"There is no better time to be an Indian."
In Indien finden die ersten völlig elektronischen Wahlen statt, die Regierungspartei hat eine vielversprechende Wahlkampagne für das boomende Land gestartet, das aber weiterhin mit vielen Problemen konfrontiert ist
Im Vergleich zu Russland, Spanien und den USA ziehen die bevorstehenden Wahlen in Indien deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich. Trotz allem sorgt die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt in den Medien für Schlagzeilen. Bemerkenswert ist das vor allem deshalb, weil das in den westlichen Massenmedien verbreitete Bild nahezu deckungsgleich ist mit dem Wahlkampf-Image der indischen Regierungspartei.
Kurz bevor die ersten Koordinaten für die diesjährigen Wahlen in Indien bekannt gemacht worden sind, lenkte das US-Magazin Wired im Februar diesen Jahres mit der Titelstory The New Face of the Silicon Age die Aufmerksamkeit auf Indien. Die Rede vom gläsernen Bürger indischer Herkunft, der globale Maßstäbe in der Weltwirtschaft setzt, wirkte in jenem Augenblick wie ein etwas unbeholfener Hype.
Auf dem Wired-Cover war eine in traditioneller Folkstracht gekleidete Frau zu sehen, die mit einer von Hindu-Code gezierten Hand ihr Gesicht verschleierte. Hier wurde offensichtlich an die derzeit weitverbreitete Angst vor einer rettungslos ins fanatische gekippten Anti-Zivilisationsbewegung arabisch-asiatischen Ursprungs appelliert, die allerdings gekoppelt war an eine andere Phobie, die bereits seit mehr als fünf Jahren durch die Industriegesellschaften geistert und die man eigentlich zu den Akten gelegt wähnte: das Schreckensgespenst des hochbegabten indischen Programmierers.
Wiedergeburt der New Economy
Als andere Massenmedien aus dem Westen kurze Zeit später einen ähnlichen Ton anschlugen, wirkte der Hype nicht mehr ganz so konstruiert. Vor allem The Financial Express und Wall Street Journal vermochten Akzente zu setzen, die den begrabenen New Economy-Traum wieder auferstehen ließen. Vom Jugend- (heute sind 75 Prozent der indischen Bevölkerung unter 40) bis hin zum Geschwindigkeitskult (die indische Wirtschaft wächst schneller als die europäische, US-amerikanische und chinesische Ökonomie) konnten die meisten zentralen Register des New Economy-Mythos erfolgreich reaktiviert werden. So notierte etwa Alan Friedman für das Wall Street Journal:
The New India has a fast-growing middle class of 250 million, many of them young and upwardly mobile who are moving from call centers to software-company campuses and into new professions in hot sectors such as media and entertainment. Here, and in New Delhi, India's army of affluent 20-something consumers are clad in designer jeans and watches, drive new cars, sip expensive imported wine and talk incessantly on their mobile handsets.[...] No one should underestimate the potential of a nation of more than one billion people with a disciplined, hard-working and English-speaking urban work force.
Der Glanz Indiens
Inmitten dieser Euphorie, in der bis auf die Nachricht von den ersten all electronic elections so gut wie nichts von den indischen Wahlen zur Sprache gebracht worden war, startete die machthabende Partei Bharatiya Janata Party (BJP) eine Kampagne: Unter dem Motto India Shinig werden auf Flugblättern und Postern, sowie in TV- und Radiospots die Leistungen der Atal Behari Vajpayee-Regierung beworben, was ein Image von Indien aufkommen lässt, das mit der Außenwahrnehmung des Landes in den Massenmedien nahezu deckungsgleich zu sein scheint.
