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Tod eines Politikers

Teil 1: Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Mordes an Dr. Dr. Uwe Barschel

Nach jahrelangen juristischen Querelen konnte der leitende Oberstaatsanwalt a.D. Heinrich Wille letztes Jahr endlich sein Buch über die von 1994 bis 1998 geführten Ermittlung zum Todesfall Uwe Barschel veröffentlichen. Das Medienecho auf "Der Mord, der keiner sein durfte" fiel relativ gering aus, wohl weil der Autor keinen konkreten Mörder präsentieren konnte. Die eigentliche Qualität des Buchs liegt jedoch in dem aufschlussreichen Einblick in eine mit rechtsstaatlichen Mitteln geführte Ermittlung, die politisch nicht gewünscht war und von den Medien in fragwürdiger Weise beeinflusst wurde.

Als am 11. Oktober 1987 Journalisten die Leiche Uwe Barschels fanden, waren sich Behörden und Medien in ihrer Bewertung als Suizid des gestrauchelten Politikers einig. Die Rolle des Bad Guy war zuvor durch den SPIEGEL-Titel [1] "Barschels schmutzige Tricks" unverrückbar festgelegt worden. Der gestürzte Ministerpräsident, der nach seinem "Ehrenwort" keine Glaubwürdigkeit [2] mehr beanspruchen konnte, habe keinen Ausweg mehr gehabt. Die seltsamen Umstände sowie die Ungereimtheiten der Spurenlage irritierten die Edelfedern kaum, dem rechtskonservativen Politiker weinte allenfalls die Familie eine Träne nach. Wer einen Mord wähnte und damit die Deutungshoheit führender Journalisten infrage stellte, wurde als Verschwörungstheoretiker gelabelt.

Spiegel-Titel 38/1987

An dieser frühen Festlegung auf Suizid [3] hielten viele Meinungsführer auch dann noch fest, als sich mit der Schubladenaffäre [4] die Untiefen politischen Foulspiels auch beim politischen Gegenspieler Barschels abzeichneten. Mitte der 90er Jahre rollten Lübecker Staatsanwälte den Fall erneut auf und förderten Tatsachen, die keinen anderen realistischen Schluss als Mord zulassen. Doch weder dieses Ergebnis war politisch gewünscht, noch überhaupt eine Untersuchung der Verwicklungen von Spitzenpolitikern in Waffenhandel - dem gemeinsamen Nenner aller im Fall Barschel ernst zu nehmenden Mordmotive.

Zwei gegensätzliche Juristen

Die Wege von Wille und Barschel hatten sich schon früh gekreuzt. Beide waren als kriegsbedingte Halbwaisen in Schleswig-Holstein aufgewachsen und begegneten sich erstmals 1974 im Hörsaal an der Universität, später auch im "Historisch Politischen Club", deren Vorsitzender schließlich Wille wurde. Während sich Barschel stets in rechtskonservativem Umfeld bewegte, bereits als Schülersprecher 1963 sogar Großadmiral Dönitz zu einem Vortrag an seine Schule einlud und als Student dem RCDS vorsaß, trat Wille in die SPD ein und wurde Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen. Wille nahm Barschel als Extremist wahr und beobachtete dessen rasante politische Karriere. Als Staatsanwalt referierte Wille einmal dem jungen Innenminister Barschel persönlich über die Ermittlungen eines Korruptionsfalls.

Uwe Barschel. Bild: Engelbert Reineke, Deutsches Bundesarchiv [5] (B 145 Bild-F065018-0011). Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [6]

Nachdem im Zuge der Barschel-Affäre erstmals die SPD in Schleswig-Holstein an die Regierung gekommen war, wechselte Wille zunächst ins Justizministerium und wurde schließlich leitender Oberstaatsanwalt in Lübeck. Mitbewerber war der damals ebenfalls der SPD angehörende Wolfgang Nešković. In den 70er- und 80er Jahren war im damals schwarzen Schleswig-Holstein ein CDU-Parteibuch Karrierevoraussetzung gewesen, zu der sich Barschel in einem aufgetauchten Schreiben sogar ganz offen bekannt hatte. Und so ist es eine Ironie der Geschichte, dass die Untersuchung von Barschels Todesumständen ausgerechnet durch einen Behördenleiter des anderen politischen Lagers vorangetrieben wurde.

