Tories in Trouble
Boris Johnson hat viele Probleme auszusitzen versucht. Nun brechen sie über ihn herein. Corona-Krise wird zur Betonierung staatlicher Repression genutzt
Wie ist es um Boris Johnsons Amt als britischer Premierminister bestellt? Diese Frage wird in Großbritannien jüngst tatsächlich immer öfter gestellt. Vor allem von liberalen Medien, aber zunehmend auch im konservativen Spektrum.
Jüngster Anlass ist Johnsons Rede vor dem Jahreskongress der Confederation of British Industry (CBI), Großbritanniens größtem Unternehmerverband. Deren Versammlung ist immer ein Pflichttermin, sowohl für die amtierende Regierung, also auch für die Opposition.
Johnson lieferte bei seinem Auftritt das übliche ab. Viele Witze, Anekdoten über einen Besuch im Themenpark Peppa Pig World sowie einen 20 Sekunden dauernden Verlust des roten Fadens [1]. Johnson hält seine Reden grundsätzlich nie mit Teleprompter, dafür immer mit einem Wust loser Zettel.
Gut einstudierte Spontaneität ist eines seiner Markenzeichen. Wobei kaum etwas dem Zufall überlassen wird, auch die wuscheligen Haare werden kurz vor Auftrittsbeginn entsprechend in Form gebracht.
Normalerweise funktioniert das auch. Nicht so dieses Jahr bei der CBI. Das Verhältnis zwischen Tories und Unternehmern ist längst nicht mehr, was es einmal. Seit Jahren ist man bei der CBI schon über populistische Querschüsse seitens der Tories verärgert. Aus den Zeiten der Brexit-Kampagne ist beispielsweise Johnsons Ausruf "Fuck Business" überliefert.
Und als im Frühherbst die Tankstellen kein Benzin mehr hatten, sich die Container in den Häfen stapelten und überdeutlich wurde, dass zwischen 50.000 bis 100.000 Lkw-Fahrer im Land fehlen, um all diese Waren zu transportieren, war die Kernbotschaft der Tories an die Unternehmen, sie mögen doch einfach die Löhne erhöhen.
Tatsächlich gab es in den vergangenen Monaten einige deutliche Lohnerhöhungen in der Logistikbranche, teilweise im zweistelligen Bereich. Doch meistens gab es diese nur in Unternehmen mit starker gewerkschaftlicher Präsenz, oder nach der Durchführung von Streiks [2].
Geht es nach den meisten Unternehmern, dann soll die Branche wohl ein Niedriglohnsektor bleiben, der auf der Ausbeutung schlecht bezahlter Arbeitskräfte beruht.
Versagen in der Verkehrspolitik
Nur wenige Tage vor Beginn der CBI-Konferenz kam dann der nächste Tiefpunkt. Johnsons Regierung musste zugeben, nicht, wie eigentlich versprochen, in das nordenglische Eisenbahnnetz investieren zu können und auch bei der Schnellbahnverbindung HS2 einsparen zu wollen. Das Geständnis provozierte Aufruhr unter nordenglischen Labour-Abgeordneten im Unterhaus, aber auch in Johnsons eigener Partei.
Apropos Abgeordnete: Um das Maß vollzumachen, sind zahlreiche Tories seit Wochen in einen Korruptionsskandal rund um dubiose Zweitjobs verwickelt. Das betrifft an prominenter Stelle unter anderem den ehemaligen Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox [3], der bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU eine wichtige Rolle innehatte.
Und so kommt es, dass das britische Establishment, deren Kern die Tories traditionellerweise darstellen, plötzlich nicht mehr so gut auf die Konservativen zu sprechen ist. Kaum ein Medium berichtete über die politischen Inhalte von Johnsons Rede, alle konzentrierten sich darauf, dass dieser zwischendurch den Text vergessen hatte [4].
Ein Journalist fragte Johnson anschließend vor laufenden Kameras sogar, ob es ihm gut gehe. Das ist eine Behandlung, wie sie vor Boris Johnson nur der ehemalige linke Labour-Parteichef Jeremy Corbyn erdulden musste.
Ganz anders ist seit Neuestem der Umgang mit der Labour-Partei. Deren jetziger Parteichef Keir Starmer kann gar nichts falsch machen. Seine Ansage auf der CBI-Konferenz, einerseits keine Investitionsbeschränkungen aufbauen zu wollen, aber andererseits auch nicht jedes Problem damit lösen zu wollen, indem man ihm staatliches Geld hinterherwerfe, führte zu wohlwollenden Reaktionen aus den Reihen der CBI und in den Medien.
"We are back in business", twitterte die Labour-Partei [5] anschließend als Reaktion auf die Ankündigung der CBI, künftig eng mit den britischen Sozialdemokraten in Wirtschaftsfragen zusammenarbeiten zu wollen. Das ist die Belohnung dafür, dass Starmer in den vergangenen Monaten jede verbliebene linke Opposition in seiner Partei erfolgreich neutralisiert hat.
Boris Johnson hat nur noch knappe Mehrheiten
Aus Sicht von Boris Johnson muss als weiteres Warnsignal gelten, dass seine Regierung Abstimmungen bei einer Debatte über einen Gesetzentwurf bezüglich einer geplanten Reform des Gesundheitswesens nur mit einer knappen Mehrheit meisterte.
