Tsipras und der Flash-Mob
Beim EU-Gipfel wurde der griechische Premier wie ein unmündiger Delinquent behandelt. Eurogruppenchef Dijsselbloem plant derweil schon für den Ernstfall
Das Procedere ist genauso ungewöhnlich wie unwürdig. Da steht ein EU-, Euro- und Nato-Mitglied kurz vor der Pleite, doch seine Partner und Alliierten lassen den Ministerpräsidenten dieses Landes allein im Regen stehen. Geschlagene zwei Wochen musste Alexis Tsipras bitten und betteln, damit er am Mittwochabend endlich ein wenig Extra-Redezeit beim EU-Gipfel erhielt. Und das auch nicht etwa im offiziellen Gipfel-Programm, sondern in einem eigens improvisierten Sechser-Format.
Die Krise in Griechenland zum offiziellen Gipfel-Thema zu machen, wäre "zu heiß" gewesen, begründete EU-Ratspräsident Donald Tusk sein undiplomatisches Vorgehen. Nur Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande, EZB-Chef Mario Draghi, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Europgruppenchef Jeroen Dijsselbloem sowie Tusk selbst durften Tsipras ins Gebet nehmen - nach dem Ende der offiziellen Beratungen am Donnerstag.
Parlamentspräsident Martin Schulz war nicht zugelassen, was den SPD-Politiker veranlasste, den in keinem EU-Text vorgesehenen exklusiven Sechser-Kreis als "Flash Mob" verächtlich zu machen. Auch Italien oder Belgien durften an diesem Abend nicht mitreden, was den belgischen Premier Charles Michel zu einer geharnischten Beschwerde bei Tusk veranlasste. "Ich habe Frankreich oder Deutschland kein Mandat gegeben, im Namen Belgiens zu verhandeln", entfuhr es dem wütenden Regierungschef.
Doch um Verhandlungen sollte es ohnehin nicht gehen - jedenfalls nicht aus Sicht der Kanzlerin. Griechenland habe sich in der Eurogruppe zu Reformen verpflichtet und müsse die jetzt umsetzen, stellte die eiserne Kanzlerin klar. Für Verhandlungen sei allein die Troika zuständig - doch die hatte Tsipras nach einer Stippvisite in Athen gerade erst herausgeworfen. Beim EU-Gipfel sei kein Durchbruch zu erwarten, moderierte Merkel das Treffen schon bei ihrer Ankunft in Brüssel ab.
Ganz in ihrem Sinne sprach auch Schulz, der deutsche EU- Parlamentspräsident. Kaum war der Ärger über seinen Ausschluss von der exklusiven Sechserrunde mit Tsipras abgeklungen, redete der SPD-Politiker schon wieder fast wie die CDU-Kanzlerin. Tsipras müsse die Vereinbarungen - auch die seiner konservativen Amtsvorgänger - einhalten, wo käme man sonst hin? Auch beim kürzlich unter massivem Druck aus Berlin vereinbarten Reformprogramm gebe es keinen Interpretationsspielraum.
Immerhin gestand Schulz seinem Rivalen Tsipras - bei der Europawahl 2014 traten sie gegeneinander an - zu, etwas gegen die soziale Krise in Griechenland tun zu dürfen. Das finde er nicht anstößig. Auch für Wachstum und Beschäftigung dürfe sich Athen einsetzen. Doch dazu steht im mit der Eurogruppe abgesprochenen Programm nichts - außer Privatisierungen, die Schulz auf Nachfrage prompt verteidigte. Es sei doch nichts dagegen zu sagen, dass Fraport in den Athener Flughafen investiere, oder?
Ganz anders Tsipras. Dem Syriza-Politiker steht das Wasser bis zum Hals, er kann und will nicht auf mögliche Privatisierungs-Erlöse warten. Tsipras braucht dringend Geld, um seine Staatsbediensteten zu bezahlen und die drohende Pleite abzuwenden. Zweimal hat seine Regierung in dieser Woche schon fällige Kredite in dreistelliger Millionenhöhe bedient. Im Gegenzug fordert Tsipras nun auch frisches Geld der Gläubiger - zum Beispiel die Zinsgewinne in Höhe von 1,9 Mrd. Euro, die die Europäische Zentralbank (EZB) aus griechischen Staatsanleihen erzielt und versprochen hat.
Ein verständliches Anliegen. Denn ohne frische neue Kredite kann Athen bald auch die alten, fälligen Darlehen nicht mehr bedienen. Mitte April könnte Athen endgültig das Geld ausgehen, schätzt man in Brüssel. Doch die Gläubiger, allen voran Deutschland, wollen die Notlage nicht lindern, sondern dafür nutzen, um die Daumenschrauben für den "Delinquenten" Tsipras anzuziehen. Erst wenn die Reformen umgesetzt werden, soll wieder Geld nach Athen fließen. Dass die erzwungene Einigung mit Griechenland erst vier Wochen alt ist und dass in dieser Zeit noch kein Land Reformen beschlossen und umgesetzt hat, sagte beim Brüsseler Gipfel niemand.
Auch Tsipras wagte es nicht. Er versucht immer noch, zwischen den möglicherweise kompromissbereiten Politikern und den verbohrten Technokraten der Troika einen Keil zu treiben - dabei ist die Troika doch nur der Ausdruck einer dogmatischen Politik. Es gebe einen Widerspruch zwischen der politischen Ebene, auf der eine Lösung gesucht werde, und den Troika-Funktionären, die "mit roten Karten wedeln", sagte Tsipras. "Dieser Widerspruch muss aufgehoben werden, denn er verhindert Fortschritte."
Derweil zog die "politische Ebene" die Schlinge um Tsipras Hals weiter zu. "Wir müssen mit den Griechen Klartext reden", forderte ein sichtlich entnervter Kommissionschef Juncker, der sich vor zwei Wochen noch für bessere Konditionen für Athen eingesetzt hatte. Es sei höchste Zeit, "seriös" zu werden. "Wir haben nicht mehr viel Zeit", machte Eurogruppen-Chef Dijsselbloem Druck. In einem Interview hat er schon angedeutet, dass sich das Zypern-Szenario wiederholen könnte: Erst dreht die EZB den Geldhahn zu, dann kommt - möglichst an einem Feiertag - ein knallhartes Spar- und Reformdiktat, das durch Kapitalverkehrskontrollen flankiert und abgesichert wird.
Immerhin hat dieses Droh-Szenario den Charme, dass ein "Graccident", ein angeblich versehentlicher Zahlungsausfall in Griechenland, vermieden würde. Das Land käme unter noch strengere Kuratel, bliebe aber zumindest vorerst im Euro und müsste seine Schulden weiter bedienen. Von einem "Grexit" hingegen, einem absichtlich herbeiführten Rauswurf aus der Gemeinschaftswährung, war beim Brüssel-Gipfel keine Rede. Den kann sich die EU derzeit wohl auch kaum leisten. Denn das würde Griechenland, so jedenfalls die Sorge vieler EU-Diplomaten, direkt in die Arme Russlands treiben.
Vor einem Bruch warnte auch US-Präsident Barack Obama. In einem Telefonat mit Kanzlerin Merkel vor dem EU-Gipfel forderte er die Europäer auf, mit den Griechen zu "einer pragmatischen Einigung zu kommen". Das Ziel müsse es sein, Griechenland im Euro zu halten und wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Diese Erklärung hätte man sich auch vom EU-Gipfel gewünscht - vom ganzen Gipfel, als offiziellen Beschluss. Stattdessen tagte nur der inoffizielle "Flash Mob". Beschlüsse waren keine geplant.