Sieben Jahre Gerüchteküche

Zuständig für das Ermittlungsverfahren war 1987 eigentlich die Genfer Staatsanwaltschaft gewesen. Dort hatte man sich bereits von Anfang an über das geringe Interesse der deutschen Behörden am Fall gewundert, da Genf nur als zufälliger Schauplatz der eigentlich deutschen Angelegenheit gesehen wurde. Trotz der politischen Brisanz des Falls ließ die Spurensicherung am Tatort zu wünschen übrig. Auch in Deutschland einigten sich die Behörden schnell auf Suizid und eröffnete lediglich im Wege der Amtshilfe ein "Todesermittlungsverfahren zum Nachteil des Herrn Dr. Dr. Uwe Barschel". Ein von der Familie Barschel gewünschtes Ermittlungsverfahren wegen Mordverdachts schloss die damalige Staatsanwaltschaft Lübeck im Einvernehmen mit dem Ministerium ausdrücklich aus. Auch die Presse konnte mit Rätseln leben, etwa dem ungeklärten Verbleib einer aufs Zimmer bestellten Weinflasche.

Björn Engholm (1989). Bild: Ludwig Wegmann, Deutsches Bundesarchiv [7] (B 145 Bild-F080691-0010). Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [8]

Das Interesse am Fall Barschel flammte jedoch 1992 wieder auf, als die Schubladenaffäre ruchbar wurde und zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sowie zum Rücktritt von Ministerpräsident Björn Engholm führte - wie Barschel einst ein gehandelter Kanzlerkandidat. Im Zuge des Schubladenausschusses wurden Berichte über geheime Embargo-Geschäfte in der DDR bekannt, bei denen Barschel eine unbekannte Rolle gespielt hatte. Barschel war nach seinem Anwaltsexamen in die Kanzlei eines Notars angetreten, dem Geschäfte im Bereich Waffenhandel nachgesagt wurden. Ganz offiziell beurkundete Barschel diverse Geschäfte von Dual Use-Gütern wie etwa LKWs für Libyen. Auch stand Barschel offenbar in Kontakt mit einer mehrfach wegen Waffenhandels verurteilten Gräfin.

Uwe Barschel (links) und Gerhard Stoltenberg (rechts unten) auf dem Bundesparteitag der CDU (1986). Bild: Lothar Schaack, Deutsches Bundesarchiv [9] (B 145 Bild-F073604-0019). Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [10]

Bereits sein Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, der spätere Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg, war eine Nähe zum Waffenhandel zu eigen. Das Land Schleswig-Holstein selbst hielt Anteile an Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW), einem führenden Produzenten von taktischen U-Booten [11]. Zu einem rechtskonservativem CDU-Politiker mochten informelle Reisen, die offensichtlich geheimdienstlich abgedeckt waren, so gar nicht passen. Ende 1993 wurde bekannt, dass der BND vom Treffen Barschels mit einem Sohn von Ayatollah Khomeini vom 9. Oktober 1987 in Genf wusste, bei dem es laut dessen Leibwächter zu einer Meinungsverschiedenheit gekommen sein soll.

