Traditionalismus als kulturelle Prägung?
Am Beispiel der Architektur sollte man eine alte Debatte neu lesen
Jener Philosoph, der wie kaum ein anderer eine Leidenschaft für die Baukunst an den Tag legte - Ludwig Wittgenstein -, hat einmal folgende kleine Begebenheit notiert: "Ich kam nach Hause und war sicher eine Überraschung zu finden. Es gab keine Überraschung für mich, was mich natürlich überraschte." Ganz ähnlich ließe sich die Rezeption einer immer ausgeprägteren Tendenz heutiger Architektur beschreiben: der "neue Traditionalismus".
Wie selbstverständlich stehen sie nun da, in Berlin und andernorts: Klassizistisch angehauchte Villen, frei von postmoderner Ironie und fraglos identifizierbarer Zeitgenossenschaft. An allen Orten in unserem Kulturkreis, von der Urban Renaisssance eines Gabriele Tagliaventi über das englische Poundbury bis zum amerikanischen New Urbanism, zieht sich ein Netz zusammen, in das ein recht distanzloses Verhältnis zur Vergangenheit tief eingewoben ist. Muss man dies als ästhetischen Ausdruck einer gesellschaftlichen Regression lesen? Oder ist der Traditionalismus, ganz im Gegensatz zu seinem Gehabe, gar nicht so unzeitgemäß?
Mit der Wende, mit dem Zusammenbruch der ideologischen Systemspannung zwischen Ost und West, scheint zugleich der kollektive Glaube an eine lineare Fortentwicklung in die Zukunft abhanden gekommen zu sein. Dass dies ein gesellschaftliches Klima erzeugt, welches Absicherung vornehmlich in geschichtlichen Kategorien – in der Rückbesinnung – sucht, wird seit geraumer Zeit wahlweise goutiert oder heftig kritisiert.
Obgleich die Diskurs- und Rezeptionsmuster offenkundig längst fixiert sind, muss man aktuell jedoch zweierlei sehen: Zum einen erreicht der Traditionalismus eine neue Dynamik und Größenordnung. Wenn in Frankfurt seit Jahren ein Fachwerkstreit tobt, wenn in Aachen die avantgardistische Neubebauung am historischen Katschhof per Bürgerentscheid mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, wenn in Dresden der Wiederaufbau des ganzen Neumarktviertels nach historischen Vorlagen vehement gefordert und schließlich realisiert, wenn in Braunschweig ein Schloss, und sei es als bloße Hülle für ein Shopping-Center, rekonstruiert wird – dann geht es nicht mehr um einzelne Projekte. Für mehr und mehr Menschen passen solche Nachschöpfungen genau deshalb in die heutige Zeit, weil sie so anders sind: Sie stehen für das Unverwechselbare in einer Welt, deren Städte einander immer ähnlicher werden. Sie verkörpern Dauerhaftigkeit statt Hektik, sie weisen zurück in eine zwar nicht heile, doch bekannte Epoche statt in eine ungewisse Zukunft.
Zum anderen wird gerne davon ausgegangen, dass ästhetischer Konservatismus immer auch eine gleichgerichtete politische Haltung impliziert. Abwegig ist das natürlich nicht, zumal es dafür einschlägige Protagonisten gibt: "Der Konservativismus, der über Europa liegt", frohlockte etwa Wolf Jobst Siedler, "signalisiert ein neues Weltverständnis, dessen Chiffre die historische Erinnerung ist."
Dies könnte gleichwohl ein Kurzschluss sein: Wir leben in einer Umwelt, deren Produktionsbedingungen sich ändern. Und im selben Maße scheint jedwede Produktion ohne eine Collage von historischen Bildern, die Pawlowsche Reflexe bei der Kundschaft hervorrufen, nicht mehr auszukommen. Herrschaftliches Wohnambiente und stilvolle Manieren feiern allerorts fröhlich Urständ, ebenso der klassische Dreiteiler für den Herren, die Retro-Armbanduhr oder der Art-Déco-Toster. Aber sind deswegen die Käufer gleich dem rechten Lager zuzurechnen?
