Tragödie vom 2. Mai 2014 in Odessa weiter unaufgeklärt
Trotz martialischem Aufmarsch der Sicherheitskräfte: 2.000 Bürger der Stadt trauten sich in Sichtweite des Gewerkschaftshauses Blumen niederzulegen. Zwei deutsche Journalisten wurden aus der Ukraine deportiert
Dieses Jahr war die Trauerkundgebung vor dem Gewerkschaftshaus auffallend gut besucht (Video). Mindestens 2.000 Menschen legten am Rand des Kulikow-Platzes, in Sichtweite des am 2. Mai 2014 ausgebrannten Gewerkschaftshauses, Blumen nieder, in Gedenken an die 42 Menschen, die damals aus Angst vor einem rechtsradikalen Mob in das Gewerkschaftshaus flüchteten, wo sie nach Angriffen der Rechten mit Molotow-Cocktails und Knüppeln an einer Rauchvergiftung starben, verbrannten, bei einem Sprung aus dem brennenden Gebäudes umkamen oder totgeprügelt wurden.
Die großen deutschsprachigen Medien taten so, als ob es in Odessa am 2. Mai absolut nichts zu berichten gibt. Eine Ausnahme machte die konservative Tageszeitung Die Presse aus Wien. Sie brachte einen Bericht, in dem kritisch angemerkt wurde, dass es bei den ukrainischen Behörden keinen Willen gebe, die Tragödie vom 2. Mai 2014 aufzuklären. Die immense Bedeutung des Brandes im Gewerkschaftshaus für russischsprachige Staaten und Communities wird immerhin angedeutet.
Die Berliner tazzitiert einen Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, der meint, es seien dieses Jahr weniger Menschen zur Trauerkundgebung gekommen als im Vorjahr. Doch das angesehene oppositionelle Internetjournal Timer aus Odessa hatte eine eigene Drohne im Einsatz und genau nachgezählt. Timer-Chefredakteur Juri Tkatschew erklärte, an der viele Stunden dauernden Veranstaltung hätten sich mindestens 2.000 Menschen beteiligt.
"Wann waren Sie zuletzt in der Ukraine?"
Die ukrainische Regierung hatte für den zweiten Jahrestag des Brandes zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Drei Journalisten aus der EU, die über die Trauerkundgebung am 2. Mai aus Odessa berichten wollten, wurden von Grenzschützern abgewiesen. Drei Fälle sind bisher bekannt.
- Tomasz Maciejczuk, Journalist aus Polen, bekam von ukrainischen Grenzbeamten am 29. April am polnisch-ukrainischen Grenzkontrollpunkt Dorogusk-Jagodin einen roten Stempel in den Pass. Der Stempel sagt aus, dass Maciejcezuk fünf Jahre lang nicht in die Ukraine einreisen darf. Der Journalist erinnert sich, dass er dem ukrainischen Außenminister Pawlo Klimkin, während dessen Besuches in Amsterdam im Februar 2016, eine "Frage zu den nazistischen Formationen im Land" gestellt hatte.
- Saadi Isakow, Journalist und Schriftsteller aus Berlin, bekam am 30. April im Flughafen von Odessa den roten Stempel mit dem fünfjährigen Aufenthaltsverbot in seinen deutschen Pass. Nach stundenlangem Warten in der Transitzone wurde Isakow abgeschoben. Der Journalist hatte für die Zeitung Europa Express ein großes Interview mit Oleg Musyka geführt. Der Russland-freundliche Aktivist, welcher den Brand im Gewerkschaftshaus überlebte, lebt jetzt als Politemigrant in Berlin.
- Dem Autor dieser Zeilen, der am 30. April kurz vor Mitternacht mit einem Flugzeug aus Prag in Odessa ankam, erklärten ukrainische Grenzbeamte auf dem Flughafen der Hafenstadt, es gäbe eine Anordnung des ukrainischen Geheimdienstes SBU, ihn nicht einreisen zu lassen. Sie fragten, wann er zuletzt in der Ukraine war, wo er wohne, welche Tätigkeit er ausübe und ob er noch ein weiteres Ausweisdokument dabei habe. Nach sieben Stunden Wartezeit in der Transitzone wurde der Autor mit einem Flugzeug der Czech-Airlines nach Prag deportiert. Seinen von den Grenzern eingezogenen deutschen Pass (mit dem roten Stempel, der ein fünfjähriges Einreiseverbot in die Ukraine bestätigt) bekam er erst wieder, als er schon an der Treppe zum Flugzeug stand, das ihn nach Prag zurück bringen sollte. Der Abgeschobene ist Co-Regisseur des Films "Lauffeuer", der die Hintergründe der Brandangriffe auf das Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai 2014 ausleuchtet und auf zahlreichen Diskussions-Veranstaltungen in Deutschland gezeigt wurde.
Wie die Vorsitzende der regierungskritischen Organisation "Mütter von Odessa", Viktoria Machulkova, gegenüber Telepolis erklärte, habe die Organisation 22 ausländische Journalisten eingeladen an der Gedenkveranstaltung für die Toten vom 2. Mai 2014 teilzunehmen, aber nur ein Drittel der Eingeladenen hätten es bis nach Odessa geschafft.
Nicht nur ausländische Journalisten waren von Repressalien betroffen. Auch der am 2. Mai aus Kiew kommende Fraktionsvorsitzende des ukrainischen "Oppositionsblockes", Juri Boiko, wurde daran gehindert, die Trauerkundgebung zu besuchen. Der Grund: Mitglieder des Rechten Sektors hatten den Flughafen von Odessa am 2. Mai blockiert . Konfrontiert mit den gewaltbereiten Blockierern entschied sich Boiko, wieder nach Kiew zurückzufliegen.