U-Boot-Klasse 209. Bild: US Navy

Zudem war die Polizei bei einer Hausdurchsuchung bei einem schillernden Waffenhändler mit dem sinnigen Namen Josef Messerer eine Notiz aufgefallen, die eine Kenntnis eines Anschlags vermuten ließ, laut Messerer jedoch erst nach dem Todesfall entstand. Noch brisanter war die Anschuldigung des vormaligen Agenten des südafrikanischen Geheimdienstes Dirk Stoffberg, der 1994 von einem Waffenhändlertreffen in Genf berichtete sowie von Barschels Ankündigung, auszupacken. Dies passte zur Affäre um ein Embargo-widriges U-Boot-Geschäft mit Südafrika [12], bei der Barschel damals seine Rolle hatte verbergen können. Der redselige Stoffberg folgte kurz nach seiner Wortmeldung dem redegeneigten Barschel - angeblich ebenfalls durch Suizid, unmittelbar nachdem er angeblich seine Frau erschossen hatte.

In der Presse wurde bekannt, dass das Archiv eines verstorbenen Mitarbeiters des DDR-Auslandsgeheimdienstes HV-A dem Bundesnachrichtendienst (BND) übergeben worden sei, welche Aufschluss über die Rolle Barschels geben müsse. Eine Journalistin übergab den Lübecker Staatsanwälten Dokumente aus der Gauck-Behörde, welche Barschel als Kurier seines Bruders Eike erscheinen ließen, der Embargo-Geschäfte mit der DDR getätigt habe.

Die politische Dimension des Falles weckte 1994 offenbar auch die Interessen von Wahlkämpfern. So gaben der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sowie der BND die Verschwörungstheorie aus, die Stasi habe vielleicht etwas mit dem Mord zu tun. Im Gegenteil allerdings hatten die DDR-Geheimen seinerzeit sogar eine eigene Untersuchung des mysteriösen Todesfalls geführt, etwa die Meinung eines Experten über eine mögliche Vergiftung Barschels eingeholt. Zudem äußerte sich der renommierte Schweizer Toxikologe Prof. Dr. Hans Brandenberger, der Anhaltspunkte für einen Giftmord sah.

Demgegenüber verteidigte der SPIEGEL seine "eindeutige" Suizid-Version, ebenso ein Hamburger Gerichtsmediziner - der allerdings kein Toxikologe war. Auch die bereits seit 1988 bekannte Anwesenheit des schillernden Detektivs Werner Mauss [13] am Tatort Genf befeuerte Spekulationen über eine Verwicklung deutscher Stellen. Mauss, der nur zufällig vor Ort gewesen und Barschel gar nicht gekannt haben will, machte sich vor allem deshalb verdächtig, weil er eifrig die Selbstmord-These propagierte. Zu den nicht aufgeklärten Umständen des Falles gehörte die Frage, wer denn eigentlich das Hotel ausgesucht und gebucht hatte. Für Barschel wäre es naheliegend gewesen, bei seinem Bruder Eike zu nächtigen, der bei Genf wohnte und von Barschels Verzicht auf die Gastfreundschaft sogar ungehalten war.

Lübecker Ermittlungsverfahren

Die Gesamtheit dieser für einen Suizid seltsamen Umstände, deren Nichtuntersuchung bereits bei der Presse Verdacht erregte, nahm die Staatsanwaltschaft Lübeck 1994 zum Anlass, eigene Ermittlungen wegen Mordverdachts am prominenten Einwohner der Stadt aufzunehmen. Durch Beschluss des Bundesgerichtshofs [14] wurde die Zuständigkeit der Lübecker für die mögliche Auslandstat festgestellt. Erstaunlicherweise macht der Generalbundesanwalt zu keinem Zeitpunkt von seiner Möglichkeit Gebrauch, die brisanten Ermittlungen an sich zu ziehen. Auch eine andere Behörde, deren Aufgabe [15] die Aufklärung undurchsichtiger politischer Vorgänge im Ausland wie das ungewöhnliche Ableben eines Spitzenpolitikers mit Kanzler-Ambitionen wäre, führte erstaunlicherweise keine Untersuchung: Der BND.

