufzuerlegen.

Würde Deutschland als Führungsmacht der EU Washington seine Gefolgschaft verweigern, so wären die USA gezwungen, mit den BRICS-Staaten in einen offenen Dialog über das Zivilisationsmodell des 21. Jahrhundert einzutreten. Ein derart reflektierter Umgang mit den Grundfragen der menschlichen Zivilisation wäre vermutlich für alle von Vorteil. Sicherlich würde die rein liberale Lehre von der segensreichen Funktion des freien Marktes dabei ein paar Federn lassen müssen. Denn die Schwellenländer würden für eine mehr keynesianisch orientierte Wirtschaftsordnung votieren, die Nationalstaatlichkeit, Schutz der eigenen Kultur, gesellschaftliche Stabilität mit großen Infrastrukturprojekten verbindet. Dieses klingt allerdings nicht wie eine Katastrophe.

Dennoch haben sich die deutschen Eliten für die USA entschieden und so erst das riskante Vabanquespiel Washingtons möglich gemacht. Dabei zeigt bereits die Flüchtlingskrise, dass die Folgen dieser Politik vor allem Europa und kaum die USA betreffen. Im Falle eines Krieges der USA mit Russland wäre Europa sogar das Schlachtfeld. Doch dies führt uns direkt zu der zweiten Frage, die wir eingangs bereits stellten.

Warum haben die deutschen Eliten sich für die USA entschieden?

Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne sich auf den Zweiten Weltkrieg zu beziehen. Als Kriegsverlierer hatten Ost- wie Westdeutschland ihre Souveränität verloren und diese auch nach der Wiedervereinigung nicht wirklich zurückerlangt. Formal hat das wiedervereinigte Deutschland seine Souveränität zwar 1990 wieder erhalten. Doch faktisch ist diese immer noch beschnitten. Teils durch die Strukturen, die von den Alliierten nach 1945 geschaffen wurden und die auch nach 1990 noch fortbestanden, wie z.B. ein starker Einfluss der USA auf die deutsche Presse. Teils aber auch durch die allgemeine Schwächung der Staatlichkeit im Zuge der Globalisierung und der EU- und NATO- Osterweiterung.

Heute ist die Souveränität Deutschlands sogar in mancher Hinsicht noch schwächer entwickelt als in der Amtszeit Willy Brandts und Helmut Schmidts, die beide als Kanzler zumindest noch souverän genug waren, um eigenständige außenpolitische Initiativen anzustoßen. Gegenwärtig ist die Staatlichkeit Deutschlands sogar so geschwächt, dass die Bundesregierung ihre Grenzen nicht kontrollieren kann und selbst etliche Gesetzestexte ohne die Hilfe US-amerikanischer Anwaltskanzleien kaum noch abgefasst werden können.

Die Einschränkung der deutschen Souveränität führt dazu, dass in Deutschland die Eliten heute ganz anders rekrutiert werden, als dies in einem souveränen nationalstaatlich verfassten Land normalerwiese der Fall ist. Verfügt nämlich ein Land über seine volle Souveränität, so hat es ein Interesse daran, dass es von Menschen regiert und verwaltet wird, die diese Souveränität schützen und dementsprechend über strategisches Denkvermögen verfügen. Ist ein Land dagegen nicht vollständig souverän und lediglich ein Anhängsel einer größeren geopolitischen Ordnung, so sind Bürger mit strategischem Denkvermögen eher störend.

Länder, die von einem anderen größeren Staat dominiert und teilweise sogar von diesem mit verwaltet werden, bringen deshalb einen anderen Typus von Elite hervor. Nämlich eine Elite, die vor allem ein gläubiges und affirmatives Verhältnis zur bestehenden Ordnung hat. Der Analytiker mit strategischem Denkvermögen, der befähigt ist, das Gegebene geistig zu überschreiten, ist dagegen eher störend und muss dementsprechend im Rekrutierungsprozess der Elite herausgefiltert werden.