Rechter Sektor drohte mit "neuem 2. Mai 2014"
Am Vormittag des 2. Mai hatte es auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus eine Bombenwarnung gegeben. Deshalb hatte die Polizei das Kulikow-Feld, auf dem die Gedenkveranstaltung eigentlich stattfinden sollte, abgesperrt. Die Kundgebung fand dann am Rande des Platzes, aber noch in Sichtweite des Gewerkschaftshauses statt.
Die große Beteiligung an der Trauerkundgebung ist erstaunlich. Denn in den Wochen vor dem 2. Mai hatte es massive Einschüchterungsversuche in sozialen Netzwerken, aber auch von Seiten ukrainischer Politiker gegeben. Mitglieder des Rechten Sektors hatten mit einem "zweiten 2. Mai 2014" gedroht. Das Innenministerium zog 3.000 Polizisten, Nationalgardisten und das berüchtigte Asow-Bataillon in Odessa zusammen.
Im Internet waren Gerüchte aufgetaucht, "die Separatisten" wollten am 2. Mai die Macht an sich reißen. Doch das war wohl mehr Stimmungsmache von regierungsnahen Kreisen.
Am 30. April zeigte die Regierung schon mal ihre Macht, indem sie in einer martialischen Schau vor dem Gewerkschaftshaus gepanzerte Mannschaftstransporter auffahren ließ (Fotos). Bei der Schau zu sehen waren auch Mitglieder des berüchtigten Asow-Bataillons mit Totenköpfen und SS-Runen auf den Jacken.
"Sie kamen um sechs Uhr morgens"
Die regierungskritische Aktivisten und Leiterin der Gruppe "Mütter von Odessa", Viktoria Machulkova, sagte gegenüber Telepolis, die Bereitschaft, sich an Kundgebungen zum Gedenken an die Toten vom 2. Mai 2014 zu beteiligen, sei in diesem Jahr auch deshalb gestiegen, weil sich die materielle Lage der Bürger dramatisch verschlechtert habe. Machulkova berichtete, sie bezahlte für das Gas in ihrer Küche und für die Gasheizung im Monat schon 1.340 Griwna (45 Euro), also so viel wie die monatliche Durchschnitts-Rente.
Viktoria Machulkova bekam zwei Tage vor dem Gedenktag Einschüchterungsmaßnahmen zu spüren. Morgens um sechs klingelte es an der Wohnungstür. Dort standen sechs Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes SBU. "Sie übergaben mir schweigend ein Dokument. Darin stand, dass man in meiner Wohnung Waffen und Munition und Flugblätter vermutet." Die Waffen fand man nicht. Trotzdem musste Machulkova mit zum Geheimdienstgebäude, wo sie sich von morgens um acht bis abends um zehn ohne Unterbrechung aufhalten musste. Nach geltendem Recht hätte die Festnahme nicht länger als acht Stunden dauern dürfen.
In den Korridoren des Europäischen Parlaments rumort es
Seit zwei Jahren versuchen russischsprachige Abgeordnete aus den baltischen Republiken das Thema Menschenrechte in der Ukraine auf einer Plenarsitzung des Parlaments zu diskutieren. Doch bisher gelang es weder den Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa, noch die Inhaftierung des ukrainischen Journalisten Ruslan Kotsaba, der wegen Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung in einem ukrainischen Gefängnis sitzt, im Parlaments-Plenum zu erörtern.
Doch die russischsprachigen Abgeordneten aus den baltischen Republiken, die den Fraktionen der Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament angehören, haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Am 4. Mai veranstalteten sie im EU-Parlamentsgebäude in Brüssel eine Anhörung zum Thema "Menschenrechte in der Ukraine: Zwei Jahre nach dem Odessa-Massaker". Jana Toom aus Estland, die der liberalen Fraktion im europäischen Parlament angehört, erklärte auf der Anhörung, Gespräche in den Parlamentskorridoren würden zeigen, dass die Bereitschaft der Abgeordneten, über die Gewalt gegen Andersdenkende in der Ukraine zu sprechen, zunehme. Ihre Fraktion verhalte sich "sehr vorsichtig zu allem Russischen".
Aber in unserer Fraktion gab es große Besorgnis über den geheimnisvollen Tod von Politikern der ukrainischen Opposition. Wir bekamen eine Liste. Einige hatten sich aufgehängt, einige fielen aus dem Fenster. Untersuchungen zu diesen Fällen gibt es nicht. In den Korridoren hier wächst eine Unzufriedenheit. Sie wird irgendwann in Schritte münden. Die eigenen Fehler anzuerkennen, ist schwer. Brüssel ist da keine Ausnahme.
Jana Toom
Ein erster Durchbruch in den europäischen Institutionen war der Untersuchungsbericht einer Kommission des Europäischen Rates, welcher Anfang November 2015 vorgelegt wurde. In diesem Bericht wird nicht nur das Ausmaß der Gewalt gegen die Andersdenkenden im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 ausführlich beschrieben. Auch die Verschleppungstaktik der ukrainischen Behörden wird scharf kritisiert (Tragödie von Odessa: Europarat bescheinigt ukrainischer Regierung Versagen).
Doch solange die deutschen Medien zum Thema Odessa schweigen, wird sich die Regierung in Kiew nicht unter Druck gesetzt fühlen und die, welche das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails in Brand steckten und die Menschen, die aus dem brennenden Gebäuden sprangen, mit Knüppeln traktierten, können sich sicher fühlen und weiter frei herum laufen.
Dieser Bericht entstand aufgrund von Recherchen in Odessa und Brüssel.