Runder Tisch der Schlapphüte

Der DDR-Spur folgend lud Wille Vertreter von Verfassungsschutz, BND, Gauck-Behörde usw. Anfang 1995 zu einem "Runden Tisch" ein, um hinter verschlossenen Türen die Informationslage zu besprechen. Die Lübecker berichteten den Diensten von Spuren in die Tschechoslowakei, wo Barschel während eines Kuraufenthalts Waffengeschäfte getätigt haben soll. Die Geheimdienstler sagten zu, unaufgefordert Erkenntnisse zu übermitteln - stattdessen jedoch kam es zu Informationsverlust: Kurz nach der Unterredung brannten in der Tschechoslowakei im Abstand von wenigen Wochen zwei für den Fall relevante Archive ab, in einem Privatarchiv eines dortigen Hotels fehlte ausgerechnet ein Dokument, das Aufschluss über Barschels Aufenthalt hätte geben können. Wertvolle Hilfe von den Diensten erhielten die Ermittler nicht.

Gauck und Geiger

Sowohl die verhaltene Bereitschaft zur Kooperation, als auch weitere Hinweise brachten die Gauck-Behörde [16] in den Verdacht, Informationen zurückzuhalten. Die Lübecker erwirkten daher einen Hausdurchsuchungsbeschluss für die Gauck-Behörde und wurden damit überraschend in der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde vorstellig - ein bis dahin beispielloser Vorgang. Behördenchef Joachim Gauck und insbesondere sein Stellvertreter Hansjörg Geiger reagierten zunächst ungehalten, kooperierten jedoch, sodass eine förmliche Vollstreckung nicht erforderlich war.

Eigentlich hätte die Durchsuchungsaktion diskret bleiben sollen - schon aus kriminaltaktischen Gründen. Doch der gedemütigte Gauck ging an die Presse und beschwerte sich auch bei der Generalstaatsanwaltschaft über die angeblich rechtswidrige Aktion. Gaucks Wort hatte anscheinend politisch ein höheres Gewicht als der Anspruch des Rechtsstaats, beim Verdacht eines Verbrechens auch gegenüber Geheimdienst-Behörden ermitteln zu dürfen. Die Generalstaatsanwaltschaft jedenfalls stellte sich überraschend nicht vor ihre Behörde. Dies markierte den Beginn einer Kontroverse zwischen dem Justizministerium in Kiel und Wille, die zum Großteil über die Presse ausgetragen wurde. Die Uneinigkeit der Behörden war für Informanten alle andere als einladend.

Joachim Gauck (1990). Bild: Peer Grimm, Deutsches Bundesarchiv [17] (Bild 183-1990-1218-302). Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [18]

Wille ließ 70 ehemalige Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit wie etwa DDR-Abhörspezialisten sowie 100 weitere Personen vernehmen, doch die Spuren in Richtung DDR, in die Schäuble und der BND gewiesen hatten, blieben unergiebig. Der Devisen-Beschaffer Alexander Schalck-Golodkowski und Spionagechef Markus Wolf wurden nicht gehört, da sie erklärt hatten, nichts zu wissen. Wolf allerdings hatte auf die Frage eines Journalisten zum Fall Barschel geantwortet: "Wollen Sie das wirklich wissen?" Skurril jedenfalls wirkte ein angeblicher "Barschel-Brief", den die Fälscher des MfS deutschen Medien zugespielt hatten, um Politiker in Misskredit zu bringen, was jedoch Wolfs Nachfolger Großmann zu verantworten hatte. Der BND, dem die diskreten Grenzübertritte von Barschel kaum verborgen geblieben sein sollten, wollte von nichts gewusst haben.

Medien

Nicht nur von oben erhielt Wille Druck, auch mit den Medien machte er eigenartige Erfahrungen. Journalisten hielten sich nicht an Absprachen oder bauschten Berichte auf. Den einen gingen die Untersuchungen nicht weit genug, den anderen erschienen sie lächerlich. Immer wieder wurden Dokumente zur Presse durchgestochen. Da Wille aufgrund der Spannungen mit seinen Vorgesetzten zwischenzeitlich einen "Maulkorb" erhalten hatte, durfte er sich gegen Anwürfe kaum wehren. Der im nördlichsten Bundesland dominierende Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (SHZ) fiel durch seine Nähe zu Politikern der Landesregierung auf, deren Ergebnisse aus der Schubladen-Affäre nicht mit denen von Wille harmonierten. Die Lokaljournalisten stilisierten Wille zu einem Besessenen, der sich in etwas verrannt habe, es handele sich eindeutig um Selbstmord.