Wertschätzung der Klassiker
Dass der Zeitgeist sich gerne in das Kleid eines neuen Traditionalismus hüllt, kommt ja nicht überraschend. Lässt er sich doch lesen als Reaktion und Spätfolge jener ostentativen Sachlichkeit, die in purer Funktionalität, Anmutungsarmut und Unwirtlichkeit eingemündet ist oder zu sein scheint. Und an dem all der aufgesetzte fancy glamour heutiger Erlebniswelt nichts ändert. Er wendet sich implizit gegen eine industrielle Massenkultur und bemüht vermeintlich zeitlose Ideale und Werte. In der seinerzeitigen (Zer)Störung des althergebrachten Kunstverständnisses gründet eben jenes Problem, dem wir heute in der schier umfassenden Historien-Sehnsucht begegnen.
So scheinen die alltäglichen Ästhetisierungen – diese neue Eleganz hier, das Sich-Herausputzen da – jenen Kitt darzustellen, der die Zersplitterung des Lebens noch halbwegs im Rahmen hält. Kann man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere Gesellschaft heute mehrheitlich auf "Klassiker" zu setzen scheint – langlebig nicht nur aufgrund von Technik und Material, sondern auch, weil sie vermeintlich über allen Moden und Trends stehen. MANUFAKTUM verkörpert diese Haltung geradezu: Der seit 1988 bestehende und sich immer weiter verbreitende Versandhaushandel produziert und verkauft nur solche Klassiker:
Wir haben uns vorgenommen, Dinge zusammenzutragen, die in einem umfassenden Sinne "gut" sind, nämlich nach hergebrachten Standards arbeitsaufwendig gefertigt und daher solide und funktionstüchtig, aus ihrer Funktion heraus materialgerecht gestaltet und daher schön, aus klassischen Materialien hergestellt, langlebig und reparierbar und daher umweltverträglich.
Überflüssig zu sagen, dass diese Strategie voll aufgeht. Weswegen wohl auch mehr und mehr eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber unserem Staatswesen an den Tag gelegt wird: Nicht nur die Dinge, auch das Dasein selbst möge doch, bitteschön, "gut" im klassischen Sinne sein.
Pragmatismus im Pluralen
Die Gründe für das Unbehagen an der Moderne liegen in der optisch-sinnlichen Verarmung der (rationell erstellten) Umwelt, die – glatt und kühl – keine Identifikation erlaube. Dabei ist es ja durchaus die Frage, ob sich jeder technologische Fortschritt, jeder Wandel unserer Lebensumstände in einer neuen Gestaltung niederschlagen muss. Und durchaus zweifelhaft, ob im Aufgalopp des derzeitigen "Gesellschaftsumbaus" auch die Formen des Wohnens und städtischen Zusammenlebens stets umgebildet werden müssen.
Wobei man sehen muss, dass die Pluralität der Lebensstile schon weiter geht, als gemeinhin angenommen. Die Individualisierung hat, beispielsweise, längst auch einen so sehr von Standardisierung und Serienfertigung bestimmten Bereich wie die Wohnungsbau erfasst. Schließlich geht es dem Konsumenten nicht um das sinnerfassende Nachvollziehen eines vom Architekten oder Wohnungsunternehmer erfundenen Inhalts, sondern um das eigene Finden von Bedeutung im Kontext des alltäglichen Lebens. Heim und Heimat entstehen heute nicht mehr beim "Häuslebauen" als dem aktiven Durcharbeiten der privaten Umwelt, sondern im konsumierenden Aneignen ästhetischer Identitätsangebote.
Aus dieser Perspektive ist es nur konsequent, wenn die Architekturen, die vor diesem Hintergrund entstehen, dem Pragmatismus verpflichtet sind. Wenn sie bildersprachlich nur Gewohntes reproduzieren, Nostalgie beschwören und sich an den marktüblichen Standards orientieren.
In den historisch kostümierten "neuen" Haus- und Siedlungsformen werden Geborgenheit und Gemeinschaft, Individualität und Unverwechselbarkeit gefunden
Kultur zu verallgemeinern, ist ein virulenter Anspruch jeder Gemeinschaft. Auf eine gewisse Weise hat der neue Traditionalismus eben das verinnerlicht. Er stellt eine Spielart jener affirmativen Kultur dar, wie sie einmal in Bezug auf die deutsche Gesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende diagnostiziert wurde. Nur dass sie jetzt in einen neuen, universellen Zustand transformiert worden ist.