In Diskussionen zwischen Vertretern der deutschen und russischen Elite kann man die Folgen, die diese veränderte Eliteauslese nach sich zieht, immer wieder beobachten. Die Vertreter der deutschen Elite sind ihren russischen Kollegen in der Regel im strategischen Denken deutlich unterlegen. Immer wieder passiert es - etwa in den Diskussionen im Rahmen des Petersburger Dialogs -, dass ein deutscher Teilnehmer nicht weiß, was beispielsweise eine "Farbenrevolution" ist. Auch mit den Grundkategorien geopolitischen Denkens ist man auf deutscher Seite leider nur selten vertraut und häufig wird ein verkürztes Bild der jüngeren Geschichte vertreten. Mehrmals ist es bei deutsch-russischen Diskussionsrunden auch schon vorgekommen, dass deutsche Teilnehmer Sprachregelungen aus der Presse mit Analysen verwechselten und diese vollkommen unkritisch in gutem Glauben zitierten.

Auf russischer Seite entsteht dann unvermeidlich der Eindruck, dass deutsche Politiker wie auch Journalisten nicht umfassend über die Weltlage orientiert sind. Und das trifft leider insofern zu, als jene, die prinzipiell über eine weltpolitische Orientierung verfügen, von Ämtern systematisch ferngehalten werden.

Schließlich kommt noch hinzu, dass die Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte nachhaltig gestört hat. Die zwölf Jahre des deutschen Faschismus wirken wie eine historische Mauer im kollektiven historischen Gedächtnis. Alles was vor 1933 geschehen ist, verschwimmt im Nebel der Vergangenheit, wirkt fern und fremd. Einen wirklichen Bezug besitzt die überwiegende Mehrheit der Deutschen heute nur noch zu der Welt, die nach 1945 aufgebaut worden ist. Alles was vor 1933 stattgefunden hat, steht unter Verdacht, mit der Katastrophe des deutschen Faschismus in irgendeiner Form verbunden zu sein.

Dies führt dazu, dass nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Elite mit der deutschen Klassik in ihrer literarischen und philosophischen Dimension vertraut ist. Viele von ihnen wüssten wahrscheinlich kaum zu sagen, was die deutsche Aufklärung von der Englischen oder Französischen unterschieden hat und welche Relevanz in dieser Unterscheidung auch heute noch beschlossen liegt.1 [1] Doch weil die historische Verankerung in der Vergangenheit fehlt, weil ein Verhältnis zu den eigenen geistesgeschichtlichen Traditionen bei vielen Vertretern der deutschen Elite kaum noch vorhanden ist, gerade deshalb wirkt die Identifikation mit der transatlantischen Ordnung nach 1945 für diese Generation so glaubwürdig, zwingend und alternativlos.

Die republikanischen Selbststeuerungsprozesse in Deutschland sind praktisch zum Erliegen gekommen

Viele Vertreter der deutschen Elite sind zudem von der Vorstellung bestimmt, dass die politische und ökonomische Ordnung, die zunächst in Westdeutschland nach 1945 aufgebaut worden ist, "ein gutes System" sei. Dabei wird für gewöhnlich nicht reflektiert, dass der Wohlstand Westdeutschlands mit Hilfe einer keynesianischen Wirtschaftspolitik geschaffen worden ist.

Seit dem Beginn des neoliberalen Zeitalters, das in Deutschland etwas verspätet mit der Wiedervereinigung einsetzte, hat die Mehrheit der Bevölkerung kaum noch einen Wohlstandszuwachs erlebt. Lediglich die großen Vermögen sind gewachsen, während zugleich die Armut zugenommen hat und die Mittelschicht immer mehr von Abstiegsängsten geplagt ist. Trotzdem identifizieren viele Vertreter der deutschen Elite den Wohlstand Deutschlands mit dem heutigen neoliberalen System und möchten es erhalten.