Die zahlreichen Ungereimtheiten am Tatort [19] wurden tapfer ignoriert, obwohl nicht einmal die ominöse Freitod-Methode in der Badewanne zutraf. So sieht jene Anleitung vor, dass der durch Betäubungsmittel Bewusstlose mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche gleitet und schmerzfrei ertrinkt, was bei Barschel gar nicht der Fall war. In Barschels Körper waren vier Substanzen nachgewiesen worden, zu denen keine Verpackungen gefunden wurden, eine davon war nur noch in Dänemark oder der DDR im Handel.

Reste einer Substanz fanden sich in einem seltsamerweise ausgewaschenen Whisky-Fläschchen, auch fanden sich an den Wasserhähnen keine Fingerabdrücke. Rätsel gab insbesondere ein ausgerissener Hemdknopf auf, der in dieser Weise schwerlich vom Hemdträger ausgerissen werden konnte - wozu auch? Völlig unerklärlich erwies sich ein schließlich nachgewiesenes Lösungsmittel, das einen Vorleger verfärbt hatte und dort einfach nicht hingehörte. Das Mittel wird in der Veterinärmedizin verwendet, um Haut durchlässig für Salben zu machen, also den Transport von Substanzen in den Körper, ohne eine Einstichwunde erkennen zu lassen.

Die originellste "Erklärung" für die eigenartige Spurenlage bietet nach wie vor der vormalige SPIEGEL-Journalist Hans Leyendecker, der eine Verschwörungstheorie mit einem geheimen Sterbehelfer ausgab. Warum ein Sterbehelfer Barschel an der Stirn ein Hämatom zugefügt haben sollte, erschließt sich jedoch nicht. Anzeichen für einen bevorstehenden oder gar organisierten Freitod waren in Barschels letzten Tagen nicht auszumachen, vielmehr erwog er ein Auswandern nach Kanada. Angesichts der Ergebnisse des Schubladen-Ausschusses [20], die den Rivalen Engholm des Meineids überführten, hätte Barschel durchaus Aussicht auf wenigstens teilweise Rehabilitation gehabt, auch standen ihm Chancen außerhalb der Politik offen. Skandale hatten schon ganz andere ausgesessen. Es ist zudem nicht nachvollziehbar, dass der für Eitelkeit und Inszenierung bekannte Barschel diese Welt mit einem so jämmerlichen Bild verlassen hätte, das ähnlich demütigend wirkte wie ein hingerichteter Mafia-Verräter, dem man zur Abschreckung einen Geldschein in den Mund steckt. Nachdem Barschel, der sich auch von seinen Parteifreunden verraten fühlte, kurz zuvor damit gedroht hatte, "auszupacken", wäre wenigstens ein geharnischter Abschiedsbrief zu erwarten gewesen.

Geheimer Waffenhandel

Der Journalist Peter F. Müller stellte Wille ein Video-Interview zur Verfügung, in dem der bereits erwähnte südafrikanische Agent Stoffberg behauptet, Barschel sei in Waffengeschäfte mit Irak und dem Iran verwickelt. Beim Iran sei es u.a. um Nukleartechnologie gegangen. Der spätere CIA-Chef Robert Gates habe Barschel nach Genf zu einer Unterredung bestellt, in der sich Barschel, der mit Enthüllungen drohte, als Sicherheitsrisiko erwiesen habe. Ein gewisser Ross Wood ("Tom Sunde"), der ein Hitman in Diensten von CIA und NSA etc. sei, habe den Job erledigt.