Wie kein zweiter hat etwa der Möbelkonzern IKEA verstanden, dass Massenkultur eine Angebotsökonomie darstellt - und natürlich entsprechend davon profitiert. Dessen Design ist weltanschaulich scheinbar neutral: Es wirkt, als sei es auf eine anheimelnde Weise nichts als praktisch. Die Nüchternheit des Preiswerten ist abgemildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem sorgsamen Umgang mit Farben und Licht basiert. Dies wiederum hat Erwartungshaltung und Geschmack einer ganzen Generation geprägt: Gleichsam ein Klassiker in der Kunst des Understatements. Aber eben bereits ein "Klassiker".
Ästhetik und Stil sind zentrale Begriffe heutiger Selbstdefinition. Und im teils vagen, teils klar bestimmt Historischen finden sei gleichsam eine neue Symbiose. "Modern ist der Individualismus. Man wird auf der Grundlage, dass man bloß sich für modern, die andern aber entweder für altmodisch oder irregeleitet erklärt, zu der gewünschten Volkskunst nicht kommen. Die Altertümelei ist doch auch etwas noch nie oder doch nur selten Dagewesenes; jene, die wir betreiben, die wissenschaftlich alles umfassende, ist nur unserer Zeit eigen. Das Nachahmen des Alten ist also sicher eine ganz moderne Tätigkeit." Nicht frei von Ironie verteidigte der Kritiker und Publizist Cornelius Gurlitt vor gut hundert Jahren die Nachahmung des "Alten" und bezeichnet es (wenn schon nicht als innovativ, so doch) als modern.
Offenbar lässt sich aus der Dialektik von Vereinheitlichen und Differenzieren, Freiheit und Bindung, universalistischer Strömung und partikularistischem Bestreben doch so etwas wie Identität schöpfen. Die Art und Weise wie wir wohnen (wollen), unterliegt offenkundig nicht der gleichen Dynamisierung wie andere Alltagszusammenhänge. Im Gegenteil: Im gleichen Maße, wie die Globalisierung eine stärkere Nivellierung der Lebensumstände provoziert, scheint, komplementär dazu, das Bedürfnis nach je eigenen Kulturen und Traditionen zu wachsen.
Und wie sehr regionale, lokale oder geschichtliche Anleihen beim Planen, Bauen und Wohnen heute bereits die Marketingstrategien industrieller Hersteller bestimmen, zeigen diverse Tendenzen in den USA. Diese werden wohlgemut von breiten Schichten der Bevölkerung aufgenommen, die mangels anderer und authentischerer Offerten in den wie auch immer historisch kostümierten "neuen" Haus- und Siedlungsformen ihre Wünsche nach Geborgenheit und Gemeinschaft, Individualität und Unverwechselbarkeit befriedigen. Die Angebotspalette der Baumärkte – ob nun Obi, Praktiker oder Bauhaus – tut auch hierzulande dann nur ein Übriges.
Bis zu einem gewissen Maß darf man in all dem kein Problem sehen. Intellektueller und kultureller Purismus war noch nie Sache einer Mehrheit, und muss es auch tatsächlich nicht sein. Von einem "Komfort des Herzens", der die Kunst erst zum Gebrauch qualifiziere, sprach einst ja bereits Walter Benjamin: Tatsächlich "lebendige Formen" gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in sich etwas erwärmendes, brauchbares, schließlich beglückendes haben, dass sie dialektisch den "Kitsch" in sich aufnehmen, sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch überwinden können.
Blickt man aus dieser Warte auf den "neuen Traditionalismus", dann stellt er eine ganz normale "Konjunkturwelle" dar, einen gegenläufigen Pendelschlag, wie er die Diskussion über die industrielle Massenproduktion seit jeher begleitet hat. Mit der Politur des Hergebrachten und nostalgischer Begleitmusik lässt sich eben das Neue besser ertragen, in der Politik ebenso wie in der Wohnumgebung.
Modern am "neuen Traditionalismus" ist freilich, dass der Rückgriff auf histor(ist)ische Formen zur Avantgarde, zur Spitze der Bewegung erklärt wird. Und dass seine Protagonisten beständig auf der Suche sind nach dem Wahren, dem Gültigen und dem Schönen. Selbst das wäre wohl nicht weiter schlimm – wenn sie nicht glauben würden, es auch schon gefunden zu haben.