Aufgrund der zum Glaubenssatz geronnenen Vorstellung, dass das transatlantische Bündnis "ein gutes System" sei, ist diese Elite relativ blind für die Tatsache, dass die Errungenschaften des Westens seit 1989 massiv abgebaut worden sind. Die für ein republikanisch verfasstes Gemeinwesen tragenden Institutionen, vor allem die Presse, aber auch die Universitäten, die Gewerkschaften und die Kirche befinden sich heute in einem selten zuvor dagewesenen Lähmungszustand und besitzen faktisch kaum noch das Potenzial, das System durch Kritik zu einer Selbstkorrektur zu veranlassen. Die republikanischen Selbststeuerungsprozesse sind somit praktisch zum Erliegen gekommen.

Rückblickend muss man sagen, dass der Westen nur solange republikanisch verfasst gewesen ist, solange das östliche Konkurrenzmodell existierte. Seitdem dieses weggebrochen ist, wurden auch im Westen neben dem Sozialstaat vor allem die Presse- und Wissenschaftsfreiheit abgebaut. An ihre Stelle tritt ein administratives System politischer Verwaltung, in dem alle maßgeblichen politischen Entscheidungen von Think Tanks und Lobbygruppen vorentschieden und der Bevölkerung nur nachträglich über PR-Kampagnen als notwendig oder alternativlos vermittelt werden.

Der sowjetische Dissident und Philosoph Alexander Zinoviev, der 1978 von Moskau nach West-Deutschland ausgebürgert wurde, hat einen solchen Gesellschaftstypus einst zutreffend am Beispiel der Sowjetunion analysiert und beschrieben. Er bezeichnete einen solches System wegen seiner transnationalen Struktur auch als "Supra-Society" oder "Supra-Gesellschaft". Ab den 1990er Jahren begann Zinoviev allerdings davon zu sprechen, dass es sich auch beim westlichen Bündnissystem um eine Supra-Gesellschaft handeln würde und diese dem Entwicklungspfad der Sowjetunion folge.2 [2] Zinoviev scheint recht behalten zu haben. Zumindest werden nach der Ratifizierung des TTIP-Abkommens die Vereinigten Staaten und die EU zu einem großen administrativen Gebilde verschmelzen und zusammen eine Art Supra-Gesellschaft bilden.

Leben in einer Supra-Gesellschaft

Es liegt auf der Hand, dass ein derart großes Gebilde nicht mehr republikanisch geschweige denn demokratisch verfasst sein kann. Um sich selbst zu erhalten, muss eine solch große, quasi staatliche Organisation Prozesse in Gang setzen, die zu einer Vereinheitlichung der Kulturen und der Völker in ihrem Machtbereich führen. Diese Vereinheitlichung wird vermutlich auf liberalem Wege hergestellt werden, nämlich durch den uneingeschränkten Fluss von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften unter Inkaufnahme massiver Migrationsströme.

Natürlich wird eine solche Politik mit der Zeit den Widerspruch von mehr und mehr Menschen hervorrufen. Doch da die Supra-Gesellschaft nun einmal darauf fokussiert ist, sich selbst zu erhalten und sie zu ihrer Selbsterhaltung den Prozess kultureller Vereinheitlichung fortsetzen muss, wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als diese Oppositionsbewegungen einzudämmen und notfalls sogar zu unterdrücken. Das Resultat wäre dann wahrscheinlich ein totalitäres System in demokratischem Gewand. Und deshalb würde der Raum dessen, was offen gedacht und gesagt werden kann, in einer Supra-Gesellschaft weiter eingeschränkt werden.

Wenn die Trends der letzten Jahre richtungsweisend gewesen sind, so wird eine sich stetig erweiternde politische Korrektheit zu einer deutlich zunehmenden Beschränkung der öffentlichen Rede führen. Auch deutet sich bereits an, dass im Zuge einer zukünftigen Toleranzgesetzgebung sogenannte Hass-Delikte geahndet werden könnten. Jede pauschalisierende Kritik an bestimmten Personengruppen, die in politischen Auseinandersetzungen schwerlich ausbleibt, könnte dann kriminalisiert und zur Einschränkung der öffentlichen Rede führen. Es entstünde ein politisches System, das im Namen der Toleranz Intoleranz praktiziert.

Doch die deutschen Eliten scheinen diesen Prozess eher nicht zu reflektieren und sich dessen kaum bewusst zu sein. Und insofern sie sich dieses Prozesses doch bewusst sein sollten, scheinen sie ihn mit Sorglosigkeit zu betrachten. Nun muss man bedenken, dass viele Vertreter dieser Elite zwischen 1955 und 1970 geboren sind. Ihre Lebenserfahrung ist zumindest als Westdeutsche von der Zunahme des Wohlstands und der Erweiterung demokratischer Rechte bis in die 1990er Jahre hinein bestimmt. Für sie war das Demokratische immer im eigenen Land beheimatet und der Totalitarismus immer außerhalb davon, meistens im Osten.

Ein Wechsel der Perspektive ist dieser westdeutschen Elite aus biographischen Gründen kaum möglich. Denn das System, in dem sie aufgewachsen sind, erlaubte über mehrere Jahrzehnte hinweg die Balance zwischen scheinbar unvereinbaren Gegensätzen. In diesem Gesellschaftssystem war es für diese zwischen 1955 und 1970 geborene Generation möglich, sich als politisch links zu verstehen und doch Karriere zu machen. Es war dieser Generation möglich, als Journalist die Anerkennung und Aufmerksamkeit von Politikern zu genießen und sich dabei doch als Teil einer progressiven Opposition zu sehen.

Dass dieses Gesellschaftssystem in den letzten Jahren einen problematischen Entwicklungsweg eingeschlagen hat, dass es zunehmend in einen Widerspruch zu seinen eigenen republikanischen Werten gerät, dass die junge Generation längst nicht mehr mit den politischen Freiheiten aufwächst, die den heute 45 - 60 jährigen noch vergönnt gewesen sind, all das wird von den Politikern und Journalisten, die zwischen 1955 und 1970 geboren sind, verdrängt und ausgeblendet. Denn sie verdanken ihre gesamte Karriere dem westlichen System.

Die Folter in Guantanamo, die Überwachung durch die NSA, die folgenschwere Destabilisierung des Nahen Ostens durch die offenen oder verdeckten Kriege der USA in dieser Region, die von Washington geduldete Zusammenarbeit Saudi Arabiens mit Terrororganisationen, all das wird von weiten Teilen der deutsche Elite als "Ausnahme" begriffen. Weil sie überzeugt sind, dass das westliche System ein an sich "gutes System" sei, glauben sie auch, dass die äußerst fragwürdigen, ja bösen Handlungen, die dieses System im Bereich der Außenpolitik begeht, es letztlich doch nicht definieren. Der vermeintlich gute Zweck rechtfertigt für sie die schlimmen und inhumanen Mittel.

Demokratie und Liberalismus sind für diese Generation zu einer politischen Religion geworden, zu reinen Glaubensinhalten, die, weil sie geglaubt werden, nicht mehr an der Realität überprüft werden müssen. Und weil diese politische Religion im Kalten Krieg entstanden ist, fußt sie in einem ganz entscheidenden Maße auf dem Reflex, im Osten und damit vor allem in Russland das Böse zu sehen. Dass der Osten sich geändert hat, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, das kann oder will diese Generation der deutschen politischen Eliten nicht weiter reflektieren. Und so verteidigen sie ihre einmal getroffene und nie wirklich umfassend durchdachte Entscheidung, an dem von den USA geschaffenen Weltkonflikt teilzunehmen. Ein Konflikt, der die Gefahr eines dritten Weltkrieges in sich birgt, der letztlich vollkommen unnötig ist und der morgen aufhören könnte, wenn die deutsche Elite endlich damit beginnen würde, eigenständig die Lage zu analysieren.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3378709

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/The-West-is-the-Best-3378709.html?view=fussnoten#f_1
[2] https://www.heise.de/tp/features/The-West-is-the-Best-3378709.html?view=fussnoten#f_2