Stoffberg war selbst ein "Mann fürs Grobe" und brüstete sich gemeinsamer vergangener Operationen mit Wood. Der Südafrikaner, der auch als Waffenhändler definitiv ein Insider war und einen glaubwürdigen Eindruck machte, berichtete allerdings nicht aus erster Hand. Sein Motiv für seine Redseligkeit soll seine Empörung über amerikanische Dienste sein, welche deutsche Politiker kontrollierten. Nicht alle Details hielten einer Überprüfung stand, allerdings verblüffte er mit seinem Insiderwissen, dass Barschel einen Neuanfang in Kanada erwogen hatte. Über Müller gelang es, Kontakt zu einem Gesprächspartner Stoffbergs in Australien herzustellen. Eine Vernehmung kam jedoch nie zustande, was nicht zuletzt mit einer Indiskretion zusammenhing, die aus einem obskuren Kleinkrieg zwischen Wille und dem Generalstaatsanwalt resultierten sollte.

Untersuchung politisch unerwünscht

Die Spannungen zwischen dem Ministerium und den Lübecker Staatsanwälten erhöhten sich im März 1996, als der Generalstaatsanwalt anwies, die Ermittlungen bis zum Sommer abzuschließen - ein bemerkenswerter Umgang mit dem Legalitätsprinzip [21], der im geltenden Recht keine Grundlage hat. Wille wurde klar signalisiert, es müsse sich um einen Suizid gehandelt haben. Nach der anstehenden Landtagswahl ließ der neue Justizminister die Ermittler jedoch gewähren. Dann allerdings lief ein zwielichtiger Journalist, dem Wille für sein gescheitertes Buchprojekt nicht gefällig genug gewesen war, Amok, indem er gegenüber Medien und auch Willes Vorgesetzten vermeintliche Verfehlungen lancierte. Von der Beantragung eines Disziplinarverfahrens (was an sich ein dienstinterner und denkbar vertraulicher Vorgang ist) erfuhr Wille erstmals von einem Journalisten, von der Einleitung sogar aus der Presse, die vorab informiert war. Obwohl an diesen Anschuldigung nichts dran war, wurde das Verfahren rechtswidrig in die Länge gezogen. Eigentlicher Hintergrund war der Unmut über Willes aufwändige Untersuchungen, die kein greifbares Ergebnis versprachen, aber vielen auf die Füße traten.

Nun meldete sich Geiger, mit dem Wille in der Gauck-Behörde aneinander geraten war. Geiger war inzwischen zum Präsidenten des BND aufgestiegen und beschwerte sich in einem Brief an den Generalstaatsanwalt darüber, dass Wille mehrfach den BND kritisiert habe. Der Generalstaatsanwalt setzte Wille im Januar 1997 eine Frist von drei Monaten, um das leidige Verfahren zu beenden, ansonsten werde er es an sich ziehen. Da dies Wille nicht ausreichte, zog der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen an sich und wies an, keinerlei Ermittlungen durchzuführen. Die Weisung wurde bald darauf jedoch zurückgenommen - der Justizminister hatte aus den Reihen der SPD Proteste bekommen.

Kurz darauf fanden vertrauliche Informationen ihren Weg in die Schleswig-Holsteiner Presse, die Willes Arbeit ins Lächerliche zog, sogar Klarnamen von Informanten wurden preisgegeben. Ein Zeuge aus dem Bereich der Mafia bekam daraufhin eine Todesdrohung, die das BKA außerordentlich ernst nahm. Der entsprechende Journalist räumte ein, dass die Informationen von oben durchgestochen waren. Auch Willes einstiger Rivale Nešković nutzte die Gelegenheit, die Lübecker Staatsanwälte als Verschwörungstheoretiker zu denunzieren. In die gleiche Kerbe schlug Hans Leyendecker im SPIEGEL [22], wo er beharrlich seine Selbstmord-These verteidigte. Das vergiftete Klima zwischen dem Generalstaatsanwalt und dem Lübecker Behördenleiter war irreparabel beschädigt. Im April 1997 nahm der Vorgesetzte schließlich seinen Hut.