Die Vorstellung von einer Nation, die, nun endlich zu ihrem Recht kommend, einen Rank in den Reihen der Weltmächte anstrebt, wird im Zuge der "India Shining"-Kampagne mit Zahlen, Daten und Fakten gefüttert: Das Bruttosozialprodukt steigt unaufhörlich, die Börse wächst über sich selbst hinaus, Shopping Malls sprießen aus dem Boden wie Pilze, die Verkabelung aller Haushalte hat oberste Priorität, ebenso wie das Bauen von Brücken und Superhighways, die eine Nation materiell wie immateriell zusammenwachsen lassen sollen, die sich im Rahmen des South Asia Free Trade Agreement wie kaum ein anderes Land als ein ernstzunehmender Global Player zu profilieren gewillt ist.
Strategische Pakte mit der USA und der EU krönen das Selbstbild von Indien als "economic and military powerhouse". Und so deklariert Atal Bihari Vajpayee freudestrahlend: "There is no better time to be an Indian." Während wiederum Hemant Maradia über dessen Kampagne resümiert:
Whether the PR stunt leads to the NDA Government coming back to power at the Centre only time will tell. But one thing is sure, the publicity stunt has snowballed into a major poll issue at a time when the NDA Government is all geared to take advantage of the "feel good factor".
"Hungrig, durstig, entmutigt"
Doch hat diese Kampagne bislang auch für zahlreiche Kontroversen gesorgt, nicht nur weil deren Finanzierung umstritten, sondern auch weil die Faktenlage keineswegs so rosig ist. Sonia Gandhi, die Gallionsfigur der Oppositionspartei, hat darauf am lautstärksten aufmerksam gemacht. Während sie durch das weite Land entlang der Topographien der Unterprivilegierten reist, um ihre Probleme in den Vordergrund zu rücken, wird sie von Stimmen begleitet, die von einem anderen Indien sprechen. Es ist ein Indien jenseits des Hightech-Booms, von dem keiner der dort Angesiedelten so recht glaubt, dass es bereits im Jahre 2020 ein hochentwickeltes Land sein wird. Es einfach zu viel gegen diese utopische Sicht.
Immer wieder ist von Korruption innerhalb der indischen Wirtschaft die Rede, von der hohen Inflationsrate und von der wackeligen Rechtslage. Faktoren, die ausländische Firmen davon abhalten, in einem Land zu investieren, in dem viele Millionen Menschen noch keinen Zugang haben zu Wasser, Elektrizität, angemessenen Unterkünften, geschweige denn Bildung: Analphabetismus ist in Indien weit verbreitet.
Darüber hinaus machen sich Kritiker immer größere Sorgen über die Kosten, die der phänomenale Wirtschaftswachstum hat für die Umwelt in Indien entstehen lassen. Die vielleicht härteste Kritik an der BJP-Schönfärberei kommt derweil aus Bihar, eine Provinz im Nord-Osten Indiens, die nicht nur bekannt ist als wesentlicher Katalysator des Buddhismus auf dem Weg zur Weltreligion, sondern die auch im Zahlenspiel des indischen Wahlsystems nicht unwesentlich ins Gewicht fällt. Das dortige Parlament hält 40 von insgesamt 543 Sitzen, wovon es unter den 50 Staaten und Unionsterritorien in Indien nur vier von vergleichbarer Größe gibt (Maharashtra, West Bengal, Andhra Pradesh und Tamil Nadu), während nur einer von ihnen größer ist: Uttar Pradesh mit 80 Sitzen.
Nun hat Laloo Prasad Yadav, der sich des Gewichts seiner Heimat im Spiel der nationalen Mächte wohl bewusst ist, vor kurzem zum Kampf geblasen. Yadav hat eine Gegen-Kampagne initiiert, die dem "India-Shining"-Versprechen den Schein nehmen soll: Auf bunten Postern posiert er bis auf die Unterhose entblößt als hungriger, durstiger und desillusionierter Mann. Und das ist nur der Anfang, wie ein Kollege von Yadav zu Protokoll gibt. Zahlreiche andere Kampagnen sollen mit rustikalen Witzen und derben Sprüchen dieser Tonalität Vajpayees Hochglanz-Offensive um ihren Glanz bringen.