19 seiner Parteifreunde rebellierten und stimmten gegen den Entwurf, weil die geplante Reform vorsieht, künftig auch auf mittlere Einkommen pflegebedürftiger Personen zuzugreifen und diese gegebenenfalls auch zum Verkauf von Vermögenswerten wie etwa Eigenheimen zu zwingen.
Die Obergrenze der Selbstbeteiligung soll bei 86.000 Britischen Pfund (gut 102.360 Euro) liegen. Diese Maßnahme betrifft Bevölkerungsschichten, die bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2019 mehrheitlich das Kreuz bei den Tories gemacht haben.
Um wenigstens etwas frischen Wind in die schlaffen blauen Segel zu bringen, machte das Büro von Premierminister Johnson in den vergangenen Tagen mächtig Druck auf dessen Innenministerin Priti Patel [6]. Sie solle "etwas unternehmen", um die Flüchtlingskrise an der britischen Küste zum Ärmelkanal Richtung Frankreich in den Griff zu bekommen.
Trotz einer stetig wachsenden Militarisierung des Ärmelkanals durch die britische Marine, dem Einsatz von Aufklärungsdrohnen sowie der gewaltsamen Abdrängung von Flüchtlingsbooten hat es in den vergangenen Tagen eine Rekordzahl an Flüchtlingen geschafft, an der britischen Küste zu landen, um dort Asylanträge zu stellen.
Auch diese Situation birgt für die Konservativen ein Bedrohungspotential, denn deren nationalkonservativer Flügel, zu dem Priti Patel zählt, besteht auf einer repressiven Asyl- und Migrationspolitik. Patels Versuche, die Schuld an der Situation einem angeblich laxen Migrationsregime der EU zuzuschieben, werden da langfristig nicht fruchten.
Versammlungsrecht wurde in der Pandemie verschärft
Die britische Regierung dreht ohnehin an der Repressionsspirale, auch innenpolitisch. Stärkstes Anzeichen dafür ist das ohnehin schon drakonische geplante Sicherheitsgesetz [7], welches in den vergangenen Tagen von der Regierung noch einmal verschärft wurde. Bei dem Sicherheitsgesetz geht es darum, zukünftig "disruptive" Proteste zu verhindern oder auch gleich de facto zu kriminalisieren.
Unter dem Eindruck von Autobahnblockaden durch kleinere Gruppen von Klimaaktivisten in den vergangenen Wochen sind nun neue Polizeibefugnisse in den Entwurf eingefügt worden.
So können Autobahnblockaden in Großbritannien für die Beteiligten bald 51 Wochen Gefängnis bedeuten. Das gilt ebenfalls für die Blockade von Baustellen großer Verkehrsprojekte. Außerdem sieht der Entwurf vor, Personen, die sich regelmäßig an solchen Aktionen beteiligen, künftig den Zugang zum Internet sperren zu können. So sollen diese in ihrer organisatorischen Tätigkeit behindert werden. Kontaktverbote und polizeiliche Meldeauflagen für sogenannte "Wiederholungstäter" sind ebenfalls angedacht.
Bei alldem spielt auch eine Rolle, dass im Schatten der Covid-19 Krise das britische Versammlungsrecht durch Notverordnungen drastisch verschärft worden ist, und teilweise hohe Geldstrafen gegen Demonstranten ausgesprochen wurden. Mit dem Gesetzentwurf wird die Demontage des britischen Versammlungsrechts institutionalisiert.
Die Covid-Krise ist derweil alles andere als ausgestanden. Das öffentliche Gesundheitswesen steht wie in anderen europäischen Ländern auch an der Belastungsgrenze. Vor vielen Krankenhäusern stehen die Krankenwagen Stoßstange an Stoßstange, mitunter über viele Stunden hinweg, weil sie ihre Patienten nicht unterkriegen. Das Gesundheitswesen hat zu wenig Betten, und es fehlen fast 100.000 Pflegekräfte.
Das ist eine Situation, die längst nicht mehr widerspruchslos hingenommen wird. Es gibt Proteste, und auch Arbeitskämpfe stehen im Raum. Für Boris Johnson und Priti Patel könnte das bedeuten, dass sie schon bald die mit dem neuen Polizeigesetz enthemmte Polizei in Marsch setzen. Womöglich gegen Pflegekräfte, denen sie 2020 noch applaudiert haben.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/Andrew_Adonis/status/1463010063291985923
[2] https://www.unitetheunion.org/news-events/news/2021/november/south-west-sainsbury-s-shortage-fears-ended-as-dhl-drivers-agree-inflation-beating-pay-increase/
[3] https://www.theguardian.com/politics/2021/nov/09/geoffrey-cox-under-pressure-to-quit-for-working-from-caribbean?utm_term=618b51d3c5feb6af7286ccd7f02db1bf&utm_campaign=GuardianTodayUK&utm_source=esp&utm_medium=Email&CMP=GTUK_email
[4] https://www.bbc.com/news/uk-politics-59382105
[5] https://twitter.com/UKLabour/status/1462865405958144007
[6] https://www.theguardian.com/uk-news/2021/nov/23/priti-patel-put-under-immense-pressure-by-no-10-and-tory-mps-over-channel-crossings
[7] https://www.bigissue.com/news/activism/police-could-be-allowed-to-stop-and-search-people-without-suspicion-in-new-protest-crackdown/
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