Runder Tisch der Toxikologen

Nach drei Jahren Vorbereitung konnte Wille endlich den "Runden Tisch" der Toxikologen organisieren, der jedoch kein eindeutiges Ergebnis förderte. Eine natürliche Erklärung für die tödlichen Substanzen in Barschels Körper wurde jedenfalls nicht gefunden. Prof. Brandenberger zufolge indizieren die chemischen Befunde einen professionell durchgeführten Mord [23]. Er geht davon aus, dass die tödliche Substanz erst im betäubten Zustand nach den drei anderen Mitteln verabreicht wurde, was Suizid ausschließt. Irritiert zeigte sich Brandenberger vom Insistieren seiner Kollegen auf einer mögliche Selbsttötung mit Beihelfer. Eine solche Sterbehilfe hält er schon wegen des offenbar rektal eingeführten Giftes für unwahrscheinlich.

10. Jahrestag

Nach langwierigen Vorbereitungen gelang es Wille endlich, den vormaligen iranischen Staatspräsidenten Bani-Sadr im französischen Exil vernehmen zu lassen (siehe hierzu Teil 2), der bereits im Mykonos-Prozess [24] ein wichtiger Zeuge gewesen war. Zum 10. Jahrestag resümierte der Republik oberster Deuter Leyendecker, der unter geheimnisvollen Umständen zur SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG gewechselt war, alles andere als Selbstmord sei absurd. Leyendeckers vormaliges Blatt DER SPIEGEL allerdings war sich inzwischen nicht mehr so sicher [25]. Auch die TV-Magazine tendierten nun zur Mordvariante [26].

Abū l-Hasan Banīsadr (2010). Bild: Peter Weis, Public Domain

1998 legte Wille einen 250 Seiten starken Gesamtbericht vor und stellte das ausermittelte Verfahren ein. Obwohl die Ermittler eine eindeutige Meinung hatten, verkniffen sie sich im Bericht die ausdrückliche Schlussfolgerung "Mord". Ein Täter war nicht gefunden worden, dafür jedoch etliche Parteien, die ein Mordmotiv gehabt hätten. Mit den Mitteln des Rechtsstaats war der Fall nicht mehr aufzuklären. Das 14.000 Seiten umfassende Ermittlungsverfahren wurde im Juni 1998 eingestellt.

Unerwünschtes Buch

Zum 20. Jahrestag des Barschel-Falles wollte Wille 2007 seine Ermittlungen in Buchform veröffentlichen und darin auch Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das Druckrecht hatte sich DER SPIEGEL gesichert. In seinem Manuskript rätselte Wille über die Motive seiner diversen Vorgesetzten, welche die Arbeit der Lübecker Staatsanwälte auf diversen Ebenen behindert hatten. Ob die Gesamtheit der Widerstände Zufall war, oder ob System dahinter steckte, mochte er nicht entscheiden.

Die hierzu beantragte Nebentätigkeitsgenehmigung wurde Wille jedoch vom Generalstaatsanwalt mit dem interessanten Argument versagt, dieser würde sich der Untreue schuldig machen, gestattete er den "privaten Verkauf wesentlicher Inhalte der Dienstleistung durch einen Beamten". Eine solche Buchveröffentlichung verstoße gegen die "Pflicht des Beamten, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen" - was Unsinn war, da das Buch ja schon geschrieben war und vergleichbare Buchprojekte nie beanstandet wurden. Ein gegen die Versagung geführtes Eilverfahren scheiterte und wurde auch vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Beschwerde angenommen. In der Hauptsacheklage gab das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein Wille 2008 Recht, jedoch verhinderte die hiergegen eingelegte Berufung weiterhin das Erscheinen des Buches.

In Teil 2 [27]: Barschels Mörder?


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[24] https://de.wikipedia.org/wiki/Mykonos-